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(c) Pester Lloyd / 34 - 2011  GESELLSCHAFT 22.08.2011

 

Der Untertanenstaat

Orbáns schöne neue Arbeitswelt in Ungarn

Die Rezepturen des Viktor Orbán für ein „neues Ungarn“ führen direkt in den Untertanenstaat, fürchten die Gewerkschaften, aber nicht nur die. Ein entrechtendes Arbeitsrecht, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Gulag-Stil sowie die systematische Entmachtung der Gewerkschaften samt Aushöhlung des Streikrechts werden zu gefährlichen gesellschaftlichen Spannungen führen. Der Druck, den Orbán auf die Arbeitnehmervertreter ausübt, hat aber etwas Gutes: er könnte sie endlich einen. - Ein Lagebericht.

Wirklich entspannt dürfte in diesem Jahr kein führender ungarischer Gewerkschafter in die Sommerfrische gefahren sein. Das sonst übliche Sommerloch füllte diesmal die rechtskonservative Regierung mit 294 Paragraphen auf 193 Seiten ihres Entwurfs für ein neues Arbeitsgesetzbuch aus, deren Lektüre jede Urlaubsfreude vermiesen konnte. Noch dazu blieb den Interessenvertretungen nicht viel Zeit, die harte Kost zu verdauen. Binnen weniger Tage erwartete die „Regierung der nationalen Konsultation“ von ihnen eine Stellungnahme zur geplanten Modifizierung des Arbeitsrechts, noch dazu in schriftlicher Form. Wieder einmal konnten sich die sechs gewerkschaftlichen Konföderationen nicht dazu aufraffen, eine gemeinsame Position zu dem umstrittenen Gesetzesvorhaben zu formulieren. Aber wenigstens sind sie in der Ablehnung des Gesetzentwurfs einig. Inhaltlich weisen darum auch die beiden getrennten Stellungnahmen der vier „alten“ und der zwei „neuen“ Gewerkschaftsbünde keine gewichtigen Unterschiede auf.

„Die Schwächung der Gewerkschaften ist bewusste Absicht. Nicht von Seiten der Experten, sondern der Politik“. So urteilt nicht etwa ein Gewerkschaftsführer über das neue Arbeitsgesetzbuch, sondern László Herczog, ein anerkannter Experte ungarischer Arbeitsbeziehungen, deren Entwicklung er über zwei Jahrzehnte im Arbeitsministerium unter wechselnden Regierungsmehrheiten begleitete. Auch dem ersten Kabinett Viktor Orbáns (1998-2002) diente er als Unterstaatssekretär und zuletzt sogar als Minister der sozialistischen Minderheitsregierung Gordon Bajnais bis zu Orbáns „Revolution an den Urnen“ im Frühjahr 2010.

Konfrontation statt Konflikt–Prävention

Unverdächtig, vordergründige Verbandsinteressen verbalradikal kaschieren zu müssen, fand László Herczog, inzwischen Mitarbeiter einer Finanzforschungs- Gesellschaft, kürzlich in einem Interview mit der linken Tageszeitung Népszava sehr deutliche Worte zur „konfrontativen Politik“, die den Entwurf des neuen Arbeitsgesetzbuches charakterisiere: „Die Konflikt-Prävention wäre Aufgabe des Gesetzes, stattdessen wird mit der Schwächung der Position der ArbeitnehmerInnen und ihrer Organisationen der zerstörerischen und kämpferischen Logik Raum gegeben.“ Dem Ex-Minister missfällt, wie das wichtige Gesetzesvorhaben von der Regierung über Briefwechsel und Internetveröffentlichungen ohne ernsthafte Verhandlungen mit den Betroffenen kommuniziert wird. „Stufe Null der Interessenabstimmung“ sei das. Aber „der soziale Dialog ist keine Geste der Höflichkeit und wird nicht deshalb praktiziert, weil das im kultivierten Westen üblich ist. Dass es klare und berechenbare Regeln gibt, die die Betroffenen als ihre eigenen empfinden, liegt vielmehr im elementaren Interesse der Regierung.“

