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(c) Pester Lloyd / 45 - 2011  WIRTSCHAFT 14.11.2011

 

Unberechenbar

Herabgestuft: In Ungarn regiert der Realitätsverlust

Ungarn rangiert in der Bewertung seiner Kreditwürdigkeit - eineinhalb Jahre nach Übernahme der Macht durch die Orbán-Regierung - nur noch einen Wimpernschlag über "Ramsch". Die Herabstufung auf "kreditunwürdig" ist praktisch schon einprogrammiert, Griechenland kommt in Sichtweite. Die Regierung zieht daraus jedoch die falschen Konsequenzen. Statt die fehlgeleitete Fiskalpolitik taktisch zu korrigieren und der Wirtschaft die Straßen freizuräumen, bastelt sie an ihren liebgewonnenen Feindbildern, spielt den Beleidigten und findet sich immer noch ganz toll - auf Kosten des Volkes. Im Hintergrund läuft bereits ein Notprogramm an, das in die nächste Sackgasse führt.

Staatspapiere verkaufen sich kaum noch

Während die ungarische Regierung täglich mit sich und den Medien ringt, um wieviel man bereit sein müsste, die eigenen Wachstumsprognosen zu senken, um als glaubwürdig dazustehen, haben die Wächter der internationalen Gläubigerschaft bereits ihre Konsequenzen aus der chaotischen Haushaltsplanung und unvorhersagbaren Wirtschaftspolitik gezogen. Von BBB- geht es auf die "Beobachtungsliste", ob das Land womöglich ganz kredituntauglich geworden ist. Experten gehen davon aus, dass bis Ende des Jahres der Daumen gesenkt sein dürfte.

Was bedeutet dies konkret? Seit Monaten schon hat die staatliche Schuldenagentur immer größere Probleme, vor allem die mittel- und langfristigen Staatsanleihen zu vernünftigen Zinsen auf den Markt zu bringen, zuletzt mussten Auktionen von Staatspapieren mangels Nachfrage immer öfter ganz abgesagt werden, auf dem Sekundärmarkt zogen die Zinsaufschläge an. Noch kurz nach dem Amtsantritt Orbáns rissen sich die Märkte um ungarische Forint-Obligationen, Vertrauen war also einmal vorhanden.

Die Regierung “profitiert” vom schwachen Forint, das Volk bezahlt

Der Schuldendienst wird sich nun weiter verteuern, was das ohnehin auf falschen Annahmen beruhende Budget nicht aushält. Es zu überziehen und neue Staatsschulden zu machen, sehen viele zwar als unausweichlich, doch damit würde die Regierung gleich zu Beginn der neuen Verfassungsära die neue, heilskündende Verfassung brechen. Die verbietet neue Schulden.

Der Forint, jahrelang künstlich hochgehalten, verlor binnen weniger Wochen über ein Viertel an Wert, was neben den privaten Schuldnern, auch Kleinunternehmen und Kommunen im Land das finanzielle Genick bricht. Die Hoheit über letztere hat sich der Staat angeeignet, damit auch deren Schulden. Nicht einmal 15% der Forex-Schuldner haben die Potenz, ihre Fremdwährungskredite auf einen Schlag zu den von der Regierung festgelegten bevorzugten Kursen und gebührenfrei abzulösen, der Rest wird weiter und immer stärker bluten, damit die Regierung durch Abwertung ihre Nominalschulden verringern kann und (vielleicht) gut dasteht. Die ausländischen Investoren, die vornehmlich für den Export arbeiten (und nicht alle bilanzieren auschließlich in Euro), werden gegen einen schwachen Forint nichts einzuwenden haben. Nur das "normale Volk" bleibt auf der Strecke. Immerhin eine Kontinuität...

China ist der neue IWF

Was kann Ungarn nun tun? - Man sandte zunächt den Entwicklungsminister nach China, einem der neuen "strategischen Partner", der als Retter in der Not auftreten und damit den IWF ersetzen soll. Es wurde bereits bestätigt, dass die chinesische Nationalbank ungarische Papiere "übernommen" habe, "zu Details kann ich keine Auskunft geben", raunte der Minister. Natürlich nicht, weil es keine besonders vorteilhafte Optik ergibt, dass das stolze Ungarn, dass sich aus der "Umklammerung der Finanzmärkte" und der Abhängigkeit von der EU ("Brüssel ist das neue Moskau", Orbán) befreien wollte, nun ausgerechnet der KP Chinas andienen muss. Fellegi berichtet nur Gutes von seiner Rettungs-Mission bzw. Betteltour in China: ein "größerer" Investor und eine "unabhängige Kreditratingagentur" haben "weitergehendes Kooperationsinteresse" angedeutet. Klar, denn im Karpatenbecken scheint man derzeit billig zukaufen zu können.

