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(c) Pester Lloyd / 28 - 2011  POLITIK 12.07.2011

 

Überhitzte Legislative

Neue Gesetze am Fließband vor der Sommerpause in Ungarn

In der Budapester Rekordhitze hat das ungarische Parlament am Montag eine Reihe sogenannter Kardinalsgesetze verabschiedet, deren Änderung hinfort einer Zweidrittelmehrheit bedarf und die den Vorgaben der neuen Verfassung zur gesetzlichen Neudefinition fast aller Lebensbereiche folgen. Vor allem das neue Arbeitslosen- und Beschäftigungsgesetz sorgt für jede Menge Unmut auf verschiedenen Seiten. Die Ängste reichen von Entrechtung, über staatliches Lohndumping bis hin zu Zwangsarbeitslagern. Weitere wichtige und kuriose Gesetze sowie eine lustige Fragestunde beschließen die Parlamentssaison in dem mehrfach überhitzten Lande.

Den Arm ein bisschen höher, fertig ist die neue Lenin-Statue... Premier Orbán weist den Weg, hier am 11. Juli im Parlament, Fotos: fidesz.hu

Hunderttausende staatliche Frohnarbeiter?

Alle Regierungs- bzw. Fidesz-Fraktionsvorlagen gingen, wie stets, mit der Mehrheit von Fidesz-KDNP durchs Hohe Haus. Den wohl tiefgreifendsten Eingriff in die Lebensumstände des Volkes, vor allem des unteren Drittels, dürften die Änderungen bei der Arbeitslosenversicherung nach sich ziehen. Die maximale Dauer der Auszahlung von Arbeitslosengeld wird von bisher 270 auf 90 Tage gesenkt, die Obergrenze wird von 120% des gesetzlichen Mindestlohnes auf 100% abgesenkt. Damit will die Regierung jährlich um 43 Milliarden Forint (ca. 160 Mio. EUR) einsparen. Außerdem wird denjenigen, die öffentliche Arbeits- bzw. Beschäftigungsangebote ablehnen mit dem "Verlust der finanziellen Unterstützung" gedroht.

Dabei wird der Kreis des "Zumutbaren" bedeutend ausgedehnt, auch mehrtägige Aufenthalte fern von Daheim, die Unterbringung in provisorischen Containerstädten, Arbeit weit unter der Qualifikation, gelten dann als angemessen. Als Entschuldigung wird nur die eigene Krankheit oder die von Kleinkindern akzeptiert, wenn es für diese keine andere Betreuungsmöglichkeit gibt. Die "Entlohnung" wird nur einen kleinen Aufschlag auf die Sozialhilfe ausmachen, dafür wird extra das Tarifrecht geändert, damit der gesetzliche Mindestlohn in "diesen besonderen Fällen", die jedoch bis zu 300.000 Menschen betreffen könnten, unterlaufen werden kann.

Arbeits-Kolonnen von bewachten Roma in Containerstädten?

Diese Initiative, die unter dem Motto "Arbeit statt Sozialhilfe" läuft, stößt bei Gewerkschaften, Bürgerrechtlern, Romaverbänden, aber auch bei der Wirtschaft selbst auf einige Skepsis. Es ist zu fürchten, dass durch die spezifische Lage der Roma vor allem die Vertreter der größten ethnischen Minderheit in Ungarn mit der "Zwangsarbeit" konfrontiert werden. Verwundert nahm man dabei zur Kenntnis, dass das für die Polizei zuständige Innenministerium mit der Organisation und Durchsetzung dieser Maßnahmen der “öffentlichen Arbeitsprogramme” betraut wurde. Innenminister Pintér sagte öffentlich, dass "pensionierte Polizisten genau die richtige Qualifikation für diese Aufgaben" hätten, worin manche bereits das Bild von durch Alt-Polizisten bewachten Zwangsarbeiterkolonnen heraufziehen sehen.

Beschwichtiger sagen, dass es im Gesetz keine Anhaltspunkte für ein solches Vorgehen gibt und die Befürchtungen übertrieben sind und - natürlich - ideologischer Verblendung entstammen. Dabei übersehen die Lobhudler dieser Regierung, müsste der Staat selbstverständlich derartige "Zigeuner-Arbeiterlager" von Polizei oder Sicherheitsdiensten bewachen lassen, schon mit Rücksicht auf die von denkbar frustrierten, dann womöglich marodierenden Roma gefährdete Mehrheitsbevölkerung, die sonst wieder in Scharen zu den Neonazis der selbsternannten "Bürgerwehren" und der Jobbik strömt. So kommt eines zum anderen, schöner wird es dadurch nicht.

