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(c) Pester Lloyd / 34 - 2011  POLITIK 22.08.2011

 

Die vorgetäuschte Revolution

Böses Erwachen: Orbáns Traum von Ungarn - von der Realität überholt
Leitartikel & Kommentar

Die offiziellen Jubelchöre zum Nationalfeiertag klingen noch hohler als sonst. Ungarn hat eigentlich nichts zu feiern, es ist erschöpft. Immer deutlicher wird, dass dem politischen Haudrauf Orbán die Zügel in der Wirtschaftspolitik entglitten sind, auch durch Selbstüberschätzung und Fehlentscheidungen. Die meisten Ungarn haben heute weniger Geld als vor einem Jahr, der Arbeitsmarkt stagniert und die mittelständische Wirtschaft, die es eigentlich reißen soll, bekommt durch den Staat neue Konkurrenz. Als Dank für diese Lage muss sich das Volk von der Regierung noch beschimpfen lassen. Die Zeit der Umkehr wäre jetzt.

Folgt man den Versprechungen der Orbán-Regierung, - und die Mehrheit tat dies ja bekanntermaßen - müsste Ungarn heute rund 150.000 Arbeitsplätze mehr zu bieten haben als im Frühjahr 2010. In Unternehmen mit mehr als fünf Angestellten arbeiteten im ersten Halbjahr 2011 im Schnitt 39.000 Menschen mehr als noch vor einem Jahr. In Summe macht das 1,84 Mio. Beschäftigte. Ein Plus also von 2,2%. So meldet es das Statistische Zentralamt in Budapest in seiner neuesten Aussendung. Gleichzeitig büßte der öffentliche Arbeitsmarkt 36.000 Angestellte ein, vor allem bei den Kommunen. Der öffentliche Dienst zählt nun noch 732.000 Mitarbeiter.

Es gibt Stimmen in der Regierung, die das als klaren Fortschritt verkaufen wollen, doch diese Stimmen sind nicht laut, denn es ist allgemein bekannt, dass die öffentlichen Beschäftigungsprogramme ausgegliedert wurden und somit nun statistisch als Teil der Privatwirtschaft laufen. In Gänze ergibt sich also ein Bild der völligen Stagnation auf dem ungarischen Arbeitsmarkt, trotz des Aufschwungs in den Hauptexportmärkten Deutschland und EU im ersten Halbjahr. Selbst die offizielle Arbeitslosenstatistik schaffte es da nur ein paar Zehntelpunkte abwärts und liegt noch immer knapp unter 11%, bei Jugendlichen bei fast einem Viertel.

Der Stauts quo: Der Arbeitsmarkt stagniert, die Einkommen fallen für die meisten, die privaten Schulden steigen. Doch das Wirtschaftsministerium redet sich die Welt schön.

Ähnlich sieht es bei den Einkommen aus, hier wünschten sich die meisten wenigstens eine Stagnation: Die durchschnittlichen Bruttolöhne sind im ersten Halbjahr um 3,6%, die Nettolöhne um 5,2% gestiegen. Die offizielle Inflationsrate lag bei rund 3,5%, was - im Schnitt - ein Reallohnplus von knapp 2% ausmachte. Alles wertlose Zahlenspielereien. Durch die Flat tax sind nämlich die unteren Einkommensschichten - knapp 80% aller versicherungspflichtigen Angestellten - allesamt ins Minus gerutscht, während die Besserverdiener, samt ihrer Arbeitgeber, sich über eine saftige staatliche Gehaltserhöhung freuen konnten. Der Schnitt verdient 140.300 Forint pro Monat, netto, - nur 98.000 wenn er überwiegend körperliche Arbeit verrichtet.

