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(c) Pester Lloyd / 44 - 2011  POLITIK 30.10.2011

 

Licht im Nebel

Perspektiven für einen Machtwechsel in Ungarn

Nach der Spaltung der Sozialistischen Partei (MSZP), eröffnen sich neue, wenn auch vage Perspektiven für die kommende politische Landschaft in Ungarn. Die Hofschreiber der regierenden Rechten machen sich Sorgen, dass die Abspaltung der Partei der Demokratischen Koalition (DKP) mit Ex-Premier und Erzfeind Ferenc Gyurcsány an der Spitze einem Masterplan folgt, an dessen Ende Ex-Premier Gordon Bajnai als einender Herausforderer für ein Mitte-Links-Bündnis stehen könnte. Doch ganz so einfach ist es nicht.

Ministerpräsident Viktor Orbán. Wer wagt es, sich ihm entgegen zu stellen?

Bajnai als Olivenkandidat im Wartestand?

Wir erinnern uns, Bajnai, ein parteiloser Wirtschaftsprüfer mit einiger ökonomischer Expertise, trotzdem von linker Gesinnung und ruhigem Charakter sowie guten Kontakten, löste 2009 als Notnagel der Sozialisten Gyurcsány als Regierungschef ab und führte bis zur Wahl im Frühjhar 2010 eine MSZP-Minderheitsregierung, die knapp zur Hälfte aus Fachleuten bestand. Mit diesen versuchte er die Auswirkungen der Krise einzudämmen und Ungarn vor dem Bankrott zu bewahren. Das Urteil über seine kurze Amtszeit ist geteilt, die Mehrheit sieht in ihm einen fleißigen Fachmann, der in der ausufernden Lage das Beste tat, was er konnte. Die Gegenseite zeiht ihn bis heute der sklavischen Unterordnung unter IWF-Dekrete, die zur "Abhängigkeit" Ungarns, ja zur Selbstaufgabe geführt hätten. Jenseits der Parolen erkennt man doch auch im heutigen Regierungslager - freilich ohne es auszusprechen - an, dass Bajnai damals womöglich kaum eine andere Wahl hatte.

Amtsvorgänger Gordon Bajnai wird als eine Möglichkeit gesehen,
gilt aber manchen als zu linkslastig, anderen zu harmlos.

Nach den Wahlen zog sich Bajnai zurück und befindet sich, so die Einschätzung des politischen Gegners, in seinem kürzlich neugegründeten Think tank "Heimat und Fortschritt", dessen Vorstand eine Art Schattenkabinett darstellt, in Wartestellung für eine Wiederkehr auf die politische Bühne. Das Volk verbindet mit Bajnai die erste Welle schmerzhafter Sparmaßnahmen, doch dürfte der Groll angesichts der durch die neue Regierung eingeschlagenen Richtung nicht so groß sein, dass er nicht mehr wählbar ist, denn immerhin kam Bajnai ohne Ideologie aus, ja war sogar in der Lage lagerübergreifende Versöhnungstendenzen anzuregen. Leider war er für die Umsetzung zu schwach, auch wegen seines Übergansstatus`. Daher auch das angestrengte Bemühen seitens der Rechten, Bajnai mit Gyurcsány zu einer gleichnamigen "Ära" zu verbinden, auf das jener etwas Dreck vom Stecken des anderen abbekommt. Es ist jedoch zum ersten Mal eine Atmosphäre spürbar, die nicht mehr einer totalen Ohnmacht der Opposition als Ganzes gleichkommt. Das ist neu.

Rechte Verschwörungstheorien

Das regierungsnahe Blatt Magyar Nemzet mutmaßt nun, dass, jetzt, da Gyurcsány seine eigene Partei hat, die MSZP nicht mehr als koalitionsunfähig dasteht und sich sogar die sonst in dieser Hinsicht sehr verklemmte LMP, zumindest Teile von ihr, für eine gemeinsame Koalition zur Ablösung der Rechtskonservativen bereit erklären könnte. Dabei gehen die regierungsnahen Schreiber stets von einem Masterplan aus, dunklen Mächten, die im Hintergrund die Strippen ziehen. Unvorstellbar, dass sich auf natürlichem Wege Verbündete für ein hehres Ziel finden.