Diese Denkweise unterscheidet Herczog von den gegenwärtig Regierenden, die „nicht um Gleichgewicht, sondern um Machtvorteile bemüht“ sind und deshalb –auf ihre Zweidrittelmehrheit gestützt - vor der „Ausschaltung demokratischer Bremsen und Gegengewichte“ nicht zurückscheuen. Demokratie lebe nun einmal davon, dass nicht die Regierung die Interessen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen formuliere, sondern diese Gruppen in eigener Verantwortung es selbst täten und die Regierung das weder erschwere noch unmöglich mache, gibt Herczog zu bedenken. Andernfalls „wird die Lage so sein, wie wenn man Wasser erhitzt und den Topf mit einem Deckel eng verschließt. Es wächst die Spannung, was zur Explosion führen kann.“

Im Vorgriff auf die umfassende Umgestaltung des Arbeitsrechts hatte die rechtsnationale Regierung bereits Ende vorigen Jahres im Hau-Ruck-Verfahren ihrer Gesetzgebungswalze die Gewerkschaften praktisch um ihr Streikrecht gebracht. Treffen wollte sie damit vor allem die Interessenvertretungen der öffentlichen Versorgungsunternehmen im Verkehrs- und Energiebereich. Ihnen allein wurde bis dahin zugetraut, durch landesweite Streikaktionen die neue Ordnung der „nationalen Zusammenarbeit“ empfindlich stören zu können. Ab Januar 2011 darf nur dann die Arbeit niedergelegt werden, wenn Arbeitgeber und Gewerkschaften sich zuvor über die „zu gewährleistende ausreichende Versorgung“ während der Streikdauer verständigt haben. Gelingt ihnen das nicht, haben die Arbeitsgerichte das letzte Wort.

 

Streiken unmöglich gemacht

Vor der Sommerpause werteten betroffene Branchengewerkschaften ihre Erfahrungen mit dem neuen Streikgesetz in einer Pressekonferenz aus. Das Ergebnis war für die Gewerkschaften ernüchternd. Von den neun Streikinitiativen des ersten Halbjahres überlebte keine einzige die zweite Instanz. Im Falle des Streikantrags von Gewerkschaften der Budapester Verkehrsbetriebe (BKV) wird die erstinstanzliche Entscheidung zurückgewiesen, weil das Gericht „nicht den für die Entscheidung notwendigen Sachverhalt festgestellt“ habe, „der durch das Streikgesetz in den Kompetenzbereich der Arbeitsgerichte gegeben wurde… und infolgedessen war die Entscheidung in der Sache aufgrund der daraus abgeleiteten juristischen Schlussfolgerung unbegründet“. Außerdem stellte das übergeordnete Arbeitsgericht fest, dass gegen Maßnahmen der Regierung nicht gestreikt werden dürfe. In einem anderen Fall wurde unter Berufung darauf, das Streikziel entspreche nicht den gesetzlichen Anforderungen, die gerichtlich festgelegte ausreichende Dienstleistung außer Kraft gesetzt.

„Wenn nicht gestreikt werden darf, dann drängt die Regierung den Protest auf die Straße ab, mit allen damit verbundenen Gefahren“

Angesichts eines solchen „Chaos der Rechtsinterpretation“ sehen nicht nur die Gewerkschaften die ungarischen ArbeitnehmerInnen daran gehindert, ihre verfassungsmäßigen Grundrechte auszuüben. Im Internetportal galamus.hu, das tägliche Reflektionen des öffentlichen Lebens verspricht, schätzt der Philosophiehistoriker Ferenc L. Lendvai die neue Lage so ein: „Wenn die alte gesetzliche Regelung schließlich zu Anarchie geführt hat, dann führt die jetzige zu einer De-facto- Vorenthaltung des Streikrechts”. Auch der ehemalige Arbeitsminister László Herczog ist davon überzeugt, dass in der Praxis das „mit ad-hoc-Charakter entstandene Streikrecht nicht funktionieren wird.“ Immerhin schränkt es aber die ohnehin nicht sehr ausgeprägte Aktionsfähigkeit der ungarischen Gewerkschaften noch weiter ein.