Dabei stellte der Vizeaußenminister Fu Ying, der sich als Gesprächspartner für den ungarischen Minister einfand, einmal mehr "die stabile politische Lage" in Ungarn als ein wichtiges Investionsargument in den Vordergrund. Auf Deutsch: die Zustände in Ungarn (prä- und omnipotenter Staat, machtlose Gewerkschaften, gezähmte Judikative) sind den chinesischen schon so ähnlich geworden, dass man sich dort fast wie zu Hause fühlen kann. Minister Fellegi führte die "unabhängige" Ratingagentur Dagong Global Credit Rating sogar als Kronzeugin gegen Europa ins Feld, die die ungarische Mutmaßung: nur die Krise der Eurozone zieht Ungarn herunter, bestätigten. China soll den IWF ersetzen, dafür schenkt Ungarn Arbeitnehmerrechte her und begibt sich in eine unkalkulierbare neue Abhängigkeit, die aber den "östlichen Traditionen Ungarns", auch so einem schwammigen neuen Mythos, entspräche. Die Chinesen ließen sich im Gegenzug den Auftrag für eine Schnellbahn-Verbindung zwischen dem Budapester Airport und dem Zentrum zusichern und einiges mehr von dem man aus "strategischen Gründen" nichts erfährt.

Regierung belegt ihre Inkompetenz und "Unberechenbarkeit"

Auch im Rest des Regierungslagers belegt man mit all seinen Taten und Worten, warum "Unberechenbarkeit" das Hauptargument für die Herabstufung durch die Ratingagenturen gewesen ist, die man als nationale Herabwürdigung empfindet. Man ist sich zwar bewusst, dass man mit dem Rücken zur Wand steht, zieht daraus aber (wieder) die falschen Konsequenzen. Statt taktisch notwendiger Korrekturen in der Steuerpolitik gibt sich Premier Orbán nach außen unbeeindruckt, stur und unbelehrbar. Sein Nationalwirtschaftsminister, der zwar nachweislich unfähig, aber dennoch für das wichtigste Papier des Landes, den Haushalt, verantwortlich ist, stößt jeden zweiten Morgen neue "Anpassungen" in die Welt, in der Hoffnung "die Märkte" würden einen seiner Zahlenvorschläge einmal doch akzeptieren mögen.

Orbáns Sprecher und Versteher Péter Szijjártó, der uns bisher noch jede Volte der Regierung schlüssig und knapp beizubringen wusste, fand auch diesmal die richtigen, zumindest die passenden Worte: "Die Kursverluste des Forint und die derzeit wieder auftretenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten werden von den Entwicklungen in der Eurozone verursacht. - Kein seriöser Ökonom würde etwas anderes behaupten." Und: "Es gibt keinen Anhaltspunkt für eine Herabstufung." Punkt. Nicht so kämpferisch, dafür besonders weinerlich zeigte sich der Präsident der Industrie- und Handelskammer und ehemalige Badewannen-Verkäufer László Parragh (Foto). Er meinte: "die Verlierer der Politik der letzten eineinhalb Jahre: Banken, Handelsketten, Energiekonzerne" würden nun "Rache an Ungarn üben". Ungarn habe die Herabstufung "einfach nicht verdient."

Ein Budget ohne Basis, eine Regierung ohne Fachleute

Freilich rechnen die "unseriösen" Ökonomen auch mit den völlig falschen Zahlen. Statt mit den (bereits nach unten korrigierten) 1,5% BIP-Wachstum der Regierung zu operieren, gehen die "Feinde Ungarns" (das mag jetzt so ironisch klingen, aber das steht hier tatsächlich in Zeitungsartikeln) von 0,5 bis -1% aus. Damit wird der Staatshaushalt verfassungswidrig. Praktischerweise macht das aber nichts, weil das Verