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(c) Pester Lloyd / 35 - 2011  POLITIK 04.09.2011

 

Die Unschuld auf der Flucht

Mit dem Tod von Sándor Képiró stirbt offiziell auch die Frage nach seiner Schuld

Vor wenigen Wochen wurde über die Frage, ob der am Freitag mit 97 Jahren in Budapest gestorbene Képíró an der systematischen Tötung von Serben, Juden und Roma bei einem Massaker ungarischer Polizeikräfte 1942 in und um Novi Sad mitbeteiligt, womöglich auch befehlsgebend war, erstinstanzlich und nicht rechtskräftig mit einem Freispruch geurteilt. Die Beweislage war dem Gericht zu dürftig, die Verteidigung übernahmen stramme Neonazis, der Richter gab zweifelhafte Statements ab.

Kepiro wurde wegen gleicher Sache bereits 1944 in Ungarn von einem ungarischen Gericht verurteilt, jedoch von den dann einrückenden deutschen Besatzern in Schutz genommen. Vor einem weiteren Urteil 1946 konnte er sich über die Rattenlinie nach Südamerika absetzen, von wo er in den Neunziger Jahren nach Ungarn zurückkehrte und sich so sicher fühlte, dass man ihn im Telefonbuch finden konnte. Er lebte im "jüdischen Viertel" und gab Fernseh-Interviews auf der Straße mit Inhalten, die keinen Zweifel an seiner Haltung ließen. Ermittlungen gegen ihn wurden aber erst wieder auf Druck der Aktion "letzte Chance" des Simon-Wiesenthal-Centers aufgenommen, es kam zur Anklage in Ungarn, nach dem Serbien auf eine Auslieferung und ein eigenes Verfahren verzichtete.

Sándor Képíró lächelt vom Pawlatschen-Gang seiner Wohnung in Budapest.

Vor und während des Prozesses zeigte sich Kepiro stark kränkelnd und war vom Alter gezeichnet, es war schwer feststellbar wie klar seine Gedankengänge noch waren, immerhin war er fähig, sich als Justizopfer darzustellen. Seine Verteidigung übernahm ein Neonazi, hinter dem eine rechtsextreme Stiftung steht, mit engen Verbindungen zur Partei Jobbik, der Gründer der Stiftung ist ein Abgeordneter. Diese stellten Kepiro als anständigen ungarischen Polizisten dar, der nach der "Heimkehr" der Vojvodina nach Ungarn nur seine Pflicht erfüllte. (Horthy-Truppen verleibten sich mit ausdrücklichem Einverständnis Hitlers das Gebiet ein) Es ist bekannt, dass Kepiro zur Zeit des Massakers Dienst in der Gegend tat und eine kleinere Einheit Gendarmen befehligte.

Für die Rechtsextremen, aber auch Teile der "normalen" Rechten ist die Umdeutung der Geschichte ein wichtiger Teil ihrer politischen Arbeit. Die Ära des Hitler-Verbündeten Horthy wird verklärt, die Rückeroberung der durch die Verträge von Trianon abgetrennten Gebiete (mit Hilfe Hitlers, Wiener Schiedssprüche) als Wiedergutmachung historischer Ungerechtigkeit dargestellt, die es auch heute auf die eine oder andere Weise anzustreben gilt.

Ungarische Gendarmen und deutsche Wehrmacht sowie Polizeieinheiten
“arbeiten” in Novis Sad 1942 Hand in Hand.

Viele Beweise bzw. Indizien mochten die Richter nicht anerkennen, zumal die meisten Zeugen längst gestorben sind, so also auch ihre Glaubwürdigkeit nicht mehr überprüfbar war, die älteren Urteile aus "Unrechtssystemen" erkannte das Gericht nicht an, auch die Flucht mochte man nicht als Schuldeingeständnis bewerten. Der Richter sagte, man könne nicht einmal beweisen, ob der Angeklagte von den Vorkommnissen in der Gegend überhaupt wusste. Ein Gendarmeriebefehlshaber vor Ort, der nichts über die Tätigkeit der Gendarmerie vor Ort wusste...

Zu einer intensiven Befragung des Angeklagten kam es indes nicht mehr, der stets stammelte, er wisse gar nicht, was man von ihm wolle. Mit dem Tode des Angeklagten endet die juristische Aufarbeitung seiner Schuld, der Unschuldige unternahm also seine letzte und endgültige Flucht. Die Neonaziszene feierte den Freispruch als Sieg der Gerechtigkeit, während die Kläger in die nächste Instanz ziehen wollten. Während der Vorsitzende Richter an Jobbik-T-Shirts mit dem Aufdruck Großungarns und einschlägigen Parolen durch die Anhängerschaft Kepiros im Verhandlungsraum nichts Anstößiges fand, ließ er das Tragen von Judensternen als "offensichtliche Provokation" verbieten...