„Wenn nicht gestreikt werden darf, dann drängt die Regierung den Protest auf die Straße ab, mit allen damit verbundenen Gefahren“, warnte der LIGA-Vorsitzende István Gaskó, der wohl streikerfahrenste Gewerkschaftsführer seines Landes. Dessen Eisenbahngewerkschafter hatte Viktor Orbán 2007 – damals noch in der Opposition - zum Durchhalten im Streik gegen die Vorgängerregierung ermutigt. Nur ihr „kämpferischer” Einsatz könne die sozialistische Regierung zur politischen Wende bewegen, ließ er die Streikenden wissen. Und der Vorsitzende des Arbeitnehmerflügels des nun regierenden nationalkonservativen Fidesz, Pál Kontur, versicherte zur gleichen Zeit die Streikenden der Solidarität seiner Partei, nannte ihre Forderungen berechtigt und warf den Regierenden vor, die Menschen zu missachten. Der gleiche Pál Kontur, welche Ironie des Schicksals, entpuppte sich im vergangenen Dezember als Koautor des modifizierten Streikrechts, das gegenwärtig die Gemüter völlig zu Recht so sehr in Wallung versetzt.

Bislang galt für alle ungarischen Gewerkschaften, dass sie eher auf Verhandlung als auf Konflikt setzten. Auf einem konföderationsübergreifenden Treffen von ungefähr 50 Branchen- und Betriebsgewerkschaften am letzten Tag der ungarischen EU- Ratspräsidentschaft kündigte nun der Vorsitzende der Chemiegewerkschaft Tamás Székely, ein Vertreter der jüngeren Generation unter den führenden Gewerkschaftern seines Landes, „radikalere Schritte der abgestimmten Aktionen” an, die keine der bekannten Methoden der Interessendurchsetzung ausschließen würden. Eine Probe aufs Exempel soll der „gewerkschaftliche D-Day” im Herbst sein, der „in einer landesweit abgestimmten Aktion auf unbegrenzte Zeit” für den Fall geplant ist, dass die Regierung nicht auf Verhandlungen über die umstrittenen Fragen eingeht. Fast scheint sich die von dem bekannten Politikwissenschaftler László Lengyel kurz nach den Wahlen 2010 aufgestellte These von den „zwei kalten Bürgerkriegen” zu bestätigen, die Ungarn drohen: der eine an der kulturellen, der andere an der wirtschaftlich-sozialen Front.

Nicht nur das modifizierte Streikgesetz, sondern auch das neue, von seinen Kritikern auch als „Zwangsarbeitsgesetz“ bezeichnete Arbeitsbeschaffungsgesetz, löste bei den Gewerkschaften einen Sturm der Entrüstung aus. Und nicht nur bei ihnen. Eine Gruppe von bekannten Soziologen und anderen Intellektuellen forderte im Juli ihre Landsleute auf, „durch ihren Protest zum Ausdruck zu bringen, dass das demokratisch denkende Ungarn dieses schändliche Gesetz zutiefst verurteilt.“ Die auf Arbeitslosenhilfe Angewiesenen zu gemeinnützigen Arbeiten auch in Arbeitslagern zu zwingen, werde die Arbeitsmarktprobleme nicht lösen. Die betroffenen Menschen seien nur über wirksame regionale Entwicklungsprojekte und echte Arbeitsbeschaffungsprogramme, die Weiterbildungsmaßnahmen einschließen, auf den Arbeitsmarkt zurückzuführen. Ansonsten sei diese Maßnahme „als roma- und armenfeindliche Hetzkampagne und als außerordentlich schädliche und kostspielige Aktion einzuschätzen, die auf Demütigung der Betroffenen zielt.“

Auf dem Weg in die Untertanen-Gesellschaft

Nun also soll mit dem neuen Arbeitskodex der schönen neuen Welt der Arbeit, wie sie die rechtsnationale Regierungspartei zu gestalten beabsichtigt, die Spitze aufgesetzt werden. Die LIGA hat das Gesetzesvorhaben mit einem „Handbuch für Sklavenhalter“ (s. Foto) verglichen und auch der MSZOSZ fragt in einem Flugblatt „Werden wir Sklaven oder Freie sein?“. Ganz fehl am Platz sind solche kräftigen Bilder zumindest für den nicht, der sich die geplanten neuen Regelungen etwas näher angeschaut hat. Eindeutig stempeln sie die ArbeitnehmerInnen und ihre Gewerkschaften zu Verlierern in Viktor Orbáns neuem Ungarn ab:

- Weniger Urlaub werden die ArbeitnehmerInnen haben,
- ihre Schichtzulagen verlieren,
- Überstundenzuschläge nicht zwingend ausgezahlt bekommen,
- mehr arbeiten müssen für geringeres Gehalt,
- leichter zu kündigen sein und nicht einmal mit einer Abfindung rechnen dürfen,
- eine Kaution zahlen müssen, wenn sie an ihrem Arbeitsplatz mit Geld umgehen,
- für von ihnen verursachte Schäden in voller Höhe aufzukommen haben,
- ohne ihre Mitwirkung Veränderungen ihres Arbeitsfeldes akzeptieren müssen.
- Entfallen wird der Kündigungsschutz für Mütter im Erziehungsurlaub und ältere ArbeitnehmerInnen. (Die einen können während des laufenden Erziehungsurlaubs für die Zeit danach gekündigt werden, die anderen selbst kurz vor Erreichen des Renteneintrittsalters.)
- Alarmierend empfinden es Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen, dass künftig der Arbeitgeber persönliche Daten der ArbeitnehmerInnen ohne deren Zustimmung Dritten überlassen darf.
- Für verfassungswidrig und im Widerspruch mit internationalen Vereinbarungen halten sie die neue Bestimmung, die eine Beobachtung des Privatlebens von ArbeitnehmerInnen „im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis, jedoch zum Zwecke der Kontrolle des Verhaltens jenseits der Arbeitszeit und außerhalb des Arbeitsplatzes“ möglich machen würde.
- In dem Gesetzentwurf vermissen die Gewerkschaften klare Positionen zur atypischen Beschäftigung. Über die Leiharbeit wird kein Wort verloren, obwohl sie auch in Ungarn oft genug angewendet wird, um arbeitsrechtliche Normen und gewerkschaftlichen Interessenschutz umgehen zu können.
- Die Gewerkschaften dürfen ArbeitnehmerInnen nicht mehr vor dem Gericht oder einer Behörde vertreten,
- der Kündigungsschutz und die Arbeitszeitvergünstigung für gewerkschaftliche Interessenvertreter fallen weg.
- Nur noch bei Konsultationen, die vom Arbeitgeber gewünscht sind, werden die betrieblichen Gewerkschaftsrepräsentanten von der Arbeit freigestellt sein.

Aus dem Köcher vergifteter Pfeile greifen die Nationalkonservativen wieder einen heraus, mit dem sie bereits in ihrer ersten Regierungszeit vor einem guten Jahrzehnt die Gewerkschaften schmerzhaft trafen. Deren „Königsrecht“, autonom mit den Arbeitgebern die Kollektivverträge zu gestalten, stellten sie damals und stellen sie heute erneut dadurch in Frage, dass sie den Betriebsräten gestatten wollen, über „Betriebsvereinbarungen mit Kollektivvertragswirkung“ den Gewerkschaften eine ihrer Kernaufgaben streitig zu machen. Nicht genug damit, auch den Arbeitgebern räumen sie die Möglichkeit ein, sich selbst die Gewerkschaft auszusuchen, mit der sie einen Tarifvertrag abschließen möchten.

Imre Palkovics, Führer der christlich-sozialen Arbeiterräte, die der Nähe zu den Resten der parlamentarischen Linken völlig unverdächtig sind, meint daher, dass der Entwurf des neuen Arbeitsgesetzbuches zutiefst „unchristlich und unmenschlich“ sei. Die ungarischen ArbeitnehmerInnen würden, sollte er geltendes Recht werden, „ein kümmerliches Schicksal erleiden“, weil er sie in die Lage von „Unterordnung“ und „Untertanen“ versetze.

„ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften sind auch Teile der Nation“

Die Regierung, so viel steht fest, betrachtet die Gewerkschaften nicht als wirkliche Partner. Wo immer es geht, versucht sie die Interessenvertretungen der ArbeitnehmerInnen zu demütigen, ihnen das Gefühl zu vermitteln, untergeordnete, nicht gleichwertige Institutionen zu sein. So delegierte sie denn auch ihr erstes Gespräch mit den Gewerkschaften über den Entwurf des Arbeitsgesetzbuches nur an einen Unterstaatssekretär ohne Handlungsvollmacht. Die „Regierung der nationalen Kooperation“, befand MSZOSZ-Vorsitzender Péter Pataky in einem bemerkenswert offenen und selbstkritischen Interview mit einem kleinen Blättchen, der „Arbeiter- Zeitung“, versuche die ArbeitnehmerInnen und die Gewerkschaften aus der von ihr definierten Nation herauszuhalten. Doch auch sie seien nun mal Teile der Nation, ob das den gegenwärtig Regierenden passe oder nicht. Statt sich um die Schaffung von Arbeitsplätzen zu bemühen, hätten Orbán und seine Fidesz- Partei die „symbolische Politisierung“ - hinzugefügt sei: mit großem Aufwand an patriotisch und  nationalistisch sentimentalem Kitsch - forciert. Was seinen eigenen Gewerkschaftsbund MSZOSZ betrifft, gibt sich Pataky keinen Illusionen hin: „Über MSZOSZ geht in diesen Kreisen um, dass wir Satelliten der sozialistischen Verbrecherbande sind, die das Land zugrunde gerichtet hat.“

Einige Arbeitgeber spielen sich auf wie am Anfang des 19. Jahrhunderts

Pataky sieht ein Problem darin, dass der von der Politik geprägte autoritäre Stil der Machtausübung auch für die Wirtschaft charakteristisch ist. „Die Führer der Wirtschaftsorganisationen denken, mit einem System offener Willkürherrschaft Ergebnisse erzielen zu können. Danach ist der ein guter Arbeiter, der Angst hat.“ In Komplizenschaft mit der Regierung schicken sich die Vertreter der ungarischen Unternehmer an, Druck auf die Gesetzgebung auszuüben, um die Spielräume der Arbeitgeber zu Lasten der ArbeitnehmerInnen auszuweiten. „Nicht zufällig wurden sie die besten Berater der rechten Politiker, für jene also, die in Fragen entscheiden, die die ArbeitnehmerInnen tangieren.“ Ähnlich denkt auch István Gaskó, der Vorsitzende der LIGA Gewerkschaften, über die „Hintergrundakteure der Arbeitgeberseite“.

Hinter dem Ministerpräsidenten, so versichert er dem gewerkschaftlichen Internet-Portal szakszervezetek.hu, stünden „solche Firmen, Experten und Berater, deren Tätigkeit zwar nicht offen, ihre Wirkung aber bei den Entscheidungen des Regierungschefs ausschlaggebend ist.“ In der Tat äußerten sich Wirtschaftsführer wie der Präsident der Industrie- und Handelskammer László Parragh in der Öffentlichkeit abfällig über die Gewerkschaften und das noch geltende Arbeitsrecht. Die Rolle der Gewerkschaften müsse überdacht und überprüft werden, weil sie den Strukturwandel des Systems behindern würden. Und das aktuelle Arbeitsgesetzbuch stelle eine „Sperrmauer der Wettbewerbsfähigkeit“ dar. Diese Einstellung des Kammerpräsidenten offenbart aus Sicht der Gewerkschaften ein „Arbeitgeberverhalten vom Anfang des 19. Jahrhunderts“.

Gemeinsam sind wir stärker - eine Binsenwahrheit, aber in Ungarn topaktuell
Europäische Gewerkschaftsdemo am 9. April 2011 in Budapest mit mehr als 50.000 Teilnehmern

Einigkeit ist die einzige Chance

Was sich da vollzieht, kommt einem Systemwechsel gleich. Starker Druck lastet auf den Gewerkschaften, zu denen die ungarische Gesellschaft jedoch ein ambivalentes Verhältnis hat. Das hat einerseits etwas mit ihrer noch nicht in Vergessenheit geratenen Rolle des „Transmissionsriemens“ der Staatspartei vor der Wende und andererseits mit den danach begangenen Fehlern einer zersplitterten und oft auch zerstrittenen Bewegung zu tun. Selbstkritisch gesteht der LIGA-Vorsitzende István Gaskó ein, dass die Gewerkschaftsbewegung „heute eine der letzten auf der Sympathieliste der Gesellschaft ist“. Wie könne man glaubwürdig Solidarität predigen, wenn es den sechs Konföderationen nicht gelinge, auf der Basis gleicher Interessen zu kooperieren. Gegen das negative Image etwas zu unternehmen, müsse das Anliegen aller Gewerkschaften sein. „Unser Grundproblem ist unsere unglaubliche Spaltung und Zersplitterung“, sagt auch Péter Pataky, der Vorsitzende von MSZOSZ. Die größte Herausforderung sei daher, einen besseren organisatorischen Zusammenhalt hinzubekommen und die zersplitterten Ressourcen zusammenzuführen.

Die Alternative dazu wäre „ein Grauen und der langsame Abbau“ der ganzen Gewerkschaftsbewegung. Im „Angriff von außen“ sieht Pataky eine Chance, „das ´Wir´- Bewusstsein“ der (noch) zersplitterten Bewegung zu stärken. „Wir haben Stärke und Entschlossenheit gezeigt“ bei der Massendemonstration aller ungarischen Gewerkschaften gemeinsam mit den Delegationen der europäischen Schwestergewerkschaften am 9. April in Budapest. „Auf diesem Weg muss weitergegangen werden.“ Nach diesem überzeugenden einheitlichen Auftritt scheint sich auch die öffentliche Wahrnehmung der ungarischen Gewerkschaften ein wenig gewandelt zu haben. „Die Orbán- Regierung hat die Gewerkschaften mit ihren verletzenden Maßnahmen aktiviert und – wenigstens im Augenblick - die ungarischen Gewerkschaften in ein Lager getrieben“, stellt Ádám Paár vom Politikanalyse Zentrum Méltányosság kurz nach der Massendemonstration fest. Und ihm kommt es so vor, als würden die Gewerkschaften beginnen, „aus ihrer bisherigen Passivität herauszutreten sowie aus ihrem Zustand des Zwistes.“

Erster Schlagabtausch mit der Regierung und Test für die Schlagkraft der Gewerkschaften am 12. September

So geradlinig, wie es wünschenswert wäre, wird der Weg zu stärkerem Zusammenhalt sicher nicht laufen. Gerade erst verkündeten vier (nicht alle sechs) Bünde, am 12. September 2011 zur Eröffnung der Herbstsitzungsperiode des Parlaments gegen die ungerechte Einkommenssteuer und gegen das geplante Arbeitsgesetzbuch zu demonstrieren. Inzwischen will auch die LIGA an der Kundgebung vor dem Parlament teilnehmen, obwohl sie erst aus den Medien davon erfahren habe. Die Forderungen der Konföderationen liegen so nahe beieinander, dass die „LIGA nicht auf ihrem Hinterteil sitzen bleiben kann“, meint ihr Vorsitzender. Es bedarf zwar noch einiger Übung, um über den jeweiligen eigenen Schatten springen zu können, aber die ungarischen Gewerkschaften wären gut beraten, die hoffnungsvolle Erwartung von Ádám Paár zu beherzigen: „Der einheitliche Auftritt gegen die Orbán- Regierung kann der Augenblick der Verwirklichung einer starken und autonomen gewerkschaftlichen Bewegung sein.“

Rainer Girndt

 

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