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(c) Pester Lloyd / 38 - 2011  POLITIK 20.09.2011

 

Die Lüge vom Volkstribun

Unsoziale Umverteilung und Klientelpolitik in Ungarn - Kreditablösegesetz beschlossen / Analyse & Kommentar

Orbáns "Attacke auf die Banken" brachte ihm auch bei etlichen "Systemkritikern" im Westen viel Jubel. "Endlich einer, der sich ums Volk kümmert", freute sich der wohlgenährte, tabloidbelesene Hausmeister. Doch die Zahlen und Fakten zeigen: Irrtum. Das "untere Drittel", das in Ungarn eher die untere Hälfte genannt werden müsste, trägt die Lasten der Krise, in Ungarn noch mehr als anderswo. Die Politik der Orbán-Regierung könnte unsozialer kaum sein, auch wenn sie das Gegenteil behauptet. Es geht nur um Macht, möglichst absolute Macht.

Steht die Sonne tief genug, werfen auch Zwerge lange Schatten. - Die ungarische Staatsspitze am Nationalfeiertag des 20. August, kurz bevor sie sich dem Volke zeigt. Foto: MEH

"Niemand wird am Straßenrand zurückgelassen", sagte der ungarische Premier Viktorr Orbán zum neuen Haushaltsentwurf für 2012 und den darin enthalten steuerlichen Maßnahmen. Doch wer in diesem Jahr wenig verdient, verdient im nächsten Jahr noch weniger und wer sich die Ablöse von Forex-Krediten nicht leisten kann, zahlt womöglich bis ans Lebensende seine Raten, während die Bessergestellten mit Steuergeschenken und Kreditbefreiung bei Laune gehalten werden. Die nachfolgenden Beispiele lassen nicht viel übrig von der "Sozialpolitik" á la Orbán. Dabei ist die schwer drückende Last des Erbes der Vorgänger nur noch ein Teil der Wahrheit.

Allein 2011 ging die Einkommensschere 37% auseinander

Die Einkommensschere in Ungarn verbreitert sich immer stärker und schneller. Manager ungarischer Unternehmen verdienen im Schnitt das Sechsfache ihrer Angestellten, haben die Berater der Hay Gruppe in einer Umfrage vornehmlich unter in Ungarn tätigen multinationalen Unternehmen (die also vornehmliche qualifizierte Facharbeiter beschäftigen) ermittelt. Allein 2011 wuchs der Abstand zwischen Chefs und Subordinierten nochmals um 37%, Dank der "proportionalen Besteuerung", wie die Regierung ihre Flat tax tatsächlich nennt. Ungarn liegt damit im ungerechten Durchschnitt der Region, in Tschechien ist der Faktor Chef: Angestellter 5,4, in der Slowakei 5,6 in Polen sogar 8,5. Dochnächsten Jahr wird die Schere weiter auseinandergehen, Ungarn wird, wie von der Regierung auf anderen Gebieten angekündigt, zumindest auf dem Feld sozialer Ungerechtigkeiten "in der Region einen Spitzenplatz" einnehmen.

Vor allem am untersten Ende der Gehaltsskala - und die betrifft 70% aller Gehaltsbezieher - gibt es nochmals dramatische Einschnitte durch Modifikationen am Steuersystem, wie sie der Finanzminister in seinem Budgeentwurf angekündigt hat. Ein Bezieher des gesetzlichen Mindestlohnes (derzeit 78.000 Forint brutto, knapp 270.- EUR) bringt derzeit 60.600 Forint nach Hause. Wird dieser Lohn 2012 nicht angehoben, wird sich sein netto auf 51.870 Forint verringern, was einer weiteren Einbuße von 14,4% seines Einkommens gleichkommt. Bezieher eines Einkommens von 100.000 Forint brutto (in etwa der Minimallohn für Facharbeiter) haben dann rund 10% weniger.

Rechnet man die zusätzlichen Belastungen durch die bei Lebensmitteln und Wohnkosten überproportionalen Preissteigerungen (Brot binnen eins Jahres +30%) hinzu, müsste der Finanzminister eigentlich rot vor Scham anlaufen, diesen Leuten auch noch eine Mehrwertsteuererhöhung um 2 Punkte auf den europäischen Rekordwert von 27% zuzumuten. Die Reichen und die Besserverdienenden werden hingegen nicht nur geschont, sondern noch bezuschusst, eben durch das “proportionale Steuersystem”.