Nur wer mehr als 300.000 Forint brutto im Monat erhält, kam bisher in den Genuss von mehr Lohn, Dank der voreiligen (Superbrutto) und unausgewogenen (zu niedrige Bemessungsgrenze) Flat tax von 16% auf alle Einkommen, die von der Regierung noch immer als die "Basis für langfristiges Wachstum" behauptet wird, eigentlich aber nur den Grundstein für andauernde Ungerechtigkeit legt. Denn das wirkliche (nicht das zugebilligte) Existenzminimum müsste zunächst steuerfrei sein, bevor eine Flat tax sozial annähernd gerecht wirken kann. Hinzu kommt, dass man ausgerechnet die Familien traf, die ohnehin schon durch ausufernde Fremdwährungskredite bis zum Hals im Schlamassel stecken. Die Verschärfung dieser privaten Schuldenkrise geht also nicht - wie immer behauptet - nur auf das Konto der Eurokrise, sondern eindeutig auch auf ideologisch gefärbte Entscheidungen dieser Regierung zurück. Derweil redet das Ministerium für Nationalwirtschaft weiterhin von rosigen Zeiten, die da bald heraufziehen.

 

Für die Ärmeren gibt es da nämlich noch ein Problem, denn neben den höheren Abzügen durch die Steuer, schlägt bei den unteren Einkommen auch die Inflation ganz anders zu. Wer 70-80% seines Einkommens für die Grundbedürfnisse - Wohnen, Heizen, Essen - ausgeben muss, spürt die Teuerung dort natürlich schmerzlicher als andere. Dazu ein paar aktuelle Beispiele des KSH: Während sich die Inflation im ersten Halbjahr in Summe auf 3,1% gegenüber H1 2010 abschwächte, verteuerten sich Mehl um 61%, Zucker um 52%, Pflanzenöl um 37%, Milch um 16,7%, Brot um 13%, Käse um 12%, Kraftstoffe um 10,2%, Abwassergebühren um 10.6%.

Niemand hatte erwartet, dass Orbán in einem Schlag die Verheerungen der Finanzkrise und das Versagen der Vorgänger aufholen könnte. Doch warum hat er es behauptet und behauptet es immer noch?

Dass die Zielvorgaben der Regierung (hier mehr dazu) - schon aufgrund mangelnder eigener Gestaltungsmöglichkeit - unmöglich zu erreichen waren, dürfte auch den meisten Nichtexperten klar gewesen sein, zumal es selbst einer Autokratie wie der heutigen Regierung kaum möglich ist, Unternehmer zur Schaffung von Arbeitsplätzen zu zwingen. Natürlich ist die Einsicht richtig, dass mit einer Beschäftigungsquote von etwas über 50% kein Staat zu machen ist, dass ausufernde Staatsschulden, verbunden mit einer großen Abhängigkeit vom internationalen Finanzmarkt wie eine Daumenschraube wirken, dass Filz, Bürokratie und Korruption schädlich sind.

Doch die Schlussfolgerungen daraus sind verheerend, wenn sie gegen die Mehrheit des Volkes gerichtet sind und entwicklungsbedingte und zeitliche Notwendigkeiten ausblenden. Gut Ding will Weile haben. Orbán will das einfach nicht wahrhaben, dass die Marktwirtschaft ein Ding ist, das er nicht durch Dekrete, Reden oder Zwang zu beherrschen vermag. Er kann nur ein Ambiente schaffen, in dem eine freie Wirtschaft gedeihen kann, - wenn sie will, nicht, weil sie muss. Niemand hatte erwartet, dass Orbán in einem Schlag die Verheerungen der Finanzkrise und das Versagen der Vorgänger aufholen könnte. Doch warum hat er es behauptet und behauptet es immer noch?

Statt den Leuten mit nationalen Parolen, Bedienung niederer Racheinstinkte und der Zementierung einer möglichst immerwährenden Herrschaft immer mehr Sand in die Augen zu streuen, eine Revolution vorzutäuschen, sollte er seine uneingeschränkte Macht nutzen, die offensichtlichen Fehler zu beheben und sich von Fachleuten beraten zu lassen, statt sie als „Feinde Ungarns“ zu diffamieren. Orbán könnte einen „New Deal“ aushandeln: Faire Bedingungen für faire Steuern. Doch er wählte den Weg einer neuen Autokratie, etwas, gegen das jeder Ungar allergisch reagiert - aus gutem Grund.

Viele Ungarn würden gerne einer ehrlichen Arbeit nachgehen, wenn sie für sie lohnend und für den Arbeitgeber leistbar wäre. Doch das ist sie bis heute nicht.

