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(c) Pester Lloyd / 25 - 2011  POLITIK 21.06.2011

 

Kardinalsfragen

Kritik an Verfassung "ideologische Attacke auf Ungarn"

Nicht sehr überraschend hat Ungarn die Kritikpunkte der Venedig-Kommission zur ungarischen Verfassung harsch zurückgewiesen, wohl auch, weil die Kommission der Regierungspartei haarklein all jene Sünden aufschlüsselte, die ohnehin im Raum stehen und die eines Tages auf sie selbst zurückfallen werden. Doch diese Regierung verweigert jede Diskussion auf internationaler Ebene, auf nationaler sowieso.

So sehen die Kritiker die “Új Alkotmány”, die neue Verfassung, nicht als Fundament und Selbstvergewisserung einer Republik, sondern - zumindest in Teilen - als einen Stacheldrahtzaun der Machthaber um die Gesellschaft

Was weiß man schon in Venedig...

József Szájer (Foto), Europaparlamentarier und einer der Fidesz-Politiker, die maßgeblich an der Ausarbeitung des neuen Grundgesetzes beteiligt waren, bediente sich in seiner Replik des heute üblichen Musters, das von einer "ideologischen Attacke auf die ungarische Verfassung" ausgeht. Die Mühe der Auseinandersetzung mit den "Feinden Ungarns", meist frustrierte Sozis, macht man sich längst nicht mehr. Außerdem hätten diejenigen, die den Bericht verfassten weder Ahnung von dem Verfassungstext selbst (!), noch von dem gesetzlichen Umfeld in Ungarn, daher seien diese "Missverständnisse" und "Fehlinterpretationen" entstanden. Vielleicht sind sie auch dadurch entstanden, dass die Kommission “Übersetzungsfehler” bzw. diverse Auslassungen in der englischen Übersetzung ausmachte. Zudem, so die ungarische Seite, hätte man Dinge als fehlend kritisiert, die auch in anderen Verfassungen nicht vorhanden sind. - Die Ausländer sind also weder bei Verstand, noch bei gutem Willen, der innenpolitische Diskussionsstandard bei Repliken der Regierung auf jegliche Kritik wird so auf die internationale Bühne getragen. Auch die Webseite der ungarischen Delegation im Europäischen Parlament trieft von solcherart inhaltsleerer Selbstverteidigung und dem steten kindergartigen Fingerzeig auf “die Anderen”.

Einen echten Dialog hat es nie gegeben, er war auch nicht erwünscht

Dabei kritisierte die Kommission, eine nach der Wende geschaffene Einrichtung des Europarates zur Begleitung von verfassungsgebenden Prozessen vornehmlich in Osteuropa, die Inhalte eher zurückhaltend, dafür aber sehr begründet, vor allem aber geht es im Bericht um die Art und Weise der Entstehung der neuen Verfassung:

Die Erstellung des Entwurfes war intransparent, ein echter Dialog zwischen Regierungsparteien und Opposition fand nicht statt, auch seien keine Bedingungen geschaffen worden, um einen fairen Austausch zwischen den Sozialpartnern zu ermöglichen, außerdem wurde ein unnötiger Zeitdruck konstruiert. Das sind Tatsachen, die jeder Zeitungsleser beobachten konnte. Die Opposition schied aus der zuständigen parlamentarischen Kommission aus, weil sie nicht Teil einer "Demokratieshow" werden wollte, was die Regierungspartei als "Verrat an ihren Wählern" umkehrte. Das Fidesz hat seine verfassungsändernde Mehrheit genutzt, um eine Verfassung für sich selbst, weniger für das Land zu kreieren, behauptet aber genau das Gegenteil. Zudem genügte ihr der Umstand der zwei Drittel-Mehrheit der Mandate im Parlament als Ermächtigung dafür, allein über das wichtigste Dokument des Landes zu verfügen. Die Venedig-Kommission merkt hier an, dass die Nichtigerklärung der Vorgängerverfassung und der schwammige Bezug auf die Errungenschaften der “historischen Verfassung” nicht nur eine etwas wirre Interpretation darstellt, sondern schlimmstenfalls die gesamte Rechtsprechung der Verfassungsgerichte seit 1989 anullieren könnte, was dramatische Folgen für die Rechtspraxis im Lande haben müsste.

