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(c) Pester Lloyd / 08 - 2011  GESELLSCHAFT 04.03.2011

 

Ausgelagert

Ungarn: "Europäischen Romastrategie" und eigene Verantwortung

Ein aktuelles Papier: "Europas Verantwortung als Chance für die Roma" von EU-Kommissar Andor und Staatssekretär Balog, enthält eine Reihe von klugen Einschätzungen und auch den Ansatz selbstkritischer Einsichten. Es soll die EU weiter aufrütteln, sich ernsthaft einer gemeinsamen Romastrategie zuzuwenden, da die weitere Vernachlässigung dieser ethnischen Minderheit allen schadet. Etliche Punkte enthalten aber auch Beschönigungen und schwere Fehleinschätzungen. Die eigenen Versäumnisse werden an die EU delegiert. Eine kritische Analyse.

Portraits von Roma aus Spanien und Ungarn, eine Ausstellung in Brüssel als
Begleitprogramm der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft

Mit dem EU-Kommissar für Soziales, László Andor und dem Staatssekretär Zoltán Balog haben es zwei Vertreter der eigentlich hoffnungslos verfeindeten politischen Blöcke in Ungarn geschafft, eine gemeinsame Erklärung (in ganzer Länge auf dt. bei EurActiv.de) zur Lage der Roma abzugeben. Immerhin verbindet ja der Romahass viele Ungarn über die politischen Lager hinweg, warum sollte also nicht auch das Engagement für die Roma über die Gräben funktionieren. Die ungarische EU-Ratspräsidentschaft hat eine "europäische Romastrategie" als zentralen Punkt auf ihrer Agenda. Was steckt dahinter?

Begriffsstutzigkeiten: Sind ungarische Roma nun Ungarn?

Zunächst liefern die beiden ein paar Fakten, die man nach Afrika oder Asien, nicht nach Europa verorten würde. Im wesentlichen bekannt, in ihrer Geballtheit aber immer wieder beeindruckend: "Europaweit gibt es etwa 10 bis 12 Millionen Roma, 80 Prozent von ihnen leben in den neueren Mitgliedsstaaten. (...) Von den 10 Millionen Einwohnern des Landes (Ungarn) sind etwa 700.000 Roma. Sie ziehen nicht umher, da sie schon in zweiter und dritter Generation angesiedelt sind. Allerdings sind vier von fünf erwachsenen Roma arbeitslos, 70 Prozent ihrer Kinder verlassen ohne Schulabschluss die Schule, und 70 Prozent der Rom leben ausgegrenzt in lagerähnlichen Verhältnissen. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Roma liegt in Ungarn 10 bis 15 Jahre unter der der sonstigen Bevölkerung. (...) 50 bis 60 Prozent der in extremer Armut lebenden Kinder haben einen Roma-Hintergrund. Die Zahlen sind ungenau, zumal in Ermangelung „objektiver“ Kriterien nicht festgestellt werden kann, wer Roma ist und wer nicht; bei der Volkszählung 2001 hatten lediglich 190.000 Einwohner angegeben, Roma bzw. „Zigeuner“ zu sein."

Soweit so schlecht. Doch schon wird es holprig, offenbart sich ein grundlegendes Missverstehen: "Diese Personen sind natürlich - sofern sie sich dazu bekennen - (auch) Ungarn. Laut ungarischer Verfassung stellen die nationalen und ethnischen Minderheiten staatsbildende Faktoren dar, deren Kultur Teil der Landeskultur ist; sie zu wahren und zu fördern ist Staatspflicht." Es müsste heißen, dass sie "natürlich" und nicht "auch" alle Ungarn sind und "auch" Roma, wenn sie sich dazu bekennen. Hier dreht man, ohne böse Absicht, das Staatsbürgerschaftsprinzip um und bürgert begrifflich all jene aus, die sich nicht "als Ungarn" bekennen. Gemeint sind jedoch "Magyaren", was kein ethnischer definierbarer, daher völkischer Begriff ist, auch wenn er lieb gemeint war. Auch Deutsche, Kroaten, Juden und eben Roma sind, so dort geboren und/oder Inhaber des Passes, Bürger des Landes, also Ungarn, auch ohne Bekenntnis. Schrieben die beiden so über Juden, hätten sie jetzt ein echtes Problem. Dass zwei Politprofis wie Andor und Balog das passiert, zeigt, wie tief die "völkische" Verirrung in Ungarn ist, selbst ohne böse Absichten.

Wählen Roma aus lauter Freiheitsliebe die Armut?

"Enorme Freiheitsliebe" als Integrationshemmnis?

Weiter heißt es: "Roma-Volksgruppen sind in Ungarn seit etwa 500 Jahren urkundlich belegt. Trotz des gemeinsamen Lebensraums sind sie ausgegrenzt. Der vor 200 Jahren geborene ungarische Komponist Franz Liszt beschreibt die Roma halb befremdet, halb bewundernd als einziges Volk der Welt, das einerseits niemanden unterjochen, sich andererseits aufgrund seiner enormen Freiheitsliebe auch nicht mit anderen vermischen wolle. In zahlreichen Fällen ist es infolge der Diskriminierung durch die Außenwelt zu dieser Ausgrenzung gekommen." Hier ist anzumerken, dass die Fälle nicht zahlreich waren, sondern die Ausgrenzung vollständig und prinzipiell - in fast ganz Europa. Noch im 19. Jahrhundert konnten an den preußischen Grenzen Zigeuner straffrei erschossen werden, Anfang des 20. Jh. wollte man sie in Ungarn wie Pferde brandmarken, um sie zu kennzeichnen.

Der parteilose László Andor (rechts), einst Berater der Regierung Gyurcsány und von dessen Nachfolger Bajnai nach Brüssel entsandt, gehört zu jener Generation "Banker" (er ist Wirtschaftsprofessor und arbeitete für die EBRD), die vom Fidesz gern pauschal als volksfern gebrandmarkt wird. Sie nannte ihn bei der Ernennung einen “Kommissar ohnre Rückhalt in der Bevölkerung”, absetzen kann sie ihn aber nicht. Zoltán Balog , als Staatssekretär im Ministerium für Justiz und öffentliche Verwaltung für "die Romafrage" zuständig, fiel im Gegensatz zu vielen anderen seiner Partei bisher nie als Scharfmacher auf und hielt sich aus den demagogischen Debatten heraus.

Mit der “enormen Freiheitsliebe” ist es auch so eine Sache. Diese klingt doch als sehr dürftige Erklärung dafür, dass man vor den Roma einfach Angst hatte, sie wegen ihrer Andersartigkeiten missachtete. "Die Ungarn" sind - lt. Orbán - ohnehin die freiheitsliebende Nation der Welt, lassen sich aber dennoch unterjochen, wie nicht nur das Heute zeigt. Andersherum gefragt: muss man die Freiheitsliebe der Roma also brechen, um sie zu normalen Bürgern zu machen? Über das Phänomen des Antiziganismus und die damit einhergehende erzwungene Asozialisierung haben wir hier mit einem Experten gesprochen.

Die Gesellschaft trägt Mitverantwortung an den Romamorden 2009, leugnet diese aber beharrlich

Andor und Balog: "Für das Verhältnis zwischen der Bevölkerungsmehrheit und den Roma finden sich in Ungarn konträre Beispiele. 2009 wurden Roma – darunter auch Frauen und Kinder – allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit ermordet. Zugleich bestehen nach Ansicht von EU-Stellen in Ungarn auch zahlreiche vorbildliche Verfahren, Programme und Rechtsvorschriften, um die Gleichstellung der Roma zu fördern. Die Roma verfügen über ein von unten gewähltes dreistufiges Vertretungssystem, so dass sie heute mit mehr als 5.000 Vertretern in Selbstverwaltungsorganen auf lokaler, regionaler und landesweiter Ebene vertreten sind."

Zu den Romamorden: leider fehlt hier das Bekenntniss zur Verantwortung die das ganze Ungarn an der Mordserie gegegen die Roma trägt. So wie die Sozialisten sich einen Dreck um die Roma im Lande gekümmert haben, kalkulierten die Nationalkonservativen die politische Aufheizung des Landes, als ihrem Machtanspruch entgegenkommend, ein. Ohne diese kalkulierte Polarisierung wäre ein Aufstieg von Jobbik und Co., samt "Garde" gar nicht denkbar gewesen. Unterlassung und - höflich gesagt - grobe Fahrlässigkeit sind im bürgerlichen Leben Straftaten. Kein Wort der Mitschuld also aus dem offiziellen Ungarn.

Es gibt keine "Romaselbstverwaltung" in Ungarn

Zur Selbstverwaltung: Die "Selbstverwaltung" der Roma als "vorbildliche Verfahren, Programme und Rechtsvorschriften" zu bezeichnen, ist ein schlechter Scherz, eigentlich eine Lüge, die von der EU zum Teil mitgespielt wird. Eine demokratisch legitimierte parlamentarische Vertretung der größten ethnischen Minderheit gibt es nicht, (die Ungarn in Rumänien sind an der Regierung beteiligt). Ein Ombudsmann und ein Staatssekretär haben hier zu genügen. Die Minderheitenvertretungen auf lokalen Ebenen haben nur kulturelle Alibikompetenzen, keinerlei exekutiven Rechte, sie sind meist seit Jahren in den Händen kleiner Gruppen mit eigenen Interessen (Fördergeldtöpfe).

Die nationale Selbstverwaltung der Roma ist bei den letzten Wahlen vor wenigen Wochen aus den Händen eines wegen Untreue, Bilanzfälschung und Amtsmissbrauchs vor Gericht stehenden Roma-Parteichefs, in jene eines Fidesz-Parteisoldaten geraten. Wird dieser gegen die Regierung aufbegehren, um Romainteressen durchzusetzen? Werden das die paar Roma in Reihen des Fidesz tun, einschließlich der “Vorzeigeroma”, die dem ganzen hässlichen Drama im EU-Parlament ein hübsches Gesicht geben?

Zudem wurden die wenigen Institutionen, die noch in Selbstverwaltung standen, u.a. das Ghandi-Gymnasium in Pécs und andere Kultur- und Bildungseinrichtungen vor ein paar Monaten per Dekret "verstaatlicht." Der Staat übernahm - wohl nicht nur zu unrecht - zwei Dutzend Stiftungen zurück in eigene Hoheit, weil sie verschwenderisch bzw. "ineffizient" geführt wurden. Eine Selbstverwaltung oder eine adäquate Vertretung der Roma gibt es - aus Unwillen auf der einen und Unfähigkeit auf der anderen Seite - nicht.

Romantisiertes Elend - unser “Zigeunerbild” ist voll von Klischées

"In der im Mai 2010 gebildeten neuen ungarischen Regierung sind ein Staatssekretär und eine Abteilung eigens mit der Eingliederung der Roma befasst." schreiben die beiden weiter, womit klar ist, dass die Angelegenheit nicht selbst- sondern zentralverwaltet wird. "Darüber hinaus setzen sich seit Jahrzehnten auch internationale zivile Organisationen sowie Kirchengruppen für die Belange der Roma ein." - Ersatzdienst.

Realität gegen Lippenbekenntnisse

Weiter heißt es: "Rassistische Ressentiments finden sich sowohl auf Seiten der Bevölkerungsmehrheit als auch bei der Roma-Minderheit. Diese Situation ist vor dem Hintergrund des Problems zu sehen, dass in Ungarn jeder Dritte Gefahr läuft, sozial und mental den Anschluss zu verlieren. Es sind also nicht nur Roma betroffen, doch ist die Mehrheit der Roma gefährdet. Aus den vorangehenden Ausführungen erklärt sich, dass Ungarn, das derzeit den Ratsvorsitz innehat, der Roma-Frage Priorität einräumt und in diesem Zusammenhang vor allem bemüht ist, nachhaltige Beschäftigung und den Zugang zu hochwertigen Lernangeboten zu gewährleisten." Hier wird sehr richtig angesprochen, dass es sich um ein Armutsproblem handelt und auch als solches anzugehen ist, die Wirklichkeit spricht hier bisher Bände dagegen. Stichworte: Korbflechterkurse als Arbeitsmarktintegration; kurzzeitige, EU-finanzierte Arbeitsprojekte, die nach auslaufen im Nirgendwo enden, gezielte Segregation von Romakindern schon ab der Einschulung, keine Förderung und Forderung im Vorschulalter etc. Hier wird nichts "gewährleistet" und sich kaum "bemüht".

