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(c) Pester Lloyd / 23 - 2011  GESELLSCHAFT 06.06.2011

 

Einfalt und Dreifaltigkeit

Ungarns neuer Kniefall vor dem Klerus

Noch vor der Sommerpause will die ungarische Regierung ein neues Kirchengesetz mit einem "3-Klassen-System" ins Parlament einbringen, mit dem die Stellung der "anerkannten" Kirchen gestärkt und die Latte zur Erlangung dieses privilegierten Status´ höher gelegt wird. Klerikalisierung der Gesellschaft und pseudochristliche Frömmelei von Politikern sind Teil des neuen Windes, der in Ungarn weht, dabei ist das Volk alles andere als besonders religiös. Mehr "Nächstenliebe" und "Barmherzigkeit" haben freilich noch keinem geschadet.

Familie Orbán beim Papst im Vatikan, April 2011.

Dass sich die herausragende Stellung, die das Christentum in der neuen ungarischen Verfassung einnimmt, auch im täglichen Leben und im Verhältnis Kirche-Staat niederschlagen wird, ist an vielen kleinen Gesten und praktischen Veränderungen erkennbar. Mit Vizepremier und KDNP-Chef Zsolt Semjén hat die organisierte Christenheit in Ungarn sozusagen ihren Stellvertreter auf Erden, da Semjén fast jede politische Handlung oder Forderung aus dem Glauben bzw. der christlichen Religion heraus begründet, wenn auch eher plakativ als sonderlich reflektiert. Auch Präsident Schmitt, Parlamentspräsident Kövér, Premier Orbán frömmeln um die Wette, religiöse Schowauftritte - vor allem vor laufenden Kameras - ist heute wieder wichtiger Teil des Regierungsmarketings, angefangen von Segnungen von Heiligenstatuen in "Trianonland" bis hin zu pompösen Auftritten im Vatikan und den in aller Öffentlichkeit ausgebreiteten “Privatudienzen” beim Papst. Der rumänische Europaabgeordnete und reformierte Pfarrer László Tökés repräsentiert als inoffizielles Oberhaupt der Székler diese klerikal-nationalistische Linie auch außerhalb der heutigen Landesgrenzen.

Krone, Kreuz, Nation - das Gerüst des neuen Ungarns?

Die Kirchen in Ungarn werden Stück für Stück wieder in jene Funktionen eingesetzt, die sie einst von einer Volksbewegung zu einem Machtinstrument werden - oder wie immer man will - pervertieren ließen, eine Säule der Macht in einem möglichst unverrückbar ständisch organisierten Staat. Am heftigsten verzettelte sich der Staatspräsident in diesem Wechselspiel aus Machtpolitik und Gefühlsduselei, als er öffentliche darzulegen versuchte, warum das Ungarntum samt seiner heutigen Regierung quasi von Gott gesandt sei. Die Offenbarungen des Apostels Pál amüsierten zumindest die Hälfte des Landes. Seine Beweiskette: Stephan der Heilige war vom Papst legitimiert, der wiederum von Gott legitimiert ist. Die "Länder der Krone" waren somit Gottes eigenes Land. Die Fidesz-Regierung wiederum sieht sich als Verteidiger dieses "ganzen Ungarntums", ist daher letztlich auch von Gott ermächtigt. Kein Witz.

Papst Johannes Paul II. erhielt zu seinen Ehren, er hat nach heutiger, offizieller Lehrmeinung praktisch im Alleingang den Kommunismus besiegt, den Platz der Republik übereignet, - Krone, Kreuz und Nation bilden die Dreifaltigkeit des "neuen" Ungarns, des ganzen Ungarns, also auch des alten. Am gerade stattgefundenen Trianon-Gedenktag (4. Juni) der "nationalen Einheit" waren diese Konstruktionen wieder allerorten sichtbar, umrahmt von einem Geschichtsbild, das an Falschheit und Einfalt keine Wünsche offen lässt.

Kirche und Staat getrennt, Kirche und Gesellschaft vereint

Als Grundoktrin formulierte Vizepremier Zsolt Semjén auf einer EU-Konferenz in Gödöllö in der Vorwoche, dass "zwar die Trennung von Kirche und Staat erhalten bleiben" soll, "die Verbindung zwischen Kirchen und Gesellschaft jedoch vertieft werden müssen, da die Religion das traditionelle Wertemodell, auf dem die Gesellschaften fußen, repräsentiert." Diese Aussage passt in die Tendenz des Konservativismus, den Menschen permanent einzureden, dass nur die Besinnung auf "christliche Werte" Ordnung im sich stetig steigernden Chaos bietet. Dass dieses Chaos vielleicht gerade in dieser "Ordnung" begründet sein kann, gilt es zu vernebeln, ein seit tausenden Jahren beachtlich gut funktionierender Trick. Dabei ist das Christentum an sich kein Wert, die von ihm vertretenen Werte aber sind - so sie keinen direkten Bezug zu höheren Mächten behaupten - jedoch allgemein menschlich, universell, nicht konfessionell.

