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(c) Pester Lloyd / 16 - 2011  POLITIK 17.04.2011

KOMMENTARE

Die Wut wächst

Zwei Großdemonstrationen gegen die neue Verfassung in Ungarn

Gegen die neue Verfassung gingen am Freitagnachmittag deutlich über 5.000 Menschen auf die Straße. Das Publikum der Demonstration in der Alkotmány utca / Verfassungsstraße war breit gefächert, Studenten, Familien, Kinder, ältere Eheepaare. Am Samstag kamen nochmals rund 3.000 in die Innenstadt, die Anhänger von Ex-Premier Gyurcsány, der im Kampf gegen die Regierung sein eigenes Süppchen kocht.

Am Freitag in der Verfassungsstraße, unweit des Parlamentes in Budapest: Flyer werden verteilt von linken Gruppen, von Romavereinen, Bürgerrechtlern und Schwulenverbänden. Sie haben ganz grundsätzliche, aber auch ganz konkrete Sorgen mit der neuen Verfassung. Auf der Bühne geben sich die Redner im 5-Minuten-Takt das Mikrofon in die Hand, organisiert ist das ganze von einer "Bewegung gegen die Verfassungsreform", einem losen Bündnis, zu Wort kommt ein Vertreter des „Gay Equality College“, dann einer von der Stiftung „ Bürgerrechte für Roma“. Sie erhalten alle Beifall, alle sind sich einig in ihrer Wut über die Anmaßungen der Regierung, Lebensbereiche zu definieren, Haltungen gesetzlich festschreiben zu wollen, demokratische Kontrollinstanzen wie das Verfassungsgericht in weiten Teilen zu entmachten.

Heute wurde eine Umfrage bekannt, vom anerkannten Institut Median. Sie besagt, dass sich 60% eine Volksabstimmung über die Verfassung wünschen, 41% der Meinung sind, dass eine Überarbeitung der bestehenden Verfassung genügen würde und sich 30% dringend Änderungen am jetzigen Entwurf wünschen. Die Regierungspartei Fidesz behauptet, diese Volksbefragung habe schon vor einem Jahr an den Wahlurnen stattgefunden und nochmals durch das Versenden der Fragebögen an alle Haushalte. Mehr sei nicht nötig.

 

Jeder soll die Möglichkeit bekommen, seine Stimme zu erheben

Bodó Balázs, einer der Mitveranstalter, ist Ökonom, lehrt und forscht an einer Budapester Uni. Er sagt uns: „Heute protestieren wir nicht nur gegen die neue Verfassung, sondern auch gegen die Art und Weise wie die Regierung dieses Gesetz auf den Weg bringt. Eine so große Verfassungsreform kann nur durch einen Konsens verschiedener sozialer Gruppen und gesellschaftlichen Identitäten einer Nation entstehen." Doch braucht es heute eine solche Demonstration außerhalb des Parlamentes, damit "jeder die Möglichkeit bekommt, seine Stimme hören zu lassen.“

Die Regierungspartei hat die Verfassung in einer Art Meinungsfindungs-Show mit Fragebögen und Parlamentskommission "erarbeitet", die Opposition - bis auf die Neofaschisten - verweigerte sich dieser Inszenierung. Vorige Woche kritsierte der Staatspräsident jene, "die außerhalb des parlamentarischen Rahmens" Protest gegen die neue Verfassung anmelden. Der Präsident stellt also das Demonstrationsrecht in Frage. In der Alkotmány Straße kommt eine teils ängstliche, teils trotzige, teils hoffnungsvolle Stimmung auf. Sie erinnert nicht wenig an das "Wir sind das Volk" aus Leipzig vor bald 22 Jahren. Die hier sind nicht "das", aber eben "auch das" Volk.

Über die Roma wird einfach hinweggegangen

Besonders wütend ist die größte ethnische Minderheit im Lande. Ihr wird stets Untätigkeit und Verweigerungshaltung vorgeworfen, doch zur neuen Verfassung wurden nur die linientreuen "Vorzeigezigeuner" des Fidesz konsultiert, die einfach die Parteiparolen wiederholen, mit der Lebenswirklichkeit des verarmten Teils ihrer "Landsleute" aber nichts mehr zu tun haben, schimpft einer, der ungenannt bleiben will. Die Roma sind nur ein Beispiel, wie sich diese Regierung anmaßt, die Bedürfnisse und den Willen ganzer Bevölkerungsgruppen zu definieren.

Wir treffen auf der Demo Aladár Horváth, er leitet die Stiftung "Bürgerrechte für Roma": „Ich glaube, dass die gegenwärtige Situation viel gefährliche Ähnlichkeit mit der politischen Situation im Ungarn der vierziger Jahre hat", meint er zu der Kombination aus Wirtschaftskrise und grassierendem Nationalismus. Doch "diese Regierung tut nichts gegen die Rechtsextremisten, man kann zwischen der Regierungspartei und den Rechtextremisten kaum noch eine Grenze ziehen". Aktuell verweist er auf die Aufmärsche der "Garden" in der Provinz, der Innenminister spricht davon Ordnung zu schaffen, aber er handelt nicht. Für Horváth entwickelt sich Ungarn immer mehr zu einem "Apartheidssystem." Er sagt: "die Roma werden jeden Tag landesweit verfolgt und abgesondert. Die Richter haben sich in mehreren Fällen als Rassiten erwiesen. In Miskolc wurden 4 junge Zigeuner zu 61 Jahren Haft verurteilt, weil sie ein Auto mit Baseballschlägern zerstört haben. So kann es nicht weitergehen.“