Nicht nur aus Ungarn, sondern z.B. auch aus Tschechien und der Slowakei müssen wir weiter von Zwangseinweisungen in Sonderschulen als Regelfall berichten, Zwangssterilisationen (!), Mauern um Romaghettos. Andor und Balog könnten auch erklären, warum nichts gegen die immer noch und wieder stattfinden Aufmärsche von Nachfolgern der "Ungarischen Garde" unternommen oder das formidable Mediengesetz bis heute nicht gegen die tagtäglichen Hasspredigten rechter Medien gegen die Minderheit eingesetzt wurde. Mehr dazu auf unserer Themenseite.

Orbán droht der EU mit Völkerwanderung, er lagert das Problem aus

Eine notwendige "nationale Strategie" gab es nicht vor dieser Regierung und gibt es nicht mit dieser Regierung. Einen Plan hat man allerdings, die Auslagerung des Problems an die EU. Wie immer etwas burschikoser, hatte es Premier Orbán im Dezember ausgedrückt und der EU mit einer massiven Völkerwanderung gedroht: "zwei Arten von Roma gibt es auf dem Kontinent: nomadisierende und sesshafte." sagte er bei einem Besuch in Schweden. "Wenn Europa den sesshaften Roma nicht die entsprechenden Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten gibt, werden diese wieder beginnen zu reisen, um bessere Möglichkeiten zu finden". Dabei kann Europa die Möglichkeiten höchstens finanzieren, geben müssen sie ihnen die Ungarn selbst - "Da die Roma Mittelosteuropas europäische Bürger sind, werden sie in Länder ziehen, die einen höheren Lebensstandard und bessere Sozialleistungen bieten". Was ganz offen heißt: die “Zigeuner” werden ohnehin nicht arbeiten, sondern nur der höheren Sozialhilfe nachziehen. Entweder die EU zahlt uns den notwendigen Ausgleich oder wir schicken sie auf die Reise. Auch ein Konzept...

EU sollte Durchführung und Finanzen aller Projekte selbst kontrollieren

Bei Andor und Balog klingt das ziviler, meint aber dasselbe: "Da die Probleme schon längst den Rahmen einzelner Mitgliedstaaten sprengen, bedarf es auch in diesem Bereich des Zusammenhalts auf europäischer Ebene. Die Länder Mitteleuropas und des Balkans verfügen nicht über ausreichende Mittel, um die Beschäftigungs- und soziale Lage der Roma wirklich zu verbessern, zudem fehlt ohne Hilfe von außen oftmals auch der entsprechende Wille." Das Geld, das wissen die Ungarn, ist da. Doch die, die es haben, sollten auf Plänen und konkreten Konzepten bestehen, bevor sie es freigeben - und: die Kontrolle über die Kasse in eigenen Händen behalten, möglich, dass sich am Ende nicht "die Zigeuner" als die diebischsten Teilnehmer herausstellen könnten.

Damit Fördermittel ankommen, wo sie ankommen sollen, muss etwas geschehen: "Hierfür müssen sowohl seitens der EU (vereinfachte Verfahren, Ermittlung der von sozialen Krisen betroffenen Mikroregionen usw.) als auch seitens der Mitgliedsstaaten (Ausarbeitung besserer Programme unter Einbeziehung der Roma-Organisationen) größere Anstrengungen unternommen werden."

Andor und Balog stellen zum Schluss fest, dass es den Roma 20 Jahre nach der Wende schlechter geht als im realen Gulaschkommunismus (wo es ihnen auch schon schlecht ging) und sie stellen die berechtigte Frage: "Wie wollen wir also diesen Menschen heute erklären, warum die Demokratie der Diktatur vorzuziehen und warum die Europäische Union besser als das sowjetische Modell ist? Wenn wir als Augenzeugen der Wiedervereinigung Europas vor der nachrückenden Generation nicht unser Versagen eingestehen wollen, dürfen wir uns nicht mit der aussichtslosen Lage der europäischen Roma abfinden." Dieser Satz wäre richtig, wenn er auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt würde...

M.S. / red.

Mehr dazu auf unserer Themenseite

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