(c) Pester Lloyd / 06 - 2011 WESTBALKAN
09.02.2011
Wespennest Balkan
Grundrechte als Verhandlungssache: Die EU und der Balkan
Während man in den Hinterzimmern der Europäischen Union noch über die Bedingungen und Termine verhandelt, zu denen Kroatien sehr bald oder nicht ganz
so bald der EU beitreten könnte, behält der Balkan seine eigene gefährliche Dynamik, für manche Länder befürchtet man schon tunesische Aussichten. Die Rolle der EU auf
dieser verwahrlosten Flanke Europas ist dabei genauso zwiespältig wie die der Akteure in den Ländern.
Tirana vor wenigen Tagen, reguläre und Sonderpolizei prügeln inbrünstig auf einen
Demonstranten ein, die Offiziere im Hintergrund schauen fachmännisch zu.
In Albanien (Foto) sterben Menschen, weil sie gegen die Regierung demonstrieren, das
Land stand - so die Verteidigung der Machthaber - angeblich vor einem Putsch. Im Kosovo sterben Zeugen, die gegen den des illegalen Organhandels überführten Ministerpräsidenten
und westlichen Protegée Thaci aussagen könnten. In Serbien kommt es zu Protesten unzufriedener und verarmter Bevölkerungsschichten ebenso, wie zu Streiks im öffentlichen
Dienst. In Mazedonien gab es einen wochenlangen, teils gewaltsamen Aufstand der Tabakbauern. Kroatien und Serbien beharken sich gegenseitig wieder mit Listen von
vermeintlichen und tatsächlichen Kriegsverbrechern. Und Bosnien-Herzegowina, die durch die UNO beaufsichtigte Mitte dieses Wespennestes, liefert durch seine Unregierbarkeit
täglich Belege für die scheinbare Unmöglichkeit einer baldigen Verständigung an dieser schwächsten Flanke Europas.
Auch Rumänien und Bulgarien gehören, wenn auch EU-Mitglieder, mit zu dieser Gruppe von
Ländern, die einen großen Teil der schmerzhaften, inneren Transformation noch vor sich haben. Die unteren Schichten wollen nicht mehr so leben wie bisher, die Oberen können
kaum mehr beschwichtigend reagieren, sind gegen die unzufriedene Masse bald am Ende ihrer Macht, das nennt man eine klassische revolutionäre Situation. Beobachter sehen
daher ganz zu Recht tunesische Verhältnisse aufziehen, sehen die Gründe dafür aber oft zu einseitig nur bei den Ländern selbst und ihrer unbewältigten Vergangenheit.
Mit dem staunenden Blick vertritt Ungarns Außenminister seine anderen 26 EU-Kollegen treffend.
Kroatien soll eine Flaggschifffunktion übernehmen
Im Lichte dieser Ereignisse klingt die Ankündigung des ungarischen Außenministers János
Martonyi als Vertreter der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft geradezu fahrlässig niedlich: „Wir möchten im Falle aller Beitrittskandidaten einen Schritt nach vorn tun.“ Zumindest
mit Kroatien scheint das Ziel eines Abschlusses der Beitritts-Verhandlungen noch realistisch, auch wenn bei der Schnelligkeit der Entwicklungen in der Region niemand voraussagen
kann, ob der formale Beitritt tatsächlich schon unter der polnischen Präsidentschaft im zweiten Halbjahr vollzogen werden wird.
Wie wir im Falle des Schengenbeitritts Rumäniens und Bulgariens lernen konnten, sind
große EU-Länder wie Deutschland und Frankreich durchaus in der Lage, das festgelegte Prozedere zu verändern, wenn man u.a. feststellt, dass solche Kleinigkeiten wie die
ausufernde Korruption nicht genügend berücksichtigt worden sind, was eigentlich auch etwas früher hätte auffallen können. In Kroatien werden offiziell vor allem die "Reformen
im Justizwesen" und die "Vergabepraxis staatliche Subventionen" als Knackpunkte genannt, was nichts weiter als die bürokratische Umschreibung für Amtsmissbrauch und Korruption
ist. Auch Montenegro konnte mittlerweile unter den offiziellen Beitrittskandidaten begrüßt werden. Ein Land, in dem es seit einiger Zeit politisch ruhig - man möchte sagen -
verdächtig ruhig zugeht. Kroatien soll eine Art Flaggschifffunktion erfüllen und wird deshalb auch in die EU eingelassen, wenn die obigen Fragen nicht zur Gänze gelöst und bereinigt
sein werden, Nachspiele sind vorprogrammiert.
