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(c) Pester Lloyd / 40 - 2011  GESELLSCHAFT 04.10.2011

 

Blutschlamm

Den Opfern eine Stimme geben - ein Jahr Giftschlammkatastrophe in Ungarn

Fast ein Jahr hat der Journalist und Radiomacher Christian Lerch Opfer der Giftschlammkatastrophe in Kolontár und Devecser vom 4. Oktober begleitet. In dem bewegenden Feature "Blutschlamm. Die Flutkatastrophe im westungarischen Kolontar", eine Koproduktion von ORF und SWR, kommen sie zu Wort. Hier bekommen jene eine Stimme, die sonst nur als Zahlen vorkommen, als Opferstatistik des schmutzigen Spiels von wirtschaftlicher Skrupellosigkeit und politischen Machtkämpfen. Mit Podcast und Sendemanuskript.

Ein älteres Ehepaar erzählt, wie es schweren, nein, gebrochenen Herzens entschieden hat, die rotschlammverseuchte Gegend zu verlassen, die einmal ihre Heimat war und wie sie, nun im großen Budapest, vergeblich versuchen, das Geschehene zu vergessen, wenigstens hinter sich zu lassen. Eine alte Frau, noch immer in Devecser, berichtet von ihren entstellten Beinen, Verätzungen, die sie Zeit ihres Lebens zeichnen. Das alte Haus gibt es nicht mehr, doch die Bank will immer noch die Raten dafür. Sie will nicht weg. Wohin auch? Während viele Opfer neue, schmucke Häuser erhielten, manche sich materiell gesehen sogar verbesserten, vergaß man andere Opfer, ethnische Spannungen zwischen "Magyaren" und "Zigeunern" brechen auf, werden instrumentalisiert. Unzufriedenheit wird unterdrückt, Demos werden verboten, - Sperrgebiet.

Nachdem ein gestiefelter Regierungschef das Unglück besehen hatte, lief die “Renaturierung” in großem Maßstab an, materielle Hilfen kamen, staatliche, oft medial inszeniert, selbstlose aus dem In- und Ausland. Eine echte finanzielle Entschädigung gab es, bis auf ein paar hundert Euro “Vorschuss” noch nicht, verzögert sich wegen der juristisch noch immer offenen Schuldfrage, die auch staatliche Behörden in arge Verlegenheit bringen müsste. Versicherungen versuchten sich mit Abschlagszahlungen freizukaufen, ein unwürdiges Gefeilsche fand statt, um den Wert dessen, was einmal ein Zuhause war.

Politisch ist die Schuldfrage schnell geklärt worden, war sie es schon am Tage nach der "Naturkatastrophe", wie sie das zynische Firmenmanagement aus dem Dunstkreis der grauen Privatisierung unter den “Sozialisten” immer noch bezeichnet. Auch die “Sozialisten” bezeichnen sich heute noch als solche. Premier Orbán, nationalistisch-konservativer Volkstribun, sammelte die politische Rendite aus dem Versagen und der Gier seiner Vorgänger längst ein. Das war nicht so schwer.

Ein Bürgermeister, auch vom Fidesz, spricht von den Mühen der Ebene; seinen täglichen, 14stündigen verzweifelten Linderungsversuchen vor Ort, ein aalglatter Staatssekretär tritt auf und schwadroniert - in krassem Kontrast zu den authentischen Stimmen der Opfer und wirklichen Helfer - in smartestem Englisch über das perfekte Krisenmanagement, dass man ohnehin alles im Griff und sowieso alles richtig gemacht habe. Er betont die Bedeutung des Werkes als einem der größten Aluminiumproduzenten Europas. Und: man werde "einen Schuldigen" finden. Im September wird fast eine halbe Milliarde Euro Bußgeld verhängt, eine politische Zahl, rechtlich anfechtbar.

Die MAL produziert weiter, unter dem alten Managment, den alten Eigentümern, tausende Arbeitsplätze hängen daran und die Giftschlammtragödie, die zehn Tote, etliche Verletzte, Heimatlose und eine versehrte Landschaft hinterließ, scheint nur ein kleiner, immer unbedeutenderer Störfall im Getriebe eines Systems gewesen zu sein, das die Menschen beherrscht, obwohl es umgekehrt sein müsste. Auch die Medien gingen zur Tagesordnung über, ein Jahr danach wird von den sprichwörtlichen blühenden Landschaften berichtet, Schwamm drüber...

Bei der Premiere des Features im ORF-Kulturhaus am Montag, einen Tag vor dem Jahrestag der Katastrophe, kam in einer anschließenen Diskussion auch der Chefredakteur dieser Zeitung zu Wort und erwähnte, dass die Gefahren, die vom Rotschlamm in selbigen und anderen Becken, auch von der verbauten radioaktiven Flugasche ausgehen, für die sich sogar die Atomindustrie interessierte, längst nicht gebannt sind, sie aber aus "gesamtökonomischen" Überlegungen, aus Staatsräson verschwiegen werden. Die EU hat die Giftbecken von Kolontár ein paar Jahre vor der Katastrophe zur "Best avaiable technology" für den Umgang mit solchen Abfällen geadelt, die Dokumente dazu liegen vor, ganz offiziell.

Die Warnungen von Greenpeace, Experten, Medien oder gar von besorgten Bürgern verhallen an den Mauern eines präpotenten Apparates, der vorgibt, keine Hilfe von außen zu benötigen. Obwohl die heutige Regierung an der Katastrophe vom 4. Oktober 2010 nicht Schuld hat, trägt sie als Lenker des Staates doch die Verantwortung, erst recht, um eine Wiederholung zu vermeiden. Dieser stellt sie sich nicht oder nur in dem Maße wie es politisch ins Konzept passt. Gesetzliche Änderungen gab es nur beim Zugriff auf zukünftige Katastrophenverursacher, nicht bei der -vorbeugung. Macht vor Mensch, um es kurz zu sagen. So wirkt die skrupellose Gier der Vorgänger in der Überheblichkeit ihrer Nachfolger weiter, auf der Strecke bleiben, wie immer, die einfachen Menschen. Diesen eine Stimme gegeben zu haben, auch wenn es eine ohnmächtige scheint, ist das Verdienst von "Blutschlamm".

"Blutschlamm. Die Flutkatastrophe im westungarischen Kolontar", ein Feature von Christian Lerch, Redaktion: Elisabeth Stratka, Übersetzung: Tünde Kiss, eine Koproduktion von ORF und SWR.

Sendung am 8. Oktober, 9.05 Uhr auf Ö1
Ein Podcast kann beim ORF bis zum 15. Oktober gehört werden.

Ö1-Livestream: http://oe1.orf.at/konsole/?show=live
Link zur Sendung und zum Podcast: http://oe1.orf.at/programm/285571

Das Sendemanuskript kann beim SWR unter diesem Link heruntergeladen werden(pdf)
http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/feature/-/id=8496238/property=download/nid=659934/v6qdy1/swr2-f eature-20110928.pdf

Die Chronologie der Ereignisse im Pester Lloyd
http://www.pesterlloyd.net/2010_40/40update5/40update5.html

Schmutzige Geheimnisse: Vorbild mit Todesfolge
Das Rotschlammbecken in Ungarn als Referenz für EU-Standards - eine Recherche
http://www.pesterlloyd.net/2011_19/19rotschlamm/19rotschlamm.html

 

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