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(c) Pester Lloyd / 17 - 2011  POLITIK 26.04.2011

KOMMENTARE

Teile und herrsche...

Regierung und Gewerkschaften in Ungarn tasten sich ab

Was anderswo in Europa Normalität ist, hat im Ungarn des Viktor Orbán Seltenheitswert. Der Ministerpräsident trifft sich mit Gewerkschaftsführern. Nicht er hatte darum gebeten, sondern die Führer von Arbeiterräten und LIGA, der beiden im Systemwechsel entstandenen Gewerkschaftsbünde, waren es, die um das direkte Gespräch baten. Wird der Dialog mit Arbeitervertretern wieder gestärkt oder ein Keil zwischen die Gewerkschaften getrieben? Ein Blick hinter die Kulissen.

Orbán, hemdsärmelig, zu Besuch in der Gewerkschaftszentrale der LIGA,
rechts Chef Gaskó mit Anzug und Krawatte...

Gewiss war es für Viktor Orbán, den selbsternannten Vollender des Systemwechsels, leichter, sich mit Arbeiterräten und LIGA an einen Tisch zu setzen als mit einem der übrigen vier Gewerkschaftsbünde, die der schlichten Logik seines von Lagermentalität geprägten politischen Denkens dem Umfeld des diskreditierten sozialistischen Erzfeindes zugerechnet werden. Die letzten Gespräche hatte es im Dezember des Vorjahres über die weitere (Mindest)Lohnentwicklung gegeben, seitdem ging Orbán den Gewerkschaftsführern aus dem Weg. Damals hatte Orbán ihnen ganz nebenbei zu verstehen gegeben, dass er sich aufgrund seiner Zweidrittelmehrheit im Parlament dazu berufen fühle, auch die Arbeitnehmerinteressen zu vertreten. Zu Recht durften die Gewerkschaften diese Ansage des omnipotenten Regierungschefs als unmissverständliche Drohung und kaum verhüllte Infragestellung ihrer Existenzberechtigung deuten.

Die andauernden Sparpakete werden zu einem Spiel mit dem Feuer

Ein wesentlicher Auslöser für die jetzt stattfindenden Gespräche liegt daher in der begründeten Sorge, dass die wachsende Unzufriedenheit von Lehrern, Feuerwehrmännern, Polizisten, Zollbeamten und anderen Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes allmählich von vereinzelten Protestaktionen in eine negative Gesamtstimmung selbst im bürgerlichen Kernland des Fidesz umschlagen könnte. Eine ganze Liste von Maßnahmen fordern die Geduld der öffentlich Bediensteten heraus: (weitere) empfindliche Einsparungen bei Zulagen (z.B. Jahresprämien, bezahlte Überstunden), Anhebung des Rentenalters, eine 98%ige Besteuerung von Abfindungen (bei allen über rund 5.400 EUR), die angesichts der winzigen Renten bisher wichtiger Teil der Altersvorsorge vieler kleiner Staatsangestellter waren sowie die immer häufiger angewandte Kündigung von öffentlich Bediensteten ohne jegliche Begründung (durch das Verfassungsgericht gekippt, aber bis Juli noch in Kraft).

Demonstrierende Feuerwehrleute beeindrucken auch
das bürgerliche Kernland des Fidesz

inzu kommt, dass die Regierung sich schon genötigt sah, per Eilverordnung Kompensationen für tausende Angestellte der niedrigsten Gehaltsstufen zu zahlen, die nach der Einführung der 16%igen Flat tax plötzlich weniger Geld in der Börse hatten als zuvor, (was u.a. mit der Berechnungsgrundlage des "Superbruttos" und der Absenkung der Berechnungsgrundlage zusammenhängt). Erst ab einem Bruttoeinkommen von 330.000 Forint lohnt sich die neue Flat tax wirklich, der Durchschnittslohn beträgt jedoch rund 100.000 Forint weniger. Dabei mussten die öffentlich Bediensteten schon unter der Bajnai-Regierung empfindliche Kürzungen bei Einkommen und Zulagen hinnehmen, freilich waren sie unter Gyurcsány großzügig und fahrlässig bedient worden. Doch niemand kann ihnen vorwerfen, sie hätten nicht längst ihren teuren Beitrag zu Krisensparpaketen geleistet. Allmählich wird die immer weiter getriebene Sparpolitik und die ersichtliche Geringschätzung der unter „sozial-liberalem“ Generalverdacht stehenden Staatsbediensteten ein Spiel mit dem Feuer. Demonstrierende Feuerwehrleute in Uniform und Fahnen schwenkende Polizisten waren die Folge. Protest von arbeitenden Menschen, noch dazu den Stützen des Staates und seiner Sicherheit, das ist ein störendes Bild in der Landschaft Orbáns, das für ihn gefährliche Signale aussendet.

Von den Arbeiterräten ist kein Widerstand zu erwarten

Von Imre Palkovics, dem Vorsitzenden der christlich-sozialen Arbeiterräte, ist offener Widerstand gegen Orbáns Politik kaum zu erwarten und bisher so gut wie nicht bekannt geworden. Palkovics steht auch nicht im Ruf, je mit seiner Sympathie für christlich- konservative politische Orientierungen hinterm Berge gehalten zu haben. Anders sieht es bei István Gaskó, dem „Enfant terrible“ der ungarischen Gewerkschaften, aus. Weit entfernt von dem Verdacht, mit der MSZP zu sympathisieren, wird er von „links“ gern mal als „Fidesz-Komplize abgestempelt“, wie kürzlich das angesehene politische Magazin hvg in einem Interview mit dem LIGA-Chef feststellte.

Der LIGA-Chef wird gern zum Orbán-Komplizen gestempelt, - ein Vorurteil

Den Vorwurf, der Partei Orbáns dienlich zu sein, brachten ihm vor allem zwei große Aktionen ein, mit denen er die sozialistische Gyurcsány-Regierung erheblich unter Druck setzte: Einmal die erfolgreiche Unterschriftensammlung für ein Referendum gegen die Privatisierung der Krankenversicherung (2007), zu dem es nicht mehr kam, weil das Vorhaben auf Eis gelegt wurde; dann die Streikwelle seiner Eisenbahngewerkschaft (2008), in der es vorrangig um eine angemessene Beteiligung der Arbeitnehmer an den Erlösen aus dem Verkauf von MÀV Cargo ging, die aber bis heute nicht entschieden ist. 

Abtasten in schweren Clubsesseln. Kann man die LIGA auf Regierungsseite ziehen oder wird sie zu einer größeren Gefahr? - Fotos: MEH

Natürlich passten beide gewerkschaftliche Aktionen voll ins Konzept des damaligen Oppositionsführers Viktor Orbán, der sich seiner Rückkehr an die Macht bereits sicher war. Als die Gyurcsany – Regierung wegen der lang anhaltenden Streikwelle den Gewerkschaften eine Verschärfung des Streikrechts auch nur anzudrohen wagte, reagierte Fidesz bereits aufgebracht gegen jeden Angriff auf gewachsene Arbeitnehmerrechte. Kaum an der Regierung schränkte die Zweidrittelmehrheit des Fidesz ohne konkreten Anlass und ohne jede Konsultation das Streikrecht im öffentlichen Sektor empfindlich ein. Betroffen davon ist gerade auch die Eisenbahngewerkschaft István Gaskós, der im nicht besonders streikfreudigen Ungarn noch am ehesten die Bereitschaft zu Arbeitskämpfen zugetraut wird.

Allein deshalb ist es abwegig, von einem abgekarteten Spiel zwischen Gaskó und Orbán gegen die vormalige Regierung zu sprechen. Die LIGA besteht seit ihrer Gründung nachdrücklich auf dem Grundsatz der absoluten Neutralität gegenüber Parteien und sie hat sich, so weit bekannt ist, als einziger ungarischer Gewerkschaftsbund schon von Mitgliedsorganisationen getrennt, die gegen diesen Grundsatz verstoßen haben – ein schwerwiegender Schritt, der ihr sicher nicht leicht gefallen sein dürfte.

Kampf um die Vorherrschaft innerhalb der Gewerkschaften

Schon einmal erlebte Gaskó in seinen heutigen gewerkschaftlichen Funktionen Viktor Orbán als Ministerpräsidenten. Während seiner ersten Regierungszeit (1998-2002) ging Orbán mit den Gewerkschaften ebenso respektlos um, wie er das heute erneut praktiziert. Niemand kann behaupten, dass Gaskó die angemessene Antwort auf die neuerliche Herausforderung der Gewerkschaften durch Viktor Orbán und seine Gefolgsleute schuldig geblieben wäre. Sein Anteil am ungarischen Engagement bei der Europäischen Manifestation der Gewerkschaften am 9. April in Budapest war für jeden, der sich genauer umschaute, überzeugend. In seiner Kritik an den für falsch gehaltenen Maßnahmen der Orbán-Regierung lässt der LIGA-Vorsitzende sich nicht erst seit dieser Großdemonstration von keinem der anderen Vertreter ungarischer Gewerkschaften überbieten. Es fällt also schwer, ihm nachzuweisen, dass er die rechtskonservative Regierung schonender und rücksichtsvoller behandelt als die früheren sozialliberalen oder sozialistischen Regierungen. Schon eher will er Herr im eigenen Reiche sein.

LIGA-Chef: "Nationale Kooperation" ist wischi-waschi

Den von Orbán so hochgejubelten nationalen Dialog nennt Gaskó einen „Wischi-Waschi-Dialog“. Wer wurde denn nach seiner Meinung gefragt, als die Regierung das Streikrecht einschränkte- die unmittelbar von diesen Entscheidungen Betroffenen jedenfalls nicht, meint der Gewerkschaftsführer. Ähnlich vehement wettert er gegen andere Maßnahmen des Autokraten Viktor Orbán, sei es die rückwirkend erhöhte Besteuerung von Abfindungen (siehe oben) oder die Entlastung der Arbeitgeber auf Kosten der Arbeitnehmer, die über erleichterte Kündigungsmöglichkeiten, geringere Abfindungen, geschmälerte oder ganz gestrichene Zuschläge für die Arbeit an Sonn- und Feiertagen und verkürzte Urlaubszeiten erreicht werden soll.

Wie alle größeren Ereignisse, über die spekuliert wird, haben auch die beiden Sondertreffen Orbáns mit den Chefs der LIGA und der Arbeiterräte ihre Vorgeschichte. Wenigstens die des Spitzengesprächs von Gaskó und Orbán ist nicht ganz unbekannt. Ende letzten Jahres schrieb der LIGA- Vorsitzende an den Ministerpräsidenten und forderte ihn auf, mit ihm über strittige Fragen zu verhandeln. Das Schreiben blieb unbeantwortet. Im Frühjahr begegneten sich die beiden in Brüssel und der EU- Ratspräsident Orbán fragte Gaskó im Vorbeigehen, was er denn hier suche. Der antwortete schlagfertig: Dich. Warum denn hier und nicht in Budapest,- so die nächste Frage Orbáns, auf die Gaskó wieder knapp erwiderte: Weil ich in Budapest keine Antwort bekommen habe. Darauf soll der Ministerpräsident vorgeschlagen haben, an Ort und Stelle einen Termin auszumachen. So geschah es denn auch.