Offenbar können diese Leute nicht anders denken, weil ihre Welt tatsächlich so funktioniert, wie die systematische Gleichschaltung der bürgerlichen Parteienlandschaft durch das Fidesz gezeigt hatte, die ihre Fortsetzung in der absolutistischen Umgestaltung von Staat und Gesellschaft erfährt, hinter der tatsächlich ein Masterplan und ein "Master" steht. Ungarn steht heute dem bulgarischen Modell näher, bei dem sich lediglich ab und an zwei Mafiafamilien an den Hebeln der Macht ablösen als dem tschechischen, in denen etliche “Familien” im stetigen Spiel der Kräfte um die Oberhand ringen.

Lauwarmer Schluck Wasser gegen einen Politvulkan

Nur durch eine Wahleinheit, das ist beiden Seiten klar, besteht für die Opposition überhaupt irgendwann eine Aussicht, Fidesz-KDNP in Wahlen zu besiegen, immerhin muss man neben deren Wählerschaft ja auch bis zu 20% (!) der zur Wahl Entschlossenen für die neofaschistische Jobbik abschreiben. Bajnai wäre für dieses links-liberal-gemäßigt bürgerliche Projekt geeignet, fürchtet und hofft die Rechte gleichermaßen. Letzteres, weil dessen Charisma im Vergleich zu Orbáns sich verhält wie das eines lauwarmen Schluckes Wasser zu einem Vulkan.

Ansonsten ist die Personaldecke im linken Spektrum eher dünn und besteht, neben einer Legion von Untersuchungshäfltingen überwiegend aus abgehalfterten Apparatschiks oder - im anderen Extrem - aus hochintelligenten Intellektuellen, denen alles gegeben ist, außer die Gabe, sich dem Volk zu nähern. Dass sich die linke Landeshälfte dazu durchringen könnte, einen "Nichtlinken" anzusprechen, dafür ist die Zeit noch nicht reif.

Den Leuten erklären, warum diese Regierung schlecht für sie und das Land ist

Die zaudernde, verkopfte und auf Äquidistanz setzende LMP (7,5% im Parlament) könnte durch ein breites, linksorientiertes Bündnis zu einer Positionierung gezwungen werden, auch hinsichtlich des teilweise allzu "kollegialen" Umgangs einiger Führungsmitglieder mit der Jobbik, da sie andernfalls in der wieder auf einen Lagerwahlkampf hinauslaufenden Kampagne Gefahr läuft, ganz unter die Räder und aus dem Parlament zu kommen. Auch die Ex-Anhänger der untergegangenen Wendeparteien SZDSZ und MDF suchen eine politische Heimat und sind überwiegend Anti-Fidesz.

Entscheidend für den Wahlsieg eines Mitte-Links-"Olivenbündnisses", wie es in Italien einmal einen Erfolg verzeichnete, wird nicht so sehr die sporadische Begeisterung der Facebook-Generation sein, sondern die Aktivierung der immer zahlreicheren unentschlossenen, politiverdrossenen wahlberechtigten Bürger, einfacher Arbeiter und Angestellter, die vom Politikbetrieb schlicht die Schnauze voll haben und welche die absolute Mehrheit der Wähler stellen.

Dabei kann eine vorsichtige Einbindung (nicht Vereinnahmung) der offensiven, nicht der taktierenden Gewerkschaftskonföderationen (Beispiel LIGA), die aufgrund der Politik der Orbán-Regierung eine immer größere Mobilisierungsfähigkeit erringen, nur richtig und wichtig sein, diese können nämlich am besten kommunizieren, wie und warum die Politik der heutigen Regierung ans Eingemachte geht, in Forint und Franken sozusagen. Zugleich muss man verdeutlichen, dass die Ablehnung von Orbáns Politik, nicht automatisch die Zustimmung zum Gyurcsány-Lager bedeutet. Das ist gar nicht so leicht, die rechte Propaganda leistet hier einiges. Die neue Szolidaritás - als konföderationsübergreifende Gewerkschaftsbewegung - wird hier die zentrale Rolle spielen.

