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(c) Pester Lloyd / 08 - 2011  OSTEUROPA 02.03.2011

 

Ängste auf beiden Seiten

Die "Ost-Öffnung" der Arbeitsmärkte zwischen Vernunft und Politik

Am 1. Mai entfallen die letzten Schranken der Arbeitnehmerfreizügigkeit. Werden Arbeitssuchende aus Ungarn, der Slowakei, Tschechien und Polen, Slowenien und dem Baltikum dann den Westen, vor allem Österreich und Deutschland fluten und mit ihren Dumpinglöhnen soziale Unruhe stiften? Glaubt man manchen Politikern und der Angst der Bürger, dann ja. Rechnet und denkt man nach, haben die Beitrittsländer bald das größere Problem.

Beispiel Ungarn: Derzeit arbeiten - offiziell - rund 26.000 Ungarn in Österreich, sie machen gerade 6% aller Gastarbeiter aus, der größte Anteil stammt aus den Ländern Ex-Jugoslawiens, gefolgt von der Türkei. In der Stamm-EU (EU-15) sind es nach Berechnungen der EU-Kommission derzeit knapp 80.000. Die Zahl der Gastarbeiter aus allen zehn der 2004 beigetretenen Ländern stieg in Österreich von 2004 bis 2008 von 43.000 auf 80.000. László Andor, der ungarische EU-Kommissar für Soziales und Arbeit erwartet für Österreich nach einer kleinen anfänglichen Welle, nicht mehr als 1-2 Tausend jährliche Zugänge aus den 2004er Beitrittsländern nach Österreich.

“Die Emigranten” Gemälde von Antonio Roccos, 1910

Bis zu Dreiviertel im Westen haben Angst vor der “Billigarbeiterschwemme”

Mit der Angst vor einer Flut von Billigarbeitern und Lohndruck in den unteren Segmenten wird, kurz vor der "Ostöffnung" der Arbeitsmärkte, wieder vor allem in Österreich kräftig im Trüben des politischen Populismus gefischt. Vor allem die rechtsradikale FPÖ verweist auf die Gefährdungen für die österreichischen Arbeitnehmer und malt Szenarien von Arbeitslosigkeit und Dumpinglöhnen an die Wand. Das geht schon seit Jahren so und die Saat der "Ostangst" ging bisher immer auf, Wahl- und Umfrageergebnisse geben den "Freiheitlichen" recht, daher wird die Kampagne - im Gleichschritt mit der antieuropäischen Kronzenzeitung fortgesetzt, aber auch mit der Solidarität der Gewerkschaften und vor allem der Arbeitkammer mit den Kollegen im Osten ist es nicht weit her.

Das Institut IMAS ermittelte, dass 71 Prozent der Österreicher negative und lediglich zwölf Prozent positive Auswirkungen auf den heimischen Arbeitsmarkt durch die Öffnung desselben für Arbeitskräfte aus Osteuropa erwarten. In Deutschland sind hingegen mit 67 Prozent weniger pessimistisch und mit 16 Prozent auch mehr optimistisch. 57 Prozent der Österreicher — in Deutschland waren es 51 Prozent — gaben an, zum ersten Mal von der bevorstehenden Liberalisierung gehört zu haben, was ein beredtes Licht auf die Meinungsbildung wirft. Die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) hat für Deutschland indes noch schlechtere Zahlen als Österreich ermittelt. Demnach fürchten in ganz Deutschland 73 Prozent den Verlust von Arbeitsplätzen, im Osten sogar knapp 79 Prozent.

Dass man vor dem 1. Mai 2011 in Österreich und Deutschland jedoch keine Angst haben muss, hat viele Gründe:

- über die seit 2004 (teilweise beschränkt) in Kraft getretene Dienstleistungsfreiheit sind viele Arbeitswillige längst über Unternehmen in den westlichen Länern tätig (z.B. Bau, Pflege, Transport etc.)