Zwischen beiden Treffen gibt es allerdings einen bemerkenswerten, vielleicht nicht nur protokollarischen Unterschied. Während Viktor Orbán den Vorsitzenden der Arbeiterräte an seinem Amtssitz empfing, war er zwei Tage später geladener Gast im LIGA-Hauptquartier, der sehr repräsentativen ehemaligen schwedischen Botschaft, am Stadtwäldchen. Nicht weniger auffallend unterscheiden sich die beiden Gespräche auch in dem, was über ihren Ablauf und Inhalt offenbart wird. Die Arbeiterräte übernahmen die Erklärung von Orbáns Sprecher Péter Szijjártó. Danach waren sich die Gesprächspartner wohl in allen wesentlichen Fragen einig, kein Wort über abweichende Positionen. Das System der Interessenabstimmung müsse effizienter werden. Die Schaffung von Arbeitsplätzen sei eine Aufgabe von höchster Priorität. Und der erfolgreiche Kampf gegen die Staatsverschuldung liege im gemeinsamen Interesse. Wer könnte etwas gegen so allgemein gehaltene Forderungen haben. Ein „Heimspiel“ also für den Ministerpräsidenten.

Eisenbahner bleiben Drohkulisse

Lebhafter ging es demgegenüber zwischen Gaskó und Orbán zu.  Zwar wird die gute Gesprächsatmosphäre gewürdigt, aber zugleich auch auf strittige Fragen hingewiesen, die Regierung und LIGA- Gewerkschaften unterschiedlich beurteilen. Gaskó holte aus dem Ministerpräsidenten immerhin die Zusage heraus, dass er die Forderungen der Eisenbahner, die im Zusammenhang mit der MÁV Cargo – Privatisierung gestellt worden seien, für „berechtigt und realistisch“ halte. Weitere Verhandlungen darüber stellte Orbán in Aussicht, was Gaskó, der in Personalunion neben dem Dachverband LIGA auch die Freie Eisenbahnergewerkschaft (VDSzSz) führt, zweifellos als einen vorläufigen Erfolg verbuchen darf.

Rückkehr zur "Sozialpartnerschaft" notwendig

Zwar forderte Gaskó die Rückkehr zu einem Dialog im Sinne einer Sozialpartnerschaft, doch ist auch ihm nicht entgangen, dass die Arbeitgeber ihre großzügigen Steuergeschenke nicht über Verhandlungen im dreiseitigen Forum, sondern auf informellen Wegen bei der Regierung durchgesetzt haben. Wie eine Schwalbe noch keinen Sommer macht, so wird auch ein erstes offenes Gespräch keinen völlig neuen Stil im Umgang der Regierung mit den Gewerkschaften kreieren. Ankündigungen hat es gegeben, sichtbare Beweise fehlen aber noch. Die Begegnung mit Gaskó war aber für Orbán ein „Arbeitstreffen“ und nicht nur protokollarische Pflichtübung. Allein die Körpersprache vermittelt schon diesen Eindruck. Der Ministerpräsident tritt ohne Krawatte mit geöffneten Kragen und aufgekrempelten Hemdsärmeln zum Gespräch bei der LIGA an.

Die übrigen gewerkschaftlichen Konföderationen reagierten auf den Alleingang Gaskós bislang relativ reserviert. Ihr Hinweis, weiter auf dem gesetzlichen dreiseitigen Forum der Interessenabstimmung zu bestehen, enthält nur einen leisen Vorwurf. Alles andere wäre auch fehl am Platz, hat es doch früher bereits oft genug solche bilateralen Kontakte anderer Gewerkschaften zu sozialistisch geführten Regierungen gegeben, deren Ergebnisse sowohl für die Mitgliedschaft als auch für die Öffentlichkeit weitgehend intransparent blieben. Daran gemessen hat Gaskó geradezu detailliert informiert.

 

Außerdem hat er dem Ministerpräsident den gegenwärtig schlechten Zustand der Interessenabstimmung mit den Gewerkschaften nicht verschwiegen, sondern ausdrücklich von ihm gefordert, dem sozialen Dialog wieder mehr Gewicht zu geben. So sehr Gaskó auch die Rolle des Trendsetters unter Ungarns Gewerkschaften behagt, wird er die Interessen seiner ungarischen Partnergewerkschaften nicht aus dem Blick verlieren dürfen. Auch bei Gesprächen unter vier Augen mit dem Ministerpräsidenten nicht.

Rainer Girndt

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