(c) Pester Lloyd / 08 - 2011
POLITIK 21.02.2011
Gyula B. jagt Dr. Phil.
Racheengel im Namen des Volkes? Orbáns Sonderermittler auf Sozialistenjagd
Die "Zeit der Abrechnung" in Ungarn braucht auch einen "Abrechnungsbeauftragten". So heißt, leicht verkürzt, der von Premier Orbán persönlich zum Sonderermittler
ernannte Parteifreund, der Fälle von Korruption und Amtsmissbrauch der Vorgängerregierung aufklären, sie aber vor allem in der Öffentlichkeit breittreten
soll. Der Auftrag ist klar: der Racheengel soll "die Verantwortlichen" ins Gefängnis bringen und Andersdenkende aus gesellschaftlichen Institutionen aussortieren. Wird
ein System der Korruption durch ein System politischer Willkür abgelöst?
Gyula Budai am Eingang der zentralen Ermittlungsbehörde, vor er bevorzugt seine Pressekonferenzen
abhält, obwohl er dort gar nicht arbeitet. Er ist eigentlich nur einfacher Abgeordneter
Vorweg sei gesagt, dass die sozialliberale Vorgängerregierungen es dem
"Abrechnungsbeauftragten" Gyula Budai nicht besonders schwer gemacht haben, sie dem Raubbau am Volk zu bezichtigen. Noch während sie im Amt waren, häuften sich
gerichtsanhängige Fälle von Parteibonzen, Amtsträgern und öffentlich Bediensteten, die sich reihenweise geldwerte Vorteile verschafften (BKV), Tafelsilber zu ihren Gunsten
plünderten (Immobilienskandale in Budapester Bezirken), illegale Parteienfinanzierung betrieben (Fall Zuschlag) und auch sonst keine Möglichkeit ausließen, zu zeigen, dass sie ihr
Land als privates oder zu privatisierendes Eigentum betrachteten.
Doch die Aufarbeitung dieser Fälle durch Staatsanwaltschaft und ordentliche Gerichte
genügte der neuen Regierung nicht, der Wille zur "vollständigen Erneuerung des Landes",
wie er "vom Volk" in der "Revolution an den Wahlurnen" manifestiert wurde, bedurfte eines
öffentlichkeitswirksamen Instrumentes und sei dies auch in Form eines auch rechtsstaatlich
bedenklichen und an ziemlich finstere Zeiten erinnernden "Parteikommissars". Budai soll das
zentrale Wahlversprechen, die "Verantwortlichen zur Rechenschaft" zu ziehen, umsetzen und tut das in einer Art, die sich längst verselbständigt hat.
Wöchentlich werden, in Kollaboration mit Ministerien und anderen Behörden sowie der
regierungstreuen Presse, regelrechte Kampagnen gegen Personen und Gruppen losgetreten, wobei die juristische Aufarbeitung nur noch ein Nebeneffekt zu sein scheint.
Es geht dabei um die Diskreditierung von Andersdenkenden, Deutungshoheit, Rache. Das edle Ziel weckt niedere Instinkte...
Öffentlicher Schauprozess gegen namhafte Geisteswissenschaftler
In den letzten Wochen konzentrierte sich der Furor des Regierungskommissars auf eine
ganze Gruppe von führenden Philosophen des Landers, so Ágnes Heller, Mihály Vajda, Sándor Radnóti und mehrere ihrer Kollegen. Sie werden beschuldigt, rund eine halbe
Milliarde Forint an Forschungsgeldern veruntreut zu haben. In den regierungsnahen Medien werden die Betroffenen als eingeschworener konspirativer Zirkel dargestellt, der Millionen
an Steuergeldern "schubkarrenweise" aus dem Philosophischen Forschungsinstitut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften gestohlen haben soll, auch Mitarbeiter der ELTE
Universität werden mittlerweile als unrechtmäßige Nutznießer von Förderungen beschuldigt.
