(c) Pester Lloyd / 43 - 2009
STADTLEBEN 23.10.2009 _______________________________________________________
Budapester Küsse
Budapest hat ein Liebesgeheimnis. Eine Beobachtung, die nicht im Reiseführer steht
Hast du die Lippen mir wund geküsst, So küsse sie wieder heil,
Und wenn Du bis Abend nicht fertig bist, So hat es auch keine Eil´. H. Heine
Ein Tourist kann im Angesicht von Ungarn, die sich innig küssen, überfordert
sein. Zunächst bereitet ihm die Sprache Schwierigkeiten. Doch wenn selbst Thomas Mann meinte, dass er noch nie in einem Land gewesen sei, „von dessen
Sprache [er] überhaupt nichts verstehe“, dann darf Dieter aus Eberswalde auch seine Verständigungsprobleme haben. Aber was tun, wenn die Budapester
zärtliche bis wilde Küsse austauschen? Und das in aller Öffentlichkeit? Der Deutsche ist ein subtiler Flirter, Mundkontakt im Beisein der halben
Stadtbevölkerung ist für ihn vulgär. Rechtfertigen lässt sich das nur auf dem Oktoberfest, Karneval oder beim Korntrinken an der Waterkant.
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Beim Blättern in seinem Marco Polo Reiseführer unter „Budapester…“ findet er
nichts zu diesem merkwürdigen Sozialverhalten, Budapester Schuhe ja klar, eventuell noch das "Csókolom" als altehrwürdige Grußformel von Jung zu Alt, aber
Budapester Küsse? Es gibt sie, an jeder Ecke in der Hauptstadt der Ungarn. Das Land, welches mit Gulasch, Schuhen und Paprika assoziiert wird, hat ein
Liebesgeheimnis, was sich auch als offensives Liebesbekundungsverhalten demonstriert. Es kann ja kein Zufall sein, dass sich im Ungarischen der Kuss
(csók) und die Schokolade (csoki) nur in Details unterscheiden, die Süße aber gemeinsam haben. Aber der deutsche "Kuss"? Klingt fast wie ein preußischer
Peitschenknall, ein flüchtiger Schmatz, höchstens.
In der Therme, eine der beliebtesten Touristen-Attraktionen, schwimmen die
Budapester Liebenden umeinander herum, greifen ohne Scheu in das Hüftfleisch der Liebsten, um diese zu sich zu ziehen und beinahe unbekleidet wild zu
knutschen. Die Bahnhaltestelle bietet sich auch an, und ist für den Ungarn gesünder als die Zigaretten, die er sonst konsumiert. Ein Pärchen, gerade an der
Schwelle zur Volljährigkeit, probiert die ersten Küsse im Schutz des (ja, durchsichtigen) Plastikhäuschens. Der Regen macht den beiden nichts aus, die
Blicke der umstehenden Menschen genauso wenig. Eine Gruppe Briten wartet auch auf die Bahn. Während der Junge wie ein erschossenes Reh auf dem Stuhl
hängt, übernimmt das junge Mädchen das Kommando, sie rutscht auf seinem Oberschenkel herum und justiert seinen Kopf in die Positionen, in der die Küsse am wirkungsvollsten sind.
Hast du die Lippen mir wund geküsst, So küsse sie wieder heil, Und wenn Du bis
Abend nicht fertig bist, So hat es auch keine Eil´. Nach dem Prinzip von Heinrich Heine agiert das Mädchen, sie lässt sich Zeit. Wahrscheinlich in der Hoffnung,
dass die Lippen nach dem von ihr initiierten Lippengescheuere wieder heil werden. Der Junge reagiert zumindest zeitweise. Die Liebelei scheint kein Ende
zu nehmen. „Oh oh!“ Der British Man is quite amused. „Well, different cultures, different behaviour“, meint er schmunzelnd, während seine Begleiterinnen in
bunten Regenjacken, mit Reiseführer und Regenschirm ausgestattet, wie eine Horde junger Hühner gackert. Die Erlösung rattert langsam heran. Die beiden
Küsser stehen auf, schnell über den Mund gewischt und schon sind sie in der Bahn verschwunden.
Auf der Wiese vor dem Budaer Schloss. Zwei Mittdreißiger liegen auf der Wiese,
das Wetter lädt dazu ein, die Oktobersonne strahlt vom Himmel. Das denkt auch der Deutsche, er lächelt und wickelt sein Butterbrot aus dem Zellophanpapier.
Doch die Ungarn haben Besseres zu tun. Sie legen sich aufeinander und küssen, schmusen und liebkosen, als ob es kein Morgen gäbe. Dem Deutschen steigt die
Schamesröte ins Gesicht, überfordert kaut er mit trockenem Mund das Graubrot klein.
Die Budapester Küsse mögen vielleicht ungewöhnlich sein, mitunter offensiv,
vulgär oder einfach nur zärtlich und romantisch. Aber Küssen ist schön, es ist menschlich und offenbart Emotionen. Und aus dem Kulturschock in Ungarn kann
der Deutsche auch etwas für sich mitnehmen. Vielleicht gibt Dieter aus Eberswalde, wenn er aus dem Flieger steigt, seiner Frau nur einen kurzen Schmatz. Die Budapester Küsse aber zeigt er ihr dann später.
Fiona Weber-Steinhaus
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