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(c) Pester Lloyd / 41 - 2011  POLITIK 14.10.2011

 

Armut als Straftat

Obdachlosen in Ungarn droht Gefängnis

Ab Dezember gelten in Budapest neue Ordnungsregeln für Obdachlose. Kurz gesagt, Obdachlosigkeit wird verboten. Wer sich nicht in Asyle einweisen lässt, riskiert Verhaftung und Geldstrafen, dabei hat die Regierung selbst erst die Platznot geschaffen. Die Maßnahmen zum "Schutz vor dem Kältetod" werden von einem Hardliner kooridiniert, der schon einmal in seinem Bezirk versucht hat, Obdachlose per Dekret zu kriminalisieren. Der Menschenrechtsbeauftragte zieht nun vor das Verfassungsgericht.

Blick in eines der Obdachlosenasyle einer Hilfsorganisation in Budapest. (Link zur Reportage am Ende des Textes) Viele wurden aufgelöst, ein “neues System” soll es nun richten, doch die Zeit drängt... Foto: Pester Lloyd (c)

"Das Leben auf der Straße" wird untersagt, "jeder wird mit einer beheizten Unterkunft ausgestattet, auch gegen seinen Willen.", so Máté Kocsis, jener Bezirksbürgermeister des VIII. Budapester Bezirks, der gerade mit einer Volksbefragung zur Kriminalisierung von Obdachlosen gescheitert war. Zum Dank dafür hat ihn die Regierungspartei zum "Parteikommissar für Obdachlosenfragen" ernannt, denn beim Fidesz zählen ideologisch korrekte Großmäuler noch immer mehr als Fachexperten, wie nicht nur dieses Beispiel zeigt. Kocsis sagte am Donnerstag vor Pressevertretern, er würde lieber Proteste und juristische Auseinandersetzungen in Kauf nehmen als nochmal zu risikieren, dass Menschen erfrieren. Vor wenigen Tagen waren zwei Obdachlose in Budapest den Kältetod gestorben, was die Opposition als "Warnsignal" an die Stadtregierung wertete, ihre Symbolpolitik durch wirklich helfende Schritte zu ersetzen.

Um den Bedarf für den kommenden Winter zu decken, werden "im Dezember drei neue Obdachlosenasyle eröffnet", sagte Kocsics, verschwieg dabei aber, dass durch die schlagartige Einstellung der Kooperation mit den einschlägigen und erfahrenen Hilfsorganisationen es überhaupt erst zu einem solchen Engpass gekommen war, der nach Experteneinschätzungen diesen Winter einige zusätzliche Opfer kosten kann. Die Fidesz-Mannschaft sprach, wie überall, von einem "neuen System" und vergab die Förderungen für die Unterstützervereine neu, wobei (traditionelle) kirchliche Organisationen bevorzugt wurden, nur eine größere NGO mit ausgewiesener Expertise ist noch dabei.

Vegetarische Armenspeisung durch die Hare Krishna. Den jahrelang betriebenen und akzeptierten Standplatz bekam die “Sekte” entzogen, dafür sorgten Politiker der Eiferer von der KDNP. Nächstenliebe soll nicht einfach Menschen-, sondern Christenwerk sein.

Diese warnte bereits, dass die Zeit der Vorbereitung in diesem Jahr viel zu kurz ist, die Mittel zu knapp bemessen. Dem Fidesz war es wichtiger, solchen unchristlichen Sekten wie den Hare krishnas eine seit zehn Jahren betriebene Suppenküche auf einem zentralem Platz zu untersagen (letzte Nachricht) oder Fußgängerunterführungen aus ästhetischen und merkantilen Gründen zu “reinigen” als sich zügig um praktikable Hilfspartnerschaften mit geübten Gruppen zu kümmern. OB István Tarlós macht keinen Hehl daraus, dass er “Obdachlosigkeit” vornehmlich als “polizeiliches Problem” (zweite Nachricht) ansehe.

"Kommissar" Kocsis wies inzwischen jedoch gnädig daraufhin, dass die neuen von der Stadt eingeführten Geldstrafen für "Herumlungern" u.ä. erst dann greifen sollten, wenn wirklich Jeder "einen Platz zum bleiben" habe, ein Hinweis darauf, dass es doch noch nicht wo weit sein könnte. Der Bedarf wird von unabhängigen Schätzern auf rund 3000 Plätze im Winter berechnet, wovon rund 800 noch fehlen. Im letzten Winter wurden von den Behörden 84 Kältetote in Ungarn gemeldet, ein deutlicher Rückgang gegenüber dem Jahr davor, was entweder auf noch weniger Emapthie bei den sozio-liberalen Vorgängern oder auf ein neues Statistiksystem hinweisen kann.

Die "Politik der harten Hand", die die Fidesz-Stadt- und Bezirksregierungen gegen Obdachlose fahren (Zackigkeit kommt bei den Sympathisanten an), könnte dazu führen, dass Obdachlose reihenweise im Gefängnis landen. Entweder, weil sie die aufgebrummten Geldtsrafen nicht zahlen könnten, was zu Ersatzhaft (Schuldturm) führen würde oder weil sie sich weigern, die staatlichen Unterbringungsangebote anzunehmen. Auch die Überbelegung von Asylen könnte Obdachlose in "Schlafhaft" bringen. Die Weigerungen Obdachloser, Hilfe vom Stat anzunehmen haben derweil oft psychologische Ursachen, die die Polizei nicht überschauen und "behandeln" kann. Das scheint keine Rolle zu spielen. Insofern stellt sich die Frage, ob die Gedankenspiele von Verfassungsrichter Stumpf, ob bald wieder mittelalterliche Rechtsprechung in Ungarn greifen könnte, nicht schon längst Realität geworden sind.

Hauptsache weg aus den Blicken der Passanten. Sieht man das Elend nicht, gibt es auch keins?
Fotos: Pester Lloyd

Der martialische Ausruf des "Parteikommissars": "Niemandem wird es erlaubt sein, die Nacht auf der Straße zu verbringen", löst das Problem nicht, ist sich auch der parlamentarische Ombudsmann für Menschenrechte, Máté Szabó, sicher. Er wandte sich in der Sache nun an das Verfassungsgericht, weil es nicht sein könne, dass Menschen in einer aufgeklärten Gesellschaft wegen Obdachlosigkeit zu Kriminellen gestempelt würden. Das löse das Problem nicht, handele es sich doch bei Obdachlosigkeit um die Auswirkungen einer sozialen Krise und unterliegt meistens nicht einer "persönlichen Entscheidung" des Betroffenen. Die Bestrafung von Obdachlosen für ihren Status bestrafe sie ein zweites Mal und verhindere zudem keine weitere Obdachlosigkeit, so der Ombudsmann, dessen bisher relativ unabhängiges Amt im nächsten Jahr zentralisiert wird.

M.S.

Unsere Reportage zum Thema:

Der verdrängte Skandal - Januar 2010
Obdachlosigkeit in Ungarn: die Krise ist auf der Straße angekommen

 

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