Die Vorwürfe sind nach aktuellem Kenntnisstand schwer einzuordnen und spiegeln eher das
Wesen der generell sehr chaotischen Förderstrukturen in Ungarn, nicht nur im akademischen Bereich. Gerichtlich aufgearbeitet ist noch keiner davon. Daher war die
Frage berechtigt, warum ausgerechnet die Ausschreibungen "linker" Philosophen so besonders untersucht wurden und nicht Tausende andere in allen nur denkbaren Bereichen.
Am vergangenen Freitag lieferte Budai seinen vorläufigen "Abschlussbericht". Von den sechs
tiefer geprüften Ausschreibungen, bei denen der Verdacht des Missbrauchs von öffentlichen Geldern behauptet wurde, wurden zwei nicht beanstandet, drei liegen bei der
Staatsanwaltschaft zur Prüfung einer Klage und bei einem wird nun Anzeige "gegen Unbekannt" erstattet. Zumeist geht es bei den Vorwürfen um die "Ausgliederung" von
geförderten Aktivitäten an Dritte, die sich damit unrechtmäßig bereichert hätten. Die Beschuldigten gingen davon aus, dass dies unter damaligen Vorschriften rechtens war.
Weitere zehn Ausschreibungen an anderen Forschungsinstituten werden von Budai noch "geprüft". Keine Antwort gab es darauf, wie man die "nicht beanstandeten", aber
wochenlang durch den Propagandakakao gezogenen Wissenschaftler zu rehabilitieren gedenkt. Das sind wohl Kollateralschäden der Volksrevolution...
Budai erkannte das politische Potential des Falles
Die einseitige Konzentration und die ganze Art des Vorgehens gegen die als
regierungskritisch bekannten Denker bildet ein klares Anzeichen dafür, dass es sich hier um einen gezielt inszenierten politischen Schauprozess handelt. Der Anlass wurde Budai quasi
auf dem Silbertablett präsentiert - offenbar von der neuen Leitung des Philosophischen Forschungsinstituts an der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Denn bereits im Juli
2010 hatte jemand eines der betroffenen Projekte anonym bei der Staatsanwaltschaft angezeigt und der regierungsnahen Zeitung "Magyar Nemzet" vertrauliche
Institutsunterlagen zugespielt, zu denen eigentlich nur die Institutsleitung Zugang haben konnte. Motiv der Anzeige waren offenbar persönliche und fachliche Differenzen zwischen
dem stellvertretenden Institutsleiter und einem der Beschuldigten.
Die Polizei nahm im Herbst 2010 Ermittlungen auf, die jedoch ergebnislos blieben. Und
dann landete die Anzeige auf dem Tisch des Abrechnungsbeauftragten, der das politische Potential der Sache erkannte und Anfang Januar erneut Anzeige erstattete - unter
Verwendung desselben Textes. Gleichzeitig brachten er, die "Magyar Nemzet" und andere, noch rechtere Publikationen immer wieder antiliberale, letztere auch antisemitische
Aspekte in die Debatte ein. Das Fass für die Rechte zum Überlaufen brachte der Umstand, dass sich die linken Philosophen auch noch im Ausland über diese Behandlung beschwerten
und sich nichtmagyarische Kapazitäten in den Streit einmischten. Nun polterte es im rechten Äther ungeniert antisemitisch.
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Die Einzelheiten dieses komplexen Falles haben die Autoren des Blogs "Pusztaranger" vorbildlich
zusammengetragen und konnten so die Dimensionen der politischen Instrumentalisierung in einer umfassenden Quellenstudie engmaschig belegen. Wir empfehlen diese Dokumentation ausdrücklich:
Chronik eines Schauprozesses Teil 1 http://pusztaranger.wordpress.com/2011/02/03/chronik-eines-schauprozesses/ Chronik eines Schauprozesses Teil 2 http://pusztaranger.wordpress.com/2011/02/14/chronik-eines-schauprozesses-teil-2/
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Jetzt soll es dem Ex-Verteidigungsminister an den Kragen gehen
Eine "Unschuldsvermutung" kennt der Regierungskommissar Budai bei seiner Arbeit nicht.