 

Das Problem mit dem Mindest- und dem Restgehalt

Allerdings ist nur ein kleiner Teil der mit Mindestgehalt angemeldeten Arbeitnehmer auch Bezieher nur desselben. In Ungarn ist es, vornehmlich in der Klein- und Mittelstandswirtschaft unanständige Praxis, die Menschen zu Minimalgehältern einzustellen und "den Rest" schwarz auszubezahlen. Das ist eine Art Notwehrmaßnahme von Klein- und Mittelunternehmern (Großkonzerne können sich diese Praxis wegen erhöhter Kontrolle nicht leisten, die setzen dann Zeitarbeitsfirmen als Lohndrücker ein) gegen ausufernde Lohnnebenkosten, die auch im kommenden Jahr weiter steigen, so wurden im Gegenzug zum Entfall dese Superbruttos als Berechnungsgrundlage der Einkommens(=Lohn)steuer die Beiträge zur Krankenversicherung um 1,5 Punkte auf Arbeitgeberseite, um 1 Punkt auf Arbeitnehmer angehoben.

Der Staat antwortete auf die Schwarzlohnzahlungen jedoch nie mit einer Entlastung von Arbeit, gar mit einem Dialog mit der Wirtschaft, sondern stets mit weiterer administrativer Repression. Im kommenden Jahr u.a. mit der Maßnahme, zur Kalkulation der Arbeitgeberanteile das 1,5fache des Mindestlohnes heranzuziehen. Außerdem steht eine gesetzliche Lohnerhöhung im Raum, damit die Gehälter der Angestellten auf jene Höhe geschraubt werden, bei der die Flat tax positive Auswirkungen hat (das ist dann so ab 300.000 brutto, bzw. 210.000 Forint netto der Fall, wenn (!) man wenigstens zwei Kinder hat) Unternehmer, die nicht mitziehen, müssen dann mit dem Ausschluss aus öffentlichen Vergabeverfahren rechnen. Wer bei der Schwarzzahlung von Lohn erwischt wird, bekommt in Zukunft ein gefängnisbewährtes Strafverfahren an den Hals. Zieht der Staat das Lohndiktat durch, wird das Arbeitsplätze kosten. Einige Angestellte werden dann profitieren, weil sie vollständig angemeldet sind, andere fliegen.

Hauptsache in Beschäftigung

Arbeitslosen und Sozialhilfeempfägern, eingeschlossen einige Zigtausend Menschen, die schon Frührentner waren, jetzt aber wieder "in Arbeit gebracht werden sollen" wird in Zukunft "kommunale Arbeit" verordnet. Wer den Wald nicht fegt, bekommt seine Stütze nicht. Dass durch das Fehlen eines - natürlich teuren, aber unumgänglichen - Fortbildungs- und Vermittlungsapparates die Perspektivlosigkeit der Arbeitslosen nur vergrößert wird (25% bei den Jugendlichen), sieht man in Budapest nicht.

Es genügt den Protagonisten der neuen Heilsideologie schon, dass "jeder der arbeiten kann, auch arbeitet" und die Zigeuner unter Aufsicht beschäftigt werden. Zeitgleich werden die Rechte der Arbeitnehmer durch ein neues Arbeitsrecht stark beschnitten, die Gewerkschaften entmachtet, das Streikrecht gerichtlich eingeschränkt. Orbán baut keine Volksrepublik, wie seine häufig ungemein naiven Anhänger glauben wollen, sondern einen Ständestaat, mit Oberschicht und Untertanen, es ist eine Neuauflage des Absolutismus im 21. Jahrhundert.

Kreditablösegesetz beschlossen, auch zum Nutzen der Parlamentarier

Beispiel 2: Das ungarische Parlament hat am Montagabend mit 277 Ja-Stimmen, also der Regierungsmehrheit das umstrittene Gesetz zur vorzeitigen Ablöse von Fremdwährungskrediten zu einem festgelegten Wechselkurs verabschiedet. Diejenigen, die in der Lage und Willens sind, ihren Forex-Kredit in einer Summe abzulösen und sich somit auch von allfälligen Zinsen zu befreien (die Ersparnis beträgt je nach Einstiegskurs bis zwischen 15% und 40%), müssten das bis 30. Dezember des Jahres ihrer Hausbank melden.

Die Opposition von der MSZP hatte vorgeschlagen, Parlamentsabgeordnete mit Fremdwährungskrediten von dieser Rückzahlungsmöglichkeit auszunehmen sowie eine Höchstsumme für die zu tilgende Hypothek festzulegen. Beide wurde von der Regierungsfraktion Fidesz-KDNP abgewiesen. Mehr als die Hälfte der Parlamentarier sind in Schweizer Franken bei Banken verschuldet, sie profitieren jetzt von ihrem eigenen Gesetz, während wirklich arme Menschen, die nicht in der Lage sein werden - die Mehrheit - eine Summe von 5-6 Mio. Forint auf einmal aufzubringen, wohl bis ans Ende ihrer Tage Kredite abzahlen werden. Der Blog Pusztaranger hat die (offizielle) Kreditsituation der Mandatare in Budapest aufgelistet: http://pusztaranger.wordpress.com/2011/09/17/ungarische-abgeordnete-profitieren-vom-schuldentrick/

Klientelpolitik für die Mittelklasse, statt "Befreiungsschlag" für das Volk

Experten kritisieren diesen Schritt als unnötige Unruhestiftung im ohnehin fragilen Finanzsektor, der Banken in Ungarn auf Jahre hinaus in ihrer Handlungsfähigkeit einschränkt und den Kreditmarkt weiter lähmen wird. Die Masse der Kreditnehmer hat nichts davon, im Gegenteil, sie werden nun gegenüber etwas besser Gestellten noch mehr marginalisiert. Orbán schleust private Sparguthaben in den Finanzsektor und belebt den lokalen Immobilienmarkt, weil etliche Häuser und Wohnungen, von Hypotheken befreit, nun wieder handelbar werden.

Letztlich also Klientelpolitik für die Mittelklasse, mithin die eigenen Leute. Von einer "Befreiung ungarischer Familien" wie die Maßnahme verkündet wurde, ist, angesichts der Realitäten, nichts zu sehen. Auch hier geht es nur um Umverteilung sowie Machtzugewinn zugunsten des Staates und der heimischen (die gestützt werden soll) gegenüber der ausländischen Finanzwirtschaft. (Ein ganz eigenes Kapitel wird in diesem Buch noch die neue Vergabepraxis nach dem neuen Széchenyi-Plan und die Entmachtung der Kommunen, dazu mehr, wenn es soweit ist.)

Die ungarische Regierung macht internationalen Kritikern gleich klar, dass sie, sollten sich Gerichte an dem neuen Gesetz vergreifen, noch einen Plan B und C in der Tasche hat. Das erklärte Ministerpräsident Orbán in einem Interview mit dem Boulevardblättchen Blikk. Er bezeichnete seine eigene Entscheidung als rechtlich riskant und erwartet sogar "angegriffen zu werden". Es sei sogar möglich, dass EU-Gerichte erst in Jahren die Unrechtmäßigkeit der Maßnahme feststellen, "dann müsste der Staat zahlen, nicht die Bürger". (Von wem hat jetzt gleich der Staat sein Geld? Anm.) Er werde gegen die Machenschaften der Banken aber "weiterkämpfen, bis wir gewinnen". Seinen eigenen 5 Mio. Forint-Kredit, auch auf CHF lautend, hat der Ministerpräsident bereits vor zwei Monaten abbezahlt, ließ er die Leser wissen. Wir gratulieren.

Verhaltensauffällig

Bleibt noch die Frage: Warum tut er das? Warum sollte einer, der angetreten ist, es dem Volke besser zu richten als zuvor, dies nicht auch wirklich wollen? Die Antwort in aller Kürze: Orbán ist Kind des Systems, auch seine Macht braucht Stützen, die gepflegt werden wollen. Aber noch viel wichtiger: Orbán hat verhaltensauffällige Züge, Macht ist ihm wichtiger als das Ergebnis seiner Politik. (siehe hier einige Belege von WikiLeaks) Die für ihn demütigenden Wahlniederlagen von 2002 und 2006 haben in ihm das Bewußtsein einer Sendung gestärkt, das eine eigene Dynamik gefunden hat, die sich schon nicht mehr im Bereich vollständiger Rationalität bewegt. Der soziale Frieden wird damit massiv gefährdet, gesellschaftliche Kommunikation verhindert, - Ungarn die Zukunft verbaut, zurück bleibt Frustration, mit allen bekannten Nebenwirkungen.

Der Volkstribun ist eine Lüge, eine Erfindung, ein Trick. Es gibt bei den ungarischen Eliten kein höheres Ethos. Die postulierte “konservative Revolution” ist - wir stellten das hier schonmal anhand der wackeligen Wirtschaftspolitik fest - nur vorgetäuscht. Es geht nur um Macht, möglichst absolute Macht.

red. / ms. / js.

 

 


 

 

 

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