Alex, ein deutscher freischaffender Künstler und Lehrer, lebt in Ungarn schon seit vielen Jahren, er trägt ein Plakat, auf dem steht „ We are all gypsies! No apartheid!“. Alex ist frustriert: „ In so einem Land will ich nicht mehr leben. Die Kinder wachsen hier in einer beschränkten Stimmung auf, in einem Land wo eine ständige  Verdrehung der Wirklichkeit stattfindet. Die Orban-Regierung macht was sie will und erlaubt keinen Widerspruch." Auch Alex sieht die "Rassentrennung" als eine traurige Realität in Ungarn an. "Die Zigeuner werden ständig unterdrückt, sie kommen kaum zu Bildung. In der Schulen werden sie sogar getrennt verpfelgt. Sie essen aus Plastikbechern, während die >>ungarischen Kinder<< von Porzellangeschirr essen können. Das ist nur eines von vielen Beispielen, die ich machen könnte. Es gibt nur ein Wort für was hier die Roma-Minderheit täglich erlebt: Apartheid.“

Die neue Verfassung schafft das bisherige System der Ombudsmänner, u.a. für ethnische Minderheiten, Datenschutz etc. ab und ersetzt das durch einen Oberombudsmann für alle Belange. Die "ungarische Sprache" und die "ungarischen Tradition" genießen besonderen Schutz. Es wird zwar auch die kulturelle Vielfalt betont, viele - auch Verfassungsrechtler - befürchten aber, dass die ethnischen Minderheiten, vor allem die Roma rechtlich weiter an den Rand gedrängt werden. Segregation im Bildungswesen, "Sonderbehandlung" vor Gerichten, Menschenrechtsverstöße durch Behörden und Polizei sind an der Tagesordnung und dokumentiert, schon bevor das Fidesz an die Macht kam. Doch die Lösung der grundlegenden Problematik legte die Orbán-Regierung in die Hände der EU.

Die "gemeinsame EU-Romastrategie", einer der Kernpunkte der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft, ist nichts weiter als eine Verschiebung der Verantwortung, daran ändern auch die schönen Reden nichts, die ungarische Abgesandte täglich in Brüssel oder Straßburg halten. Zahlt der Westen nicht, drohte Orbán direkt mit einer Massenwanderung "von Zigeunern, die dorthin gehen werden, wo es die höchsten Sozialhilfen" gibt. Das ist seine Roma-Politik.

Am Montag wird das Parlament, sprich die 2/3-Mandatsmehrheit von Fidesz-KDNP, quasi eine Partei also, die Verfassung allein beschließen, Ostern, zum Fest der Auferstehung wird sie Präsident Pál Schmitt, Orbáns persönliches Stempelkissen, sie unterschreiben. Doch die Demonstrationen werden so nicht beendet werden, die Probleme nicht gelöst sein.

Orbán spaltet die Gesellschaft, Gyurcsány die Opposition

Am Samstag traf sich die Demokratische Charta in Budapest, die Polit-Plattform von Ex-Premier und Noch-MSZP-Mitglied Ferenc Gyurcsány. Rund 3.000 Menschen wurden mobilisert. Gyurcsány geriert sich schon wieder als wählbare Alternative zu seinem Intimfeind Orbán, dem er unterstellt, er strebe eine "Alleinherrschaft" an und trete die Werte der Republik mit Füßen. Dass Gyurcsány mit seiner Sondernummer nicht nur die eigene Partei spaltet, sondern eine Geschlossenheit der Opposition verunmöglicht, weil er für etliche Menschen aufgrund seiner "Leistungen" einfach inakzeptabel ist und quais selbst eine oppositionelle "Alleinherrschaft" beansprucht, sieht Gyurcsány, der zumindest in Sachen Eitelkeit und Machtsucht seinem Kontrahenten kaum nachsteht, nicht.

 

Die nächsten Demonstrationen sind geplant. Am 18. April, dem Tag der Verabschiedung im Parlament wird “die Demokratie zu Grabe getragen”, um 14 Uhr vor der István-Basilika. Vom 18. bis 21. April werden vor dem Sándor Palais, dem Amtssitz des Präsidenten in der Budaer Burg, Mahnwachen organisiert, auch von “Ostermärschen” ist bereits die Rede. Getragen wird dies nicht durch die MSZP, die sattelt nur auf die wirkliche und neue Bürgerbewegung in Ungarn auf.

Webseite der Initiative: http://egymillioan.blog.hu/

Hintergründe zu den angesprochenen Themen:

Tag der Hoffnung und des Zorns - April 2011
50.000 europäische Gewerkschafter demonstrierten in Budapest
http://www.pesterlloyd.net/2011_15/15demoReportage/15demoreportage.html

Immernoch fehlt der Wille -  April 2011
Kann eine EU-Romastrategie überhaupt Erfolg haben?
http://www.pesterlloyd.net/2012_13/13romastratStart/13romastratstart.html

THEMENSEITE VERFASSUNG

red. / M.S. / Stefano Solaro

 

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