Kein Arbeits-, nur ein Beschäftigungsprogramm

Die Gewerkschaften fürchten durch die Aushebelung von Arbeitsrechten eine weitere Verelendung der unteren Einkommensschichten und das enstehen eines dauerhaften, vom Staat noch beförderten Prekariats, denn die Beschäftigungsprogramme haben keinerlei Ausbildungsziel oder bieten sonst irgendwelche Perspektiven. Die "1-Forint-Jobber" hätten zudem weder Betriebsräte noch gewerkschaftlichen Schutz. Die Orbán-Regierung hat ein KMU-Hilfsprogramm mit Lohnzuschüssen für neu geschaffene Arbeitspläze aufgelegt, das jedoch nur geringe Wirkung entfaltet und bisher rund 1000 Arbeitsplätze entstehen ließ sowie ein ehreizig klingendes Qualifizierungsprogramm für Roma angekündigt, bei dem bisher jedoch noch viele Details offen ließ, wie immer, stehen nur die Zielgrößen fest.

Auch hier mutmaßt man, wegen fachlicher und ökonomischer Verlegenheiten, dass es sich mehr um PR-wirksame Aufsichts- und Beschäftigungsprogramme handeln wird. Die Anlage des Gesetzes gibt einen Hinweis darauf, dass die Orbán-Regierung die Roma in ihrer Gesamtheit aufgegeben hat. Ein ganzheitlicher, gleichberechtigender und gleich verpflichtender Ansatz ist nicht vorhanden. Es geht nur um die möglichst effiziente und budgetschonende Beaufsichtigung einer der Verwahrlosung anheimgegebenen Bevölkerungsschicht. Mehr dazu hier.

Der Blick auf die Abstimmungstafel im Parlament erübrigt sich bis mindestens 2014. Die neue “Einheitspartei” von Fidesz-KDNP sorgt für klare Verhältnisse

Orbán-Regierung hat eine eigene Sicht von der Rolle des Staates

Die Regierung Orbán hat den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit als das zentrale Thema zur Gesundung Ungarns definiert, weil es auch das zentrale Problem ist (Beschäftigungsquote 54%), schafft aber durch dieses Programm keine Arbeit, nur Betätigung und führt, denkt man das obige Programm zu Ende, den Frohndienst wieder ein. Denn die Arbeitslosenversicherung wurde von den Beitragszahlern auf die alten Ansprüche eingezahlt, zudem ist die Gewährung der Existenzgrundlage Staatspflicht, auch wenn lästig und teuer. Sie abzubauen, funktioniert nur über strukturellen Wandel und daraus folgendes Wachstum, nicht jedoch über Rechteabbau und Fürsorgeverweigerung, Maßnahmen die wir aus anderen, überwunden geglaubten Gesellschaftssystemen kennen.

Wirtschaft hat Angst vor konkurrenzloser Billiglohnarmee

Die Wirtschaft sieht durch diese neue, unschlagbar billige Konkurrenz Probleme, z.B. in der ohnehin schon angeschlagenen Bauwirtschaft, aber auch in der Landwirtschaft, bei der weitere Jobs entfallen könnten, was kaum im Sinne des Erfinders sein kann. Zu diesem Heer von arbeitenden Sozialhilfeempfängern werden bald einige Zigtausend dann ehemalige Frührenter stoßen, die zu Sozialhilfeempfängern umdeklariert werden. Während Unternehmen - ebenfalls durch ein neues Gesetz - auf der einen Seite empfindliche Strafen, mitunter der Ausschluss von öffentlichen Aufträgen droht, wenn sie die Gehälter von wenigstens zwei Dritteln der unteren Einkommensbezieher nicht "freiwillig" auf jenes Niveau anheben, bei dem die neue Flat tax positiv greift (also ab 300.000 HUF), erlaubt sich der Staat eigene Gehaltsstrukturen und eigene Standards. Dabei hat der Staat durch die übereilte Einführung der Flat tax und gleichzeitige zeitweise Beibehaltung des Superbrutto Unternehmen und die Mehrheit der Lohnempfänger überhaupt erst in diese Schwierigkeiten gebracht.