Der Präsident der Republik Ungarn küsst dem Oberhaupt der römisch
ausgerichteten Katholiken den Petrus-Ring. Vor wenigen Tagen.

Wahrscheinliche Freiheiten???

Der Staat - dies soll zentraler Teil des neuen Kirchengesetzes werden - "werde kein Recht haben, irgendeine Insititution zu errichten, die die Kirchen kontrollieren oder beaufsichtigen kann", so Staatssekretär László Szászfalvi bei der EU-Konferenz in Gödöllö. Der Kirchenstaatssekretär nannte jedoch keinen stichhaltigen Grund, warum der Staat bei den Kirchen so großzügig auf eine Kontrollbehörde und somit einen Teil seiner hoheitlichen Rechte verzichten will, sondern erklärte: „Die Religionsfreiheit ist das Lakmuspapier für die Menschenrechte, wo sie vorhanden ist, dort kommen wahrscheinlich (sic!) auch die weiteren Elemente der Menschenrechte zur Geltung“. Auch für diese These lieferte der ehemalige MDF-Politiker, der erst zum Fidesz, 2006 zur fundamental-christlichen KDNP "wechselte", keinerlei schlüssige Erklärung, denn genau das gleiche könnte man auch über die Meinungsfreiheit (als die Religionsfreiheit einschließend) sagen, eine Kontrollbehörde mit geradezu inquisitorischen Möglichkeiten erlaubt sich der Staat da aber doch.

In sich ist das Gerede der Kirchenpolitiker ein ziemlich wirrer Kniefall vor dem Klerus, denn auch wenn der Staat keine "Institution" über die Kirchen stellen will, so gibt es eben doch ein Gesetz dazu, was Kontrolle und Aufsicht einschließt. Das ist schon ein Dilemma, die Vertreter des Allmächtigen gewähren zu lassen, wenn man selbst die Allmacht im Auge hat.

 

Schwammige Definitionen, was Kirche ist, was nicht

Wie Religionen und Nationen, definiert sich auch das Kirchenrecht zukünftig über Zugehörigkeit und Ausschluss. Wer als Kirche gelten will, muss sich "vorwiegend mit religiöser Tätigkeit" befassen, "Lobbying, psychologische oder parapsychologische Dienstleistungen, medizinische und geschäftliche Unternehmungen" werden nicht als religiöse Tätigkeiten definiert werden, so Szászfalvi, der ruhig hätte erklären können, als was er eine Beichte oder einen Gottesdienst denn zu bezeichnen gedenkt, wenn nicht als parapsychologische Dienstleistung. "Pflegedienste, Bildungsangebote, Wohltätigkeit, Familien- und Jugendschutzangebote, kulturelle, sportliche und umweltschützende Aktivitäten" müssten derweil an "religiöse Inhalte gekoppelt" sein, wenn sie von Kirchen ausgeübt werden. Weitere Hürden für die Anerkennung: wenigstens 20 Jahre im Lande aktiv, mindestens 1000 Mitglieder, das Vorliegen von einem Gründungsdokument und einer Satzung, die Wahl von Offiziellen (was bei konsequenter Auslegung u.a. die Katholiken wohl vor ein Problem stellen würde) und die Vereinbarkeit der religiösen Ziele mit der Verfassung...

Kirchen der 1., 2. und 3. Klasse

Zukünftig wird es drei Kategorien von staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften, resp. "Kirchen" geben: neun Religionsgemeinschaften werden danach als "historische Kirchen" Ungarns definiert werden, "die wesentlichen Einfluss auf Geschichte und Kultur Ungarns" ausgeübt haben. Das sind die römisch-katholische Kirche, die Reformierten, Lutheraner, Judentum, Orthodoxie (in fünf Ausprägungen), Baptisten, Methodisten, die Pfingstbewegung sowie die Unitaristen. Eine weitere Kategorie wird für die "neuen protestantischen Kirchen" geschaffen, dabei auch die in Ungarn recht stark vertretene "Faith Church", eine Varainte der ziemlich hysterischen Pfingstler, sie werden als "vom Parlament anerkannte Religionsgemeinschaften" definiert, die letzte Gruppe werden "Kirchen, mit wahrnehmbaren öffentlichen Aktivitäten, die eine Vereinbarung mit der Regierung schließen können.", die Holzklasse sozusagen.