Die Türkei dient dem konservativen Westen als Angstmacher mit politischer Renditeaussicht
Während also am Balkan einmal mehr das Dach brennt, denkt Martonyi schon weiter und
will „ein oder mehrere neue Kapitel“ der Verhandlungen mit dem großen Zankapfel Türkei eröffnen. Die Haltung seines Landes ist klar und dürfte einigen in der EU gar nicht
schmecken, vor allem jenen, die das Thema Türkei am liebsten mit dem Islam verknüpfen, um ihre fehlenden Zukunftsperspektiven mit der geschürten Angst der Massen zu
politischem Kapital werden zu lassen. Martonyi sagt: „Die Türkei gehört in die EU“, eine Aussage die gerade aus dem nationalkonservativen Ungarn, wo jede historische Niederlage
bis heute zu finsterstem Verbalrevanchismus genutzt wird, erstaunen muss. Martonyi stellte auf seiner Anhörung vor dem außenpolitischen Ausschuss des EU-Parlamentes auch
fest, dass in der Balkanregion „alles mit allem verbunden” ist, womit sich die Expertise aber auch schon fast erschöpfte. Albanien riet man, von der Tötung von Demonstranten
möglichst Abstand zu nehmen, da man sonst "auf lange Sicht, die Beitrittsperspektive" verlieren könnte. Was für ein gewaltiger Einsatz!
Auch wenn man das dort nicht so gerne hört, aber das Durcheinander auf dem Balkan ist auch Ergebnis
der k.u.k-Monarchie, die längst nicht der Entwicklungshelfer und die Vielvölkerorddungsmacht, ja
Vorläuferin der EU war, zu der man sie im zur Nostalgie neigenden Wien immer wieder gerne macht... Karte von 1912
Europafreundliche serbische Regierung unter Druck - Bosnien-Frage ungeklärt
Die europafreundliche Regierung unter Präsident
Boris Tadic und Premier Mirko Cvetkovic, sieht sich einer starken Protestbewegung ausgesetzt, die am Wochenende einige Zehntausend Anhänger mobilisieren konnte. Der sich als
nationalkonservativ bezeichnenden "Serbische Fortschrittspartei" SNS scheint es gelungen zu sein, die Unzufriedenheit über die wirtschaftliche
und soziale Lage im Lande unter ihrer Führung zu kanalisieren und auf die Regierung zu schieben. In Umfragen liegt sie teilweise schon vor der regierenden sozialdemokratisch DS des
Präsidenten.
Flankiert werden die politischen Proteste durch
seit Tagen anhaltenden Streiks im öffentlichen Dienst, vor allem bei den Lehrern und der Polizei. Sie wollen höhere Löhne, möglichst solche, von
denen man leben kann. Die Polizisten fordern zum Teil eine Anhebung von bis zu 40%. Vielleicht sollte die EU auf 140% bestehen und mitfinanzieren, um das Problem der Korruption allmählich in
den Griff zu bekommen.
Die ungelöste Staatlichkeit von Bosnien-Herzegowina, die, wird sie falsch angegangen,
zwangsläufig zu einer erneuten gewalttätigen Explosion führen muss sowie die Bigotterie der EU im Umgang mit balkanesischen Despoten (Kosovo, Albanien) erschwert, ja
verhindert, dass diese Region in ihrer Gesamtheit zur Ruhe kommt. Serbien muss sich im Klaren sein können über seine endgültigen Grenzen, und Bosnien muss sich endlich selbst
regieren, auch wenn es vielleicht kleiner sein wird als es heute von der EU gewünscht wird.
Dass zwischen der ungeklärten Bosnien-Frage und den Angriffen auf die proeuropäische
serbische Regierung ein Zusammenhang besteht, sollte klar sein. Nun hört man von regelrechten Geheimverhandlungen, die vor allem von der deutschen Regierung betrieben
werden sollen, um den "gordischen Knoten" zu lösen, der aber nicht in der behaupteten Dauerblockade Serbiens besteht, sondern vor allem in der Unfähigkeit, Zugeständnisse an
das scheinbar auf ewig als "Kriegstreiber" gestempelte Land zuzulassen.
Alte Feindbilder und das Primat der Wirtschaft verhindern dauerhafte Lösungen
Überall treffen wir also auf das gleiche Grundproblem einer nicht bewältigten
Vergangenheit, die eine an unseren europäischen Normen ausgerichtete Zukunft verhindert. So zumindest sah es am Montag auch der Kommentator der FAZ, der auf Seite
1 lang, aber nicht sehr tief darlegte, dass die vielen politischen Parteien der einzelnen Länder nur wechselnde Etiketts für die verschiedenen dahinter steckenden Seilschaften sind
und eine personelle wie strukturelle Reinigung nötig wäre, um die Länder auf den richtigen Weg zu führen. Ausgerechnet die Privatisierung stellte er als Heilmittel gegen Korruption
heraus. Andererseits drohten Entwicklungen wie in Tunesien.
Dass materielle Unzufriedenheit und Zukunftsängste u.a. Nationalismus erzeugen können, ist wahrlich
nichts Neues. Zeit sich von alten Feindbildern zu verabschieden, um voran zu kommen... Belgrad in den letzten Tagen.
Die EU hält sich am Balkan ihre eigenen Seilschaften
Diese Einschätzung, der Aufteilung
und Ausplünderung der Länder durch ihre alten Eliten, repräsentiert die Einseitigkeit und fehlende Selbstkritik des "alten" Westens und das Dilemma
der EU. Genau wie in Tunesien oder Ägypten interessiert sich die EU auch auf dem Balkan nämlich in allererster Linie für den freien Zugang zu den
dortigen Märkten und zieht eine wie immer geartete und verankerte Stabilität der zwangsläufig wackeligen und auch risikobehafteten Entwicklung der rechtsstaatlichen
Demokratie mit sozialer Marktwirtschaft vor.
Westliche Unternehmen profitieren einseitig von der Privatisierung, nicht selten schmieren
sie mit. Im Zweifel feiert Europa sogar mit dem kosovoarischen Premier auch einen europaweit berüchtigten Mafiaclan als Befreiungsbewegung und stützt ihn gegenüber den
Feinden, zu denen Serbien aus diversen Gründen seit mehr als hundert Jahren gestempelt wurde. Da helfen die einfachen Argumentationsketten aus Zeiten des Kalten Krieges nicht
mehr aus, die nicht nur in der FAZ, dort aber besonders tiefsitzend noch an der Tagesordnung sind. Die EU unterhält, gefangen in alten Feindbildern, so muss man es
sagen, ihre eigenen kriminellen Seilschaften am Balkan, hat sie aber vorher geadelt, damit es nicht so schmutzig aussieht. Realpolitik eben.
Grundrechte sind mit der EU verhandelbar - eine Schande
Die Beitrittskapitel der EU beinhalten vor allem die Pflicht zur Erfüllung institutioneller und
legislativer Normen, ihre Kontrolle durch und die Wirkung auf das Volk sind nie umfassend Teil der Verhandlungen gewesen. Das hat sich schon bei den Beitrittsrunden 2004 und 2007
gezeigt und rächt sich bis heute. Und der wichtigste Punkt: Die Einhaltung der Grundrechte wird durch keine europäische Institution zentral überwacht und durchgesetzt, in dem sie
jedem Beitrittsfortschritt vorangestellt werden. Grund- und Bürgerrechte, zu denen übrigens auch ein menschenwürdiges materielles Auskommen zählt, so zeigt es die von
Land zu Land unterschiedlich angelegte Messlatte, sind mit der EU tatsächlich verhandelbar. Das ist eine Schande.
Solange der notwendige Paradigmenwechsel, das Primat der Politik über die Wirtschaft,
der nichts anderes als die tatsächliche Demokratisierung und Emanzipation der EU von den eigenen lobbyisierenden Seilschaften vorangehen muss, nicht stattgefunden hat, wird der
Balkan weiterhin ein unkontrollierbares Wespennest, das schlechte Gewissen Europas bleiben und auch Länder wie Rumänien, Bulgarien, in manchen Entwicklungen auch
Ungarn, Italien, Griechenland, werden wieder oder weiter vom eigentlich für Europa vorgesehenen Weg abkommen können. Und wenn in Albanien oder auch anderen Ländern,
die viel weiter westlich verortet werden, bald Dinge passieren wie in Tunesien, ist dies nur folgerichtig. Daran tragen dann das institutionalisierte Europa und der Egoismus seiner
Mitgliedsstaaten eine nicht unwesentliche Mitschuld.
Marco Schicker
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