(c) Pester Lloyd / 35 - 2011
POLITIK 31.08.2011
Das Schweigen der Richter
Unrecht oder nicht? Das ungarische Verfassungsgericht mag sich nicht entscheiden
Das ungarische Verfassungsgericht hat sich Anfang der Woche mit einer Klage der privaten Rentenversicherer befasst, konnte oder wollte sich aber zu keinem Urteil
durchringen, ob man - die unter Androhung des Verlustes der staatlichen Rente bewerkstelligte - Verstaatlichung der ehemals obligatorischen, privaten Säule der
Rentenversicherung als legal betrachtet oder nicht. Das wäre die letzte Chance auf ein unabhängiges Urteil gewesen.
Das gebeugte ungarische Verfassungsgericht...
Ein Sprecher des Gerichtes begründete das Zögern der obersten Verfassungshüter mit
"neuen Erkenntnissen und Anhaltspunkten", die man sich in der kommenden Woche erhoffe, weshalb erst dann weiter über die Sache debattiert werden wird. Ab 1.
September allerdings, stoßen - einer Grundgesetzänderung folgend - fünf weitere Richter an das Gericht, die im Juni durch die Einparteienmehrheit im heutigen Parlament ernannt
wurden, womit das Verfassungsericht womöglich die letzte Chance verstreichen ließ, ein relativ unabhängiges Urteil zu fällen. Im kommenden Jahr werden dann, aufgrund der
Abänderung der Altersgrenze, weitere Richterstellen neu besetzt.
Nun wird darüber spekuliert, ob die Richter von selbst eingeknickt sind oder die Politik
Druck auf sie ausgeübt hat. In einem vorigen Fall zur 98%igen Besteuerung von Abfindungen im öffentlichen Dienst (ab 3 Mio. Forint aufwärts und rückwirkend
angewendet), wagten es die Richter eine Verletzung der "Menschenwürde" festzustellen und brachten die Regierung sogar zu einer leichten Abänderung des Gesetzes (es wirkt
nun immer noch rückwirkend, aber nicht mehr so weit...). Ein Schlag, den das Fidesz, Widerspruch nicht mehr gewohnt, nicht so leicht vergessen haben dürfte.
Zur Verwendung der beschlagnahmten Rentenbeiträge hätte das Verfassungsgericht
ohnehin nichts mehr zu melden gehabt, denn "Fragen, das Budget betreffend" fallen nicht mehr in dessen Kompetenz, seit sich Fidesz-Fraktionschef Lázár über die "Missachtung des
Gerechtigkeitsgefühl des Volkes" durch die Richter beschwerte und das Gericht entmachten ließ (übrigens ebenfalls wegen der Abfindungsfrage). Diese Kastration ist auch
Teil der neuen Verfassung, erst bei Erreichung einer Schuldengrenze von 50% des BIP soll das Verfassungsgericht wieder mitreden dürfen. Das Fidesz selbst rechnet binnen der
nächsten Dekade mit dem Erreichen von 60%, wenn alles gut geht.
Die Unrechtmäßigkeit des Überführungsprozesses, der immerhin mit der Aushebelung
einiger Grundrechte einherging und im wesentlichen als Enteignung bzw. Zwangsverstaatlichung zu bezeichnen ist (97% folgten dem Angebot, das man nicht
ablehnen konnte), wäre feststellbar und ein politisches wie rechtsstaatliches Statement gewesen, dass den Klägern vor anderen, womöglich internationalen Gerichten eine bessere
Ausgangssituation eingeräumt hätte.
Die Vertreter der Kläger, der Fondsverband Stabilitás, zeigten sich entsprechend
enttäuscht, die Klage sei seit Februar anhängig, jetzt, da man auch die Erlöse aus den privaten Rentenversicherungen auszahlen musste, sei die Sache ohnehin so gut wie
hinfällig, da man selbst bei einer (sowieso undenkbaren) Rücknahme der Entscheidung durch die Regierung schon aus praktischen Gründen kaum wieder an die Gelder gelangen
würde. Vor der Europäischen Gerichtsbarkeit klagen bereits Einzelpersonen, die Klagen beziehen sich im wesentlichen auf Grundrechtsverstöße, den Schutz des Privateigentums,
den Schutz der Privatsphäre und das Recht auf ein selbstbestimmes Leben.
Ein europäisches Urteil in ihrem Sinne, das zur Rücknahme der Verstaatlichung führen
würde, müsste der Orbán-Regierung den Geldhahn zudrehen und bei der heutigen budgetären Konstellation unweigerlich in die ökonomische wie politische Voll-Pleite führen,
weshalb es ein solches nicht geben wird. Lässt man den Vorgang jedoch unkommentiert stehen, schafft man eine gefährliche Präzedenz und eine Art Freifahrtsschein zum
staatlichen Zugriff auf privates Eigentum, was im Kapitalismus einem Sakrileg gleichkäme.
Die Gesamtsumme, die sich der Staat einverleibte, beträgt umgerechnet über 11 Mrd.
EUR, rund 8% des BIP, rund die Hälfte davon wird direkt zur Schuldentilgung verwendet, der Rest zum größten Teil in den staatlichen Rentenfonds eingezahlt, um das System zu
stabilisieren. Ein paar Milliarden Forint wurden auch aufgewandt, um sich Anteile der MOL einzuverleiben und einige kleine Sonderprogramme zu finanzieren sowie die Schulden der
Staatsbahn zu zahlen. Extras, die man sich sonst nicht hätte leisten können.
Die Regierung versprach, dass kein Steuerzahler Einbußen hinnehmen wird, die Beiträge
werden individuellen Rentenkonten zugeordnet. Der Staat nahm bei seinen Bürgern sozusagen einen Kredit auf, machte Schulden, um sich aus der Schuldenspirale der
Finanzmärkte zu befreien, belastbare Garantien für die Rückzahlung legte er jedoch keine vor, nur wieder ein Versprechen, wovon die Ungarn schon mehrere Säcke im Keller stehen
haben. Man hofft in Budapest, dass der Langmut des Volkes größer ist als der des internationalen Finanzmarktes. Verfehlt man aber die Zielvorgaben weiter so gründlich
wie bisher, dürfte sich die Geduld des Volkes auch nichtmehr mit umfangreichen nationalen Folkloreprogrammen erkaufen lassen, auch wenn das bisher noch ganz gut gelang.
red.
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