Nach den bisher vorliegenden Informationen sind mit dem neuen Gesetz sowohl Muslime, als auch z.B. Hindus, Buddhisten von der Anerkennung als Kirchen ersten oder zweiten "Ranges" ausgeschlossen, wiewohl erstere durchaus einen zumindest geographisch-historisch diskutierbaren Anspruch auf die erste Kategorie, alle weiteren genannten einen auf die zweite Kategorie hätten. So wird ihnen ein Dasein als Verein mit anerkannt religiösen Ambitionen bleiben, aus säkularer Sicht begrüßenswert, aus Sicht der religiösen Toleranz und Gleichbehandlung der Kulturen ein eindeutiger Rückschritt. Zwar genießen die "historischen" Kirchen auch in anderen westlichen Ländern deutliche Privilegien, eine derartige Herabstufung nichtchristlicher Religionen (außer der jüdischen quasi als dem Mutterboden des "wahren" Glaubens) gibt es aber in dieser Strukturiertheit im Westen nicht.

Die Freiheit der Anderen

Mit dem neuen Kirchengesetz erfolgt die weitere Aufwertung der christlichen Kirchen als natürlichem Machtpartner, quasi außerparlamentarischem Koalitionspartner der Regierungspartei Fidesz-KDNP. Diese stüzt sich nicht nur bei jeder passenden wie unpassenden Gelegenheit, z.B. in der Verfassung auf das Christentum als Basis und Leitkultur der Nation, sondern priviligiert die Vertreter der Kirchen auch im Tagesgeschäft. So wurden gleich nach dem Machtwechsel die gesetzlichen Voraussetzungen dafür geschaffen, die Kirchen z.B. als Schulträger bei der staatlichen Förderung mit den Kommunen gleichzustellen. Dies verlockt immer mehr Bürgermeister mit ihren klammen Stadtkassen die Trägerschaft an die Kirchen zu übergeben, viele qualifizierte Lehrer verlassen daraufhin die Branche, aber auch die Kirche kommt in organisatorische Nöte.

Durch dieser Übergabe staatlicher Verantwortung und Fürsorgepflicht in Kirchenhände findet der eigentliche zentrale Sündenfall statt, denn die Übernahme der womöglich einzigen Schule in einem Ort, stellt atheistische oder nichtchristliche Eltern oder Eltern, die einfach nur eine ideologiefreie Zone als ihren Kindern gemäß wünschen, mitunter vor ein echtes Problem. Zwar bilden die Kirchen in "ihren" Schulen auch nach staatlichen genehmigten Lehrplänen aus, doch das christliche Ambiente, Gebete in Klassenzimmern, die Betonung bestimmter Inhalte und die Deutungshoheit christlich geprägter Lehrkörper mitsamt deren disziplinären Dogmen, ist ein Einschnitt in die Freiheit Andersdenkender und -gläubiger, wenn sie nicht den Aufwand eines Schulbesuches in einer anderen Stadt und damit eine Entfernung von der Gemeinschaft auf sich nehmen wollen. Aus Bequemlichkeit oder Angst vor Stigmatisierung der Kinder überantworten die Eltern dann ihren Nachwuchs einer ideologisch ausgerichteten Schule, - eben weil man praktisch keine Wahl hat. Das war auch in der Kádárzeit nicht anders.

Auch "Wohltätigkeit" wird als zentrale Aufgabe den Kirchen übergeben, so kündigte man die Verträge mit einem Dutzend Vereinen, die sich um Obdachlose kümmern und verbot den Hare Krishnas den Betrieb ihrer seit zwanzig Jahre laufenden Suppenküche an einem zentralen Platze. Die Fonds werden umgewidmet, christliche Einrichtungen, Vertreter der Leitkultur, bevorzugt.

Nächstenliebe ist kein Kirchenmonopol

Nach den langwierigen, aber im Sinne der Kirche weitgehend erfolgreichen Rückübertragungen und Entschädigungen für die Verfolgungen während der stalinistischen Ära, war das Verhältnis Kirche-Staat höflich bis distanziert, also wie es sein sollte. Denn die Ungarn sind nicht besonders religös, man schätzt, mehr als drei Viertel der "Katholiken" gehen so gut wie nie zu einem Gottesdienst, bei den Refomierten ist dieser Anteil unwesentlich Geringer.

Was die Werte betrifft, so hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass weder "Nächstenliebe" noch "Barmherzigkeit" auch nur im Ansatz Erfindungen oder Monopole des Christentums sind. Sie sind Teil jener Empathie, die den Menschen machte, lange bevor die Mär von Jesus und seinen Jüngern in die Welt kam. Schließlich gibt es auch in Ungarn Priester, die Neonazis in Uniform segnen.

 

Woraus auch immer der Einzelne seine Hoffnungen, seinen Trost, seine Stärke ziehen will, es stand ihm frei, dies wird auch in Ungarn so bleiben, Kirchengesetze hin oder her. Doch bisher fuhren die Europäer mit der relativ sanktionierten Einflussnahme der Kirchen auf die Grundrichtungen und -aufgaben des Staates dabei recht gut. Diese Beschränkungen, Teil des freiheitlichen Rechtsstaates, der eben auch die (relative) Freiheit von religiöser Einflussnahme zu gewähren hat, wird in Ungarn, zu Gunsten einer Glaubensrichtung und somit auf Kosten der Freiheit ausgehebelt.

M.S.

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