- durch Bedarfsregelungen wurden schon Jahre vor dem Stichtag etliche Berufe von der Sperre ausgenommen und Kontigente eingeführt (z.B. Gastwirtschaft, Tourismus, Facharbeiter für die Fahrzeugindustrie)

- Lohndumping ist nie ein einseitig durch den Arbeitnehmer hervorzurufen, der Auftrag- bzw. Arbeitgeber (zumeist Österreicher) muss mitmachen. Hier würden generelle bzw. branchenspezifisiche Mindestlöhne und stärkere Kontrollen helfen, sind aber offenbar von der starken Wirtschaftslobby nicht sonderlich erwünscht.

- die meisten Ungarn, Polen, Tschechen wollen überhaupt nicht im Ausland arbeiten. Sobald sich in der Heimat die Möglichkeit ergibt, ein halbwegs menschenwürdiges Ein- und Auskommen zu erhalten, gibt es keinen Wunsch mehr in Österreich oder sonstwo im Ausland zu arbeiten. Die Schaffung sozialer Mindeststandards auf europäischer Ebene ist hier angezeigt

- ohne Ausländer, zumal aus Osteuropa, sind bestimmte Branchen in Österreich gar nicht mehr lebensfähig. Bsp.: Pflege, Gastwirtschaft, weil sie einfach katastrophal schlecht bezahlt werden. Sogar hochrangige Politiker flogen vor einigen Jahren mit "illegalen Pflegekräften" auf, woraufhin man hektisch eine "Amnestie" gewährte.

Brain drain schadet den osteuropäischen Ländern

Zudem könnte sich bald herausstellen, dass es vor allem der Osten ist, der am Ende bei der "Ostöffnung" draufzahlt, fürchtet doch nicht nur Sozialkommissar Andor ganz zurecht einen weiteren Exodus, neudeutsch "Braind drain" von hochqualifitierten Facharbeitern, Ärzten, Pharmazeuten, Forschern, Lehrern, die aufgrund der oft enormen Einkommensschere relativ leicht abgeworben werden können. Auch das findet schon heute statt (Ärzte hatten nie ein Problem im EU-Ausland Jobs zu bekommen), könnte sich aber verstärken. Doch gerade die qualifizierten Köpfe werden in den Ländern gebraucht, wenn man sich jemals vom Status der "Werkbank" befreien will.

Lohndumping ist ein Systemfehler und hausgemacht

Kurz gesagt: wer im Westen arbeiten will, tut es bereits, der Möglichkeiten dafür gab und gibt es viele. Alles andere ist Propaganda, zumal Österreichs Wirtschaft nachweislich durch die Ostöffnung der EU profitiert hat. Österreichs Arbeiter haben das - im Durchschnitt - nicht. Tatsächlich sind in den letzten zehn Jahren die Realeinkommen der Arbeiter um fast 10% gesunken, während Angestellte noch knapp 3% zulegten und Beamte 26% Plus einfuhren (die Vermögenszuwächse der Superreichen betrugen im gleichen Zeitraum über 1000%!). Das Problem des Lohndumpings ist also vor allem hausgemacht, es ist nicht in erster Linie der Wettbwerbsdruck, sondern die ungerechter werdende Verteilung der Gewinne, kein geographisches, sondern ein gesellschaftliches, systemisches Problem.

Doch beiden Seiten ist mit weiterem Zuwarten und verlängerten Beschränkungen nicht geholfen. Die Probleme werden so nur vertagt. Die Öffnung der Arbeitsmärkte ist ja nicht nur ein technischer Akt, sondern auch die Herstellung der Gleichberechtigung zwischen "alten" und "neuen" EU-Ländern, ohne die eine "Gemeinschaft" auf Dauer nicht halten kann. Immerhin können die Völker beider Seiten so vielleicht erkennen, dass sie gemeinsame Probleme haben, die auch gemeinsamer Lösungen bedürfen.

red. / MS.

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