Bei der o.g. Pressekonferenz am Freitag kolportierte er wiederum reihenweise Namen von aus seiner Sicht Verdächtigen und brachte sie mit allerlei Vorwürfen in Verbindung, die
eigentlich nur und ausschließlich vor Gerichte gehören. Nicht umsonst dürfte Budai der Mann mit der höchsten Dichte an Verleumdungsklagen in Ungarn werden. Denn noch sind
die Philosophen nicht im Kerker, da stürzt er sich schon auf den nächsten. Diesmal ist Ex-Verteidigungsminister Ferenc Juhász an der Reihe, in der wohl ganz richtigen Annahme,
dass er in puncto Korruption im Verteidigungsministerium wieder einmal die richtige Adresse erwischt hat. Doch nicht zuletzt ist Juhász auch eine Schlüsselfigur der gerade um Besinnung ringenden MSZP.
Das Muster im neuesten Fall ist wieder ein ähnliches. Ein Medium, diesmal das
regierungsnahe HírTV, erzählt eine Geschichte. Es geht um den ehemaligen General János O., der bezeugt, dass er dem Staatssekretär F. einst 12 Mio Forint (45.000 EUR)
überbrachte, worauf der davon einen Teil in einen leeren Whiskykarton steckte mit der Bemerkung "das ist für den Chef." Dann ging F. aus dem Raum und kam ohne
Whiskykarton wieder, sagt O. Der Fall landet dort, wo er hingehört, vor der Militärstaatsanwaltschaft. Der Staatssekretär saß in U-Haft und wurde mehrfach
vernommen, der Prozess steht noch aus. Am 19. Januar wird die Ermittlung über die Involvierung des Ex-Ministers jedoch ergebnislos abgeschlossen. Damit ist für Kommissar
Budai klar, dass die "Budapester Militärstaatsanwaltschaft den Fall übergeht, weil sie den Ex-Minister schützen will." Was auch sonst?! Budai rannte daraufhin zu Péter Polt, seit
kurzem wieder der Generalstaatsanwalt des Landes, auf neun Jahre von Viktor Orbán dazu berufen, und unterstellte diesem gegenüber, dass womöglich auch dessen Vorgänger hier
die Augen zu gemacht habe. Polt solle nun die alten Protokolle nochmals überprüfen, um den, so Budai, "größten Korruptionsskandal der letzten 20 Jahre" doch noch aufzuklären.
Auch diese Bühne nutzt Orbáns Racheengel gern: (Fast) das gleiche Rednerpult wie der Chef, der gleiche
fahnenwogende Hintergrund. Man lässt keinen Zweifel daran, wem Budai rechenschaftspflichtig ist.
Orbán will Gyurcsány im Gefängnis sehen - und koste es den Rechtsstaat
Der Ex-Minister will Budai nun wegen
Verleumdung verklagen, so wie es zuvor schon die Ex-Ministerpräsidenten Bajnai und Gyurcsány im Fall der Grundstücke für das King´s Casino am Velence See getan haben. Auch hier wurden schon
Verantwortliche bestraft, gegen den Bewerber eine hohe Geldstrafe verhängt. Doch Budai ruht offenbar nicht, bis er den Auftrag seines Chefs erfüllt hat. Und der will Ex-Minister, am liebsten
jedoch Gyurcsány, selbst im Gefängnis sehen und "die Linke" auf Jahrzehnte zum Schweigen bringen. Dass man mit einem "Parteikommissar" dabei zwangsläufig
demokratische Grundregeln überrennt und unter Umständen auch Unschuldigen die Existenz ruiniert, wird genauso in Kauf genommen wie die Schwächung der als unabhängig
gedachten Rolle der Justiz, die damit in eine unmögliche Lage gebracht wird. Wir erinnern hier nur an die "Säuberungsaktionen" in staatlichen Betrieben im Vorjahr, die Entfernung
der Führung der Ungarischen Staatsoper oder den Angriff auf den Intendanten des Nationaltheaters sowie die kulturzerstörerische Enteignung der freien Theaterszene, die
offenbar unter linkem "Generalverdacht" stand.
Politische Willkür als Instrument gegen Korruption und Amtsmissbrauch ist indes wie den
Teufel mit dem Belzebub austreiben und wieder ein Indiz dafür, dass in Ungarn nur ein Katastrophensystem durch das nächste abgelöst wurde.
red./ P.R. / M.S.
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