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(c) Pester Lloyd / 41 - 2011  FEUILLETON 14.10.2011

 

Jus resistendi

Ungarn könnte bald Gesetze aus dem Mittelalter anwenden

Diese provokante These entstammt nicht den bösartigen Zungen feindlich gesinnter Gesellen, sondern den schmal gewordenen Lippen des ehemaligen Kabinettschefs von Premier Viktor Orbán, der seit 2010 als von selbigem entsandter Verfassungsrichter der Demontage seines Arbeitsplatzes beiwohnen darf. Er glaubt, dass es die Formulierungen der neuen Verfassung ermöglichen, einen "Blutvertrag" aus dem 9. Jahrhundert und die "Goldene Bulle" von 1222 anzuwenden. Darin läge aber auch eine Chance...

István Stumpf, Oberster Verfassungsrichter Ungarns, von 1998-2002 Kabinettschef in der ersten Orbán-Regierung und weithin unverdächtig linker Anwandlungen, hat sich auf einer Juristenkonferenz verbal Luft über die neue Verfassung und die Rolle seines Gerichtes darin verschafft. Er erläuterte, dass die Verfassung, die am 1. Januar 2012 in Kraft treten wird, vorschreibt, dass das "Verfassungsgericht seine Entscheidungen im Einklang mit der Verfassung, seiner Präambel (christliche Werte, Anm.) und der `historischen Konstitution` des Landes zu treffen hat."

Gottesurteile machen langwierige Berufungsverfahren überflüssig. Gott sei Dank!
Die Präambel und den Verfassungstext in deutscher Sprache (einem Entwurf folgend) finden Sie hier:
http://www.pesterlloyd.net/VerfassungsentwurfDT.pdf

Der anerkannte Rechtsprofessor Stumpf schließt daraus, dass das Verfassungsgericht, dass durch eine neue Altersgrenze und eine Aufstockung der Richterzahl bald eine andere politische Lastigkeit bekommen wird, seine Entscheidungen "künftig auch auf der Basis mittelalterlicher Rechtsprechung" treffen könnte. Als Beispiel dafür nannte er die "Goldene Bulle von 1222" sowie den "Blutvertrag" aus dem 9. Jahrhundert, der quasi als Gründungsdokument Ungarns gelten könne. Stumpf sprach weiter Klartext, in dem er resümierte, dass die "Reduzierung der Rechte des Gerichtes" (Streichung von budgetrelevanten Themen aus der Kompetenz des Verfassungsgerichtes) eine "offene Wunde" in den Konsitutionalismus des Landes geschlagen hätte.

Man darf Herrn Professor Stumpf (Foto) zu dieser späten Einsicht gratulieren, kann ihn aber gleichzeitig beruhigen, denn die "Goldene Bulle" von 1222, verfasst von König Andreas II. in höchster Not, regelte nicht nur die Pflichten und Rechte der Adeligen gegenüber König und Vaterland, sondern enthielt auch einen Passus, der den Adeligen das Recht einräumt, den königlichen Willen zu missachten, falls dieser selbst gegen das Recht handele (Ius resistendi, Artikel 31). Weiterhin ist in der Bulle die Kirche von der Steuer befreit (Artikel 3), die Adeligen sowieso, heute bekommen beide sogar noch Steuergelder zugezahlt, womit doch eine gewisser Rechts"fortschritt" erkennbar wäre.

Die ungarischen Adeligen haben die "Widerstandsklausel" gegen den König übrigens Ende des 17. Jahrhunderts abgeschafft, aus Dank für das Haus Habsburg, das sie von den Türken befreit habe. Das Verfassungsgericht könnte sie ja wieder einführen, schließlich handelt es sich um eine uralte, erhaltenswerte und vielleicht einmal wieder ganz brauchbare ungarische Tradition. Auch über Gottesurteile, das Recht der ersten Nacht und vor allem über Bäckertaufen lohnt das Nachdenken. Anlässlich der neuen "strategischen Partnerschaft" mit Saudi-Arabien könnte man auch die forensische Effizienz der Sharia zu Rate ziehen, so als Teil eines "neuen Systems"...

ms.

 

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