Kardinalsgesetze werden nun zu Kardinalsfehlern: Die Regierung versucht, ein paar hunderttausend Sozialhilfeempfänger, oft Roma aus den Elendsregionen des Landes, aber auch Scharen ehemaliger Frührentner, die nun wieder zu Sozialfällen gemacht werden, weil man merkte, dass man sich den Luxus früher Berentung nicht leisten kann, durch die Drohung auf Entzug jeglicher finanzieller Unterstützung in unterbezahlte und unterqualifizierte, vor allem aber pespektivlose Massenbeschäftigung zu bringen. Diese sei allemal besser als Sozialhilfe, ist die Antwort von der Fidesz-Parteispitze. Wer arbeiten kann, soll dies auch tun. Kurz: das arbeitsfaule Pack soll sich bewegen. Was für eine billige Demagogie und eine Beleidigung für viele Betroffene. Das Innenministerium übernimmt die Aufsicht, so löst man gleich noch das „Zigeunerproblem“, glaubt man.

Doch es handelt sich nicht um Arbeit, sondern um erzwungene Beschäftigung. Damit nutzt man zwar kurzfristig dem Budget, schadet aber mittelfristig der Wirtschaft und langfristig der Moral. Viele Ungarn würden gerne einer ehrlichen Arbeit nachgehen, wenn sie für sie lohnend und für den Arbeitgeber leistbar wäre. Doch das ist sie bis heute nicht, ein schweres Versäumnis.

Die Menschen wollten Unabhängigkeit, aber bekamen neue Ketten. Das wird Orbán zu spüren bekommen, wie alle vor ihm, die ihre Ideologien über die Menschen stellten und frech das Gegenteil behaupteten.

Statistisch wird die Regierung diese Billiglöhner, hart an der Grenze zur Zwangsarbeit, als „neue“ Arbeitsplätze verkaufen und dann zahlenmäßig Recht gehabt haben. Faktisch aber dividiert sie damit das Land weiter auseinander. Die Lasten der Schichten, die ohnehin nur Zugang zu schlecht bezahlten Jobs haben, werden durch staatliches Lohndumping weiter vergrößert und damit wird auch dem eigenen Mittelstand geschadet, der aus Kostendruck auf das demotivierte, staatliche Arbeitsheer zurückgreifen muss, statt sich innovativ und langfristig aufstellen zu können. Die Zwangstagelöhner fallen für Fortbildungen aus, ihre Kinder sowieso. Die zu zahlenden Löhne fehlen den Förderprogrammen für sinnvolles Unternehmertum. Dem will man durch ein neues „flexibles Arbeitsrecht“ entgegenkommen, das Arbeitnehmer zu Untertanen und das Land zu einem Ständestaat macht. Der vom Spiegel herbeigeunkte „Archipel Gulasch“ könnte dann Wirklichkeit werden. (Hier ein sehr aktueller und lesenswerter Beitrag zum neuen Arbeitsrecht).

Und nicht zuletzt nimmt man vielen Leuten ihre Würde. Wie würden Sie sich als frühpensionierter Lehrer fühlen, der für einen Hungerlohn Gräben für ein neues Nationalstadion ausheben soll? Was halten Sie von einer Regierung, die Ihnen untersagt zu streiken? Für Anmaßungen dieser Art (die Leser dieser Seiten wissen von Dutzenden weiteren) hatte diese Regierung nie ein Mandat, so wie die vorige nicht für Selbstsucht und Verschwendung.

Die Menschen wollten Reformen, sie wollten Unabhängigkeit und sie wollten selbst einen Beitrag dazu leisten. Sie bekamen aber nur neue, in rot-weiß-grün getunkte Ketten. Sie bekamen neuen Zwist und das Christentum in die Verfassung: staatliche Schizophrenie und freudsche Fetische. Und das wird Orbán, wenn er nicht bald eine Wende in seiner Wende einleitet, zu spüren bekommen, wie alle vor ihm, die ihre Ideologien über die Menschen stellten und frech das Gegenteil behaupteten.

Marco Schicker

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