Wehrgesetz hält Wehrpflicht offen

Als weiteres Kardinalsgesetz ging am Montag auch das neue Verteidigungsgesetz durchs Parlament, mit 295 gegen 46 Stimmen, womit auch Oppositionspolitiker mit der Regierung stimmten. Im Gesetz werden die Aufgaben und Kompetenzen der Armee definiert, einschließlich "außerordentlicher Situationen". Behandelt werden auch die Aufgabe der freiwilligen Reserve, die Wiedereinführung von zivilem Ersatzdienst, richtiger: nichtbewaffnetem Militärdienst sowie die Definition der Wehrtüchtigkeit, die auf gesunde Männer zwischen 18 und 40 Jahren festgelegt wurde, Männer mit drei Kindern unter 18 sind auch vom Wehrdienst ausgenommen. Die Wehrpflicht in Ungarn bleibt derzeit noch ausgesetzt, kann aber jederzeit durch Parlamentsbeschluss, im Verteidigungsfall auch durch Regierungsdekret aktiviert werden.

 

"Ständige" Strategische Notreserve fast aufgelöst

Die Regierungsparteien beschlossen außerdem eine Änderung am Haushaltsgesetz von 2011 und entzogen dem kürzlich erst geschaffenen Stabilitätsfonds von 250 Mrd. Forint (900 Mio. EUR) 181 Mrd. Eigentlich war der Fonds dauerhaft als Notreserve gegen globale, finanzmarkttechnische Unbill gedacht, doch Wirtschaftsminister Matolcsy meinte nun, man könne die Gelder freigeben, weil die Ausgaben zurückgingen und die Einnahmen stiegen (was jedenfalls bei den Steuern eigentlich nicht der Fall ist). Die freigewordenen Gelder könnten u.a. für den Kauf der MOL-Aktien von Surgut verwendet werden, um eine Belastung des Budgets zu minimieren, der Fonds ist nämlich längst ausgebucht, da man dessen Mittel durch Haushaltssperren in den Ressorts lukrierte, also keine neuen Mittel aufwenden musste.

Hamburger-Steuer, Hooligangesetz, Kirchengesetz, Umbau Kossuth Platz

Ebenfalls am Montag ging das Gesetz über die Hamburger-Steuer, das neue Kirchengesetz sowie ein Anti-Hooligangesetz durchs Parlament. Weiterhin wurde die Renovierung und der Umbau des Kossuth-Platzes vor dem Parlament beschlossen, einschließlich der Delogierung der Büros der Regierung aus dem Parlament. Abgelehnt wurden Anträge der neofaschistischen Jobbik auf Entfernung des Sowjetdenkmals vom Freiheitsplatz und einer Statue des Grafen Mihály Károlyi des ersten Präsidenten einer ungarischen Republik 1918.

Unangenehme Fragen werden nicht beantwortet

Regierungschef Orbán musste sich außerdem noch einiger Anfragen erwehren, wobei man auf beiden Seiten die Auswirkungen der Hitzewelle spürte: so wunderte sich die MSZP-Fraktion über massive Auftragsvergaben an die "ehemalige" Sicherheitsfirma des heutigen Innenministers Sándor Pintér, die Aufträge von den Budapester Bädern und der Nationalen Vermögensverwaltung in Milliardenhöhe erhalten hat, obwohl sie das teuerste Angebot vorlegte. Orbán kommentierte diese Anfrage knapp mit den Worten: "Sozialisten sollten nicht im Interesse von Wirtschaftsgruppen sprechen...".

Die Jobbik bombardierte den Premier einmal mehr mit Anfragen, ob er nun endlich einsieht, dass es in Ungarn "Zigeunerkriminalität" gibt und er die Gefahr einer "ethnischen Erruption" erkennt. Orbán: die Romafrage ist ein Problem wie jedes andere. Ein anderer Jobbik-Mann macht sich Sorgen, ob es einen Plan gibt, die multinationalen Konzerne auch nach auslaufen der Krisensteuern zur Kasse zu bitten, Orbán: darüber reden wir bei der Debatte über das Budget 2013. Die LMP interessierte sich dafür, wann nun endlich die angekündigten individuellen Rentenkontos der Beitragszahler eingeführt werden und welches System, bzw. welche Fonds sicherstellen, dass die Renten später einen "akzeptablen" Lebensstandard garantieren. Orbán: man werde die Renten nur aus dem Rentenfonds bezahlen, alles weitere folgt...

red.

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