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(c) Pester Lloyd / 36 - 2011  GESELLSCHAFT 09.09.2011

 

Aufstand der Frustrierten

Ungarn steuert in einen "Heißen Herbst"

Die Geduld der Gewerkschaften mit der Regierung steht offenbar vor dem Ende. Während zunächst nur ein gewerkschaftlicher Aktionstag von vier der sechs großen Konföderationen für den 12. September in Budapest vor dem Parlament geplant war, verkündeten Gewerkschaftsführer und Bürgergruppen am Donnerstag eine "ganze Serie von Streiks, Blockaden und anderen Protesten" ab dem 29. September, die "D-Day" genannt wird. Ungarn kann sich auf einen heißen Herbst einstellen.

Damit reagieren Dutzende Gruppen auf die verschlagene Taktik der Regierung bei den gewünschten ernsthaften Konsultationen zum geplanten neuen Arbeits-, Streik- und Gewerkschaftsrecht, das an die Grundfesten der Arbeitnehmerrechte rührt. (hier dazu ein ausführlicher Beitrag mit einer Auflistung der geplanten Regierungsmaßnahmen). Die Regierung hatte gerade erst wieder ihr unangenehme Gesprächspartner brüskiert und damit ihren Alleinvertretungsanspruch artikuliert.

In seltener Einigkeit präsentierten insgesamt 70 Einzelgewerkschaften, Konföderationen, aber auch Bürgerrechtsgruppen und Berufsverbände eine Petition mit 9 Punkten. Darin wird u.a. das Verbot rückwirkender Gesetzgebung, eine faire Besteuerung, ein echter Dialog zwischen den Sozialpartnern, der Schutz älterer Arbeitnehmer und die Sicherung der Rentenansprüche gefordert. Die Organisatoren der herbstlichen Protestwelle kündigen am "D-Day" Sitzstreiks in Budapest an, eine Rallye, Protestmärsche sowie landesweite Straßenblockaden.

Die Proteste gegen das neue Arbeitsrecht überschneiden sich mit dem Kampf von öffentlich Bediensteten um ihre in Gefahr geratenen Rechte auf Vorruhestand. So wollen auch wieder Mitarbeiter der Sicherheitsorgane, gemeinsam mit den anderen Arbeitnehmern auf die Straße gehen. Ob D-Day der passende Begriff ist, kann man anzweifeln, immerhin ist er von der Invasion der Alliierten gegen Hitlerdeutschland belegt. Hier handelt es sich doch eher um einen Aufstand der Frustrierten, möglich aber, dass man den Kampf gegen die Anmaßungen dieser Regierung auch als einen Befreiungskampf definiert, kriegerisch genug ist man offenbar gestimmt.

 

Geradezu hilfos wirkt dagegen die Ankündigung der oppositionellen Sozialisten, MSZP, in diesem Herbst eine "aggressivere Kommunikationsstrategie" zu fahren. Die Partei versucht so, auf die Protestwelle aufzusatteln, allein, es will sie kaum jemand dabeihaben, da die Probleme, deren versuchte Radikallösungen durch das Fidesz nun diese sozialen und gesellschaftlichen Friktionen herbeiführen, überwiegend aus MSZP-Politik entstanden sind. Parteichef Mesterházy sagte nach einer zweitätigen Fraktionsklausur, er werde für jedes kritische Politikfeld, z.B. Soziale Sicherheit, Verfassung, Arbeitsrecht etc. einen eigenen Beauftragten ernennen. Jedem neuen Gesetz, vor allem jedem neuen Kardinalsgesetz, das in der Herbstsaison verabschiedet werden soll, wird ein verantwortlicher Abgeordenter aus den MSZP-Reihen zugeordnet.

Auch die neofaschistische Parlamentspartei Jobbik versucht von der miesen Stimmung und dem Frust im Volk zu profitieren und fordert wiederholt stärkere Hilfen für notleidende Bankschuldner sowie eine höhere Beteiligung der Banken selbst an diesen Hilfen. Dazu läuft gerade eine lautstarke Unterschriftenaktion, "wenn die Regierung diese nicht wahrnimmt, dann werden wir unseren Aufmarsch am 23. Oktober (Nationalfeiertag, Anm.) nicht auf dem Deák Platz, sondern vor Banken und Bankfilialen abhalten", drohte Parteiführer Gábor Vona und meinte, "das Schuldenproblem und die Zigeunerfrage" werden im Zentrum der Aktivitäten seiner Partei in diesem Herbst stehen. Es ist auch davon auszugehen, dass sich rechte Gruppen, dabei eine starke rechtsradikale Polizeigewerkschaft an den Bürger- und Gewerkschaftsprotesten beteiligen.

An den zahlreichen Ankündigungen und der Art der Organsation der Aktionen ist erkennbar, dass die Unzufriedenen sich wieder zunehmend artikulieren, dabei aber - wie schon bei den Protesten gegen das  Mediengesetz - nicht mehr die Parteien als Plattform wünschen, von denen man in Ungarn zu recht gründlich enttäuscht ist. Während das Regierungslager weiter behauptet, "Stimme des Volkes" zu sein, versuchen linke und rechte Opposition sich zum Anwalt des gemeinen Mannes zu machen, dabei haben alle drei Kräfte längst ihre Unfähigkeit und ihre Verlogenheit bewiesen.

Die derzeitige Regierung hat ihren zunächst lobenswerten Reformeifer durch Kontrollwahn und Autokratie völlig überzogen und steuert das Land unter nationalen Parolen in ein soziales Chaos ohne Rücksicht auf Verluste. Die ersten Anzeichen für ein Scheitern in der Wirtschaftspolitik sind nicht mehr ignorierbar. Zuletzt machten US-Botschafts-Telegramme die Mähr von der Anständigkeit der Fidesz-Politik zu nichte, MSZP und Jobbik hatten das längst selbst erledigt. Die LMP sucht derzeit noch Orientierung.

Umfragen werden vom Staatsfunk schöngeredet

Die aktuellste Umfrage des Institutes Szonda Ipsos zeigt zwar weiterhin einen großen Vorsprung des Fidesz vor der Opposition: 24% Unterstützung bei allen Wahlberechtigten gegenüber MSZP 13, Jobbik 7, LMP 3, doch rutscht fast allen Parteien, den regierenden am schnellsten, die Wählerbasis weg, denn die absoluten Zahlen derjenigen, die überhaupt noch wählen gehen wollen, sinkt geradezu stündlich. Da nutzen auch die Jubelinterpretationen des Staatsfunks (hier Nachrichtenagentur MTI) nichts, die von "riesigem Abstand" und "doppelt so viele Stimmen wie..." faselt. 4 Millionen Menschen, also die Hälfte aller zur Wahl Berechtigten, wollen mit Parteien "gar nichts mehr zu tun haben", ein Potential das sich sowohl für als auch gegen das Land richten kann.

Abwendung vom Parteienstaat als Gefahr oder Chance?

Denn während viele Beobachter durch die fortschreitende Abwendung des Volkes von der Parteiendemokratie irritiert oder besorgt sind, ist darin doch vielmehr die Chance für eine echte Demokratie zu sehen, dann nämlich, wenn die Menschen ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen und sich zielorientiert, statt ideologiegesteuert zusammenschließen. Zu den zaghaften Versuchen von Bürgerprotesten und neuen Oppositionsbewegungen finden Sie hier unsere Artikelserie:

Die Republik der Bürger - Bürgerproteste und neue Opposition in Ungarn
Teil 1 über neue Protestbewegungen und -formen außerhalb des Parlamentarismus`
Teil 2 über Positionssuche und Abgrenzung der noch jungen Partei LMP
Teil 3 über das Roma-Programm von TASZ als parteiübergreifender Lösungsansatz

red.

 

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