(c) Pester Lloyd / 45 - 2009
BUDAPEST 07.11.2009
_______________________________________________________
Letzte Instanz der Nacht
Das Piaf ist eine gealterte Diva, eine abgeliebte Club-Legende auf dem "Broadway" von Budapest
"La vie en rose“, der große Chanson-Titel von Edit Piaf passt nur noch schwer in die verrauchte Kaschemme, in der sich zigarillorauchende Strickpullover wichtig
machen. Auch Rosen welken einmal. Das Piaf in der Nagymezö utca inszeniert den Mythos des Spatzen von Paris nur noch halbherzig mit großen Spiegeln und den mit rotem Samt überzogenen Wänden.
Zwei letzte Drinks und heruntergestufte Erwartungen im Qualm, das ist das Piaf, die letzte Instanz der Budapester Nacht. So soll es bleiben.
 |
„Pschhhhht“ zischt Maria Moses, eine kleine Tante höheren Alters. Seit 20 Jahren
nimmt sie ihre Gäste persönlich in Empfang und fordert Abend für Abend angetrunkene Jünglinge und andere Störenfriede auf, den Eingangsbereich zu
verlassen. Der zweistöckige Club verzichtet auf bärenstarke Rausschmeißer mit grimmigen Gesichtern. „Wo Kultur ist, sind solche Gestalten nicht von Nöten,“ meint
sie gelassen. Hier soll sich das Künstlervolk der nahen Operette und der Oper treffen, auch Jazzmusiker und Lebenskünstler kommen gern auf ein paar Drinks, wird
behauptet. Doch die schummrige Szenerie wird von Wollpulli tragenden Studenten dominiert. Sie genießen das Ambiente, lehnen sich entspannt zurück und trinken Rotwein.
Sie haben wenig mit dem zu tun, was Edit Piaf gelebt hat: Eine getriebene 1,47 Meter
große Powerfrau, die trotz Krebserkrankung und Medikamentenmissbrauch nie die Lust am Leben und den Männern verlor - und: eine echte Künstlerin, eine Legende
eben. Die Studenten hier meinen, es genüge schon Zigarillo zu rauchen und die Beine übereinander zu schlagen. Im Erdgeschoss zwängen sie sich eng an eng zur Tanzfläche
und werfen bei gewöhnlicher Elektro- und Jazzmusik abgehobene Blicke durch die Räumlichkeiten.
 |
Das einzige wirkliche Original ist Frau Moses selbst. Sie legt viel Wert auf die 200
Jahre alte Tradition der Nagymezö utca und lädt zu diesem Zwecke auch regelmäßig eine Sängerin ein, die ungarische und französische Chansons vorträgt. Um vier Uhr
morgens erscheint dann doch noch eine ernst zunehmende Person: ein Physiklehrer, der hervorhebt, dass das Piaf keine Plasma-Fernseher an den Wänden besitze und
diese Tatsache eine grandiose Seltenheit sei, selbst in der Budapester Kulturlandschaft.
Frau Moses gibt sich sehr viel Mühe etwas zu erhalten, was schon lange nicht mehr ist.
Teilweise flimmert der Glamour und die Magie jener Tage noch auf, vor allem dann, wenn die Mainstream Musik von echten Chansons abgelöst wird und man sich im
ersten Stock vor großen Piaf Porträts, roten Wänden und goldenen Spiegeln in Frau Moses Nähe aufhält. Der Unterstock ist schwer verraucht und Backsteinpflasterwände
rufen Platzangst hervor. Hier ist der Treffpunkt der alternativen Schickeria, der einer Bohéme, die mehr künstlich als künstlerisch ist.
Das Piaf ist ein Urgestein an der Nagymezö utca. Für Budapester und Zugezogene wie
Touristen war und ist es immer noch ein sicherer Zufluchtsort, falls der Abend droht, in Einsamkeit zu enden. Zwei letzte Drinks und heruntergestufte Erwartungen im
Qualm, das ist das Piaf, die letzte Instanz der Budapester Nacht. So soll es bleiben.
Tibor Wilhelm Benedek / ms
Öffnungszeiten: jeden Tag, 20-6 Uhr Adresse: Budapest, VI. Bezirk, Nagymezö utca 25
Telefon: 0036-1-3123823 Homepage: www.piafklub.hu
IHRE MEINUNG IST GEFRAGT - KOMMENTAR ABGEBEN
(c) Pester Lloyd
|