Tagespolitik gehört nicht in die Verfassung - Grundrechtsgarantien schon

Inhaltlich ist man mit der Darstellung von europäischen Grundwerten und der Verankerung einer parlamentarischen Demokratie ganz zufrieden, merkt aber an, dass von einzelnen Gruppen gewünschte Standards zur "Kultur, Religion, Moral, Sozio-Ökonomie und Finanzpolitik nicht in ein Grundgesetz zementiert gehören". Doch gerade hier sehen wir, welche Funktion das Fidesz der Verfassung zuordnet. Sogenannte Kardinalsgesetze, 32 an der Zahl, sollen eine bestimmte Politikrichtung bis hinein in die Tagespolitik festschreiben, bis hin zum Steuersatz. Somit soll der Einfluss des Fidesz auch über einen theoretisch denkbaren Mehrheitsverlust erhalten werden, Nachfolgern wird die politische Gestaltung nicht nur erschwert, sondern verunmöglicht. Doch auch das Fidesz macht sich das Leben schwer, denn einmal wird diese Partei auch ohne 2/3-Mehrheit regieren müssen und wollen, braucht dann aber stets die Hilfe der Opposition um einfache Gesetze ändern zu können, die man zuvor in die Untiefen der Verfassung eingemauert hatte. In gewisser Weise verbarrikadiert die Verfassung die Demokratie und wertet das Ergebnis zukünftiger Wahlen als dem Grundelement von Demokratie und der wichtigsten Manifestation des Souveräns ab, so die Kommission in unmissverständlicher Deutlichkeit.

Staatspräsident Pál Schmitt unterzeichnete die neue Verfassung, wie man ihm gebot, ohne Bedenken. Damit kann sie am 1. Januar 2012 in Kraft treten.

Auch sei die Limitierung der Kompetenzen des Verfassungsgerichtes ein Schritt in die falsche Richtung, sagt die Vendig-Kommission, hier wird "Bedenken über den möglichen Einfluss auf das Funktionieren von Demokratie" geäußert, was nur beim ersten lesen zurückhaltend formuliert klingt, schließlich stellt die Kommission damit heraus, dass die Macher dieser Verfassung womöglich eine Einschränkung demokratischer Mechanismen im Sinne hatten. Wohl zu viel Pester Lloyd gelesen. Ein Passus, der eine lebenslange Gefängnisstrafe ohne Bewährungsmöglichkeiten vorsieht, könnte mit internationalen Rechtsstandards kollidieren, denen Ungarn über Verträge verpflichtet ist. Außerdem sei es entscheidend, die wichtigsten Garantien für die Grundrechte in der Verfassung zu verankern und nicht auf untergeordnete Gesetze zu delegieren. Wohlgemerkt nicht die Grundrechte selbst, denn die sind benannt, wohl aber die Garantien dafür, daran mangelt es sichtbar. Das Geschacher um die Ombudsleute ist ein beredtes Beispiel dafür.

Die Venedig-Kommission empfiehlt der ungarischen Regierung zudem, ein paar "potentiell problematische Äußerungen in der Präambel" zu "klären", so könnte die Formel zum Schutz der Rechte von Ungarn im Ausland die zwischenstaatlichen Beziehungen belasten. An dieser Äußerung sieht man, dass Fidesz-Mann Szájer recht hat, wenn er die Kommission der Unkenntnis zeiht. Schließlich sind die Beziehungen zu den Nachbarn schon derart belastet, dass ein weiterer dummer Satz in der Verfassung auch nichts mehr schlimmer machen kann. Hinsichtlich des Gefrömmels um Christentum und Krone mochte sich die Kommission Kritik ersparen, weil von dem "Glaubensbekenntnis" zunächst kein normatives Recht berührt wird, schaler Geschmack ist schließlich kein Bewertungskriterium. Ob das damit getan sein wird, ist stark zu bezweifeln, immerhin wird in der Präambel die Nation definiert, über Auschluss von Gruppen, die mit hineingehörten und Einschluss von Gruppen, die außerhalb der Landesgrenzen liegen. Darauf kann man sich bei der Abfassung von Gesetzen jederzeit berufen und diese so gegenüber Einsprüchen des Verfassungsgerichtes sozusagen impfen.

Rechtliche oder andere Konsequenzen hat der Bericht der Kommission erstmal nicht, Ungarn wird sich lediglich bei einer der kommenden Sitzungen des Europarates nochmals die Kritikpunkte vorhalten lassen müssen, um sie wieder auf die oben genannte galante Art von sich zu weisen und festzuhalten, dass man - wie schon immer - nur von Feinden umgeben ist.

Alles weitere dazu finden Sie auf unserer Themenseite zur Verfassung

red.

 

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