 

Dass es zu diesem - letztlich für beide Seiten unbefriedigenden Urteil kam, liegt eindeutig an der katastrophalen Verschleppungstaktik der ungarischen Staatsanwalt- und damit befassten Richterschaft, die offenbar aus politisch angeordneter Rücksicht auf vermeintliche “historische Befindlichkeiten” einen Prozess Ende der Neunziger verhinderte (die Akten blieben einfach liegen, wer muss sich dafür eigentlich verantworten?), als noch mehrere Zeugen lebten und der Angeklagte bei klarerem Verstande schien. Sowohl seine Schuld, aber auch seine Unschuld wäre damals zweifelsfreier feststellbar gewesen als in diesem drittklassigen Richterspruch. Eine Chance, die man verpasste oder vergab. Wir empfehlen dazu auch die erhellende Lektüre unserer Hintergrundbeiträge am Ende dieses Textes.

Ungarn bemüht sich seit Jahren vergeblich, den ehemaligen ungarischen Soldaten Charles Zentai, seit Jahrzehnten in Australien nach Ungarn zu holen, um ihm den Prozess zu machen. Australien verweigerte aus formalen Gründen immer wieder die Auslieferung, zuletzt wurde im Januar erklärt, Ungarn könne ihn gerne in Australien vernehmen. Auch hier scheint man auf ein "Gottesurteil" zu warten. Der heute 90jährige soll als Soldat einen ungarisch-jüdischen Jungen ohne Judenstern in einem Zug angetroffen und ihn daraufhin zu Tode geprügelt haben. Auch er war für eine Reise nach Ungarn bisher immer zu krank.

Mehr zum Thema:

Der Massenmörder und seine Erben - 5. Mai 2011
In Ungarn beginnt der Prozess gegen Sándor Képíró
http://www.pesterlloyd.net/2011_18/18kepiroprozess/18kepiroprozess.html

Képíró-Prozess: Angeklagter erklärt sich dement - 10. Mai 2011
http://www.pesterlloyd.net/2011_19/19kepiro2/19kepiro2.html

Kiegsverbrecherprozess in Ungarn endet mit Freispruch - 18. Juli
http://www.pesterlloyd.net/2011_29/29kepirourteil/29kepirourteil.html

Hintergrund:

Weiße Westen, schwarze Schafe - April 2011
Staatlicher Geschichtsrevisionismus in Ungarn - Ein Staatssekretär nimmt direkten Einfluss auf die Dauerausstellung der Budapester Holocaust-Gedenkstätte...
http://www.pesterlloyd.net/2010_03/0367jahredon/0367jahredon.html

Dazu: Leiter des Holocaust-Museums Budapest entlassen - 23. Mai
http://www.pesterlloyd.net/2011_21/21holomuseum/21holomuseum.html

Gömbölinis Rückkehr
"Erster ungarische Nationalsozialist" erhält alte Weihen zurück
http://www.pesterlloyd.net/2010_36/36gombolino/36gombolino.html

Heldentod für Hitler? - Jan 2010
Ein Kuhhandel Horthys führte zum "Stalingrad der Ungarn" -
"Sozialistischer" Verteidigungsminister spricht heute noch von Heldentod
http://www.pesterlloyd.net/2010_03/0367jahredon/0367jahredon.html

Nein! Nein! Niemals!!
Bremsender Nationalballast: Ungarn und das Erbe von Trianon
http://www.pesterlloyd.net/2010_32/32kommentartrianon/32kommentartrianon.html

Jobbik feierte den ungarischen "Helden" Miklós Horthy - Nov. 2009
http://www.pesterlloyd.net/2009_48/0948horthy/0948horthy.html

Jobbiks Sturmabteilung
Rechtsextremisten in Ungarn wollen Privatarmee aufbauen
http://www.pesterlloyd.net/2010_22/22jobbikarmee/22jobbikarmee.html

Zeichen der Zeit
Was haben Árpádflagge und Turul zu bedeuten? Eine Ausstellung in Budapest versucht es zu erklären
http://www.pesterlloyd.net/2010_04/04turul/04turul.html

 

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