Die Bürgerbewegungen haben kaum eine Chance den Parteienstaat zu stürzen

Eine umfassende Bürgerbewegung von Arbeitern, Intellektuellen, Angestellten, Studenten, Land- wie Stadtbevölkerung, die sich gemeinsam gegen den Parteienstaat, eben "das System, das man nicht mag", erhebt und aus der sich ein Kandidat schält, der als wirklicher Volksvertreter eine neue Art von Politik, vielleicht sogar echte Demokratie verkörpern könnte, bleibt, da muss man sich keinerlei Illusion hingeben, in der immernoch ideologieüberfrachteten Athmosphäre im Land eine Chimäre, zumindest auf nationaler Ebene. Denkbar, dass Bewegungen wie die neue ungarische Szolidarnosc, Bürgerbewegungen, Facebook-Gruppen, Studenten, etc. die etablierten Parteien (derer sind ja nur eineinhalb) zu programmatischen Gewichtsverschiebungen bewegen, sie auf lokaler Ebene unter Druck setzen können. Sie zu ersetzen, werden sie nur in der Lage sein, wenn sie sich ihnen strukturell annähern, was in gewisser Weise eine Aufgabe des Graswurzelanspruches beinhalten müsste.

Selbst konservativen Geistern geht die Selbstherrlichkeit
der Machthaber auf den Geist

Was ist realistischer? Hält sich Gyurcsány im Hintergrund, was viele für pathologisch ausgeschlossen halten und gibt die MSZP ihre trotzige Alleinvertretungsattitüde auf, was auch als unwahrscheinlich gelten darf, besteht für ein Bündnis links von der und um die Mitte herum, sogar die Chance auf eine längerfristige strategische Mehrheit im Lande, auch wenn man das angesichts der Zustände im Land und aufgrund des letzten Wahlergebnisses heute kaum glauben mag. Man darf dabei aber nicht übersehen, dass nicht wenige konservative Geister wie auch “normales Fidesz-Wahlvolk” von der selbstherrlichen Attitüde und den ständestaatlichen Anmaßungen, dieser Politik der Übertreibung, nicht besonders viel halten. Nicht alle wählen dauerhaft den Weg zu den Radikalen oder in die Politikverweigerung, wenn ihnen entsprechende Perspektiven einleuchten. Ob Bajnai für diese Leute jedoch die richtige Figur ist, darf stark bezweifelt werden.

Nebel am pannonischen Himmel

Gehen wir aber davon aus, dass die Mehrheit der Ungarn Stabilität, Normalität wünscht, so kann auch das Land irgendwann wieder "normal" werden und wird sich eine konsensfähige Führungsfigur, ohne die es nunmal nicht zu gehen scheint, gefunden werden. Möglich, dass das noch nicht 2014 funktioniert und dass es - Dank des geschaffenen Rückversicherungssystems, das dem Fidesz strukturellen und personellen Einfluss nach einer Machtablösung sichert, Dank auch der neuen, demokratiefeindlichen Verfassung - lange brauchen wird, das Land zu normalisieren (was “normal” bedeutet, ist freilich eigene Abhandlungen wert, was es nicht bedeutet, sieht man tagtäglich).

Dass aber der Stern des Fidesz, auch der Orbáns, längst im Sinken begriffen ist, wird nur übersehen, weil allzuviele Wolken und Theaternebel noch den pannonischen Himmel bedecken und verbergen, dass Orbán und seine Armada des eitlen Mittelmaßes - in Summe - dem Land mehr schaden als nutzen, was letztlich zu ihrer Ablösung führen muss.

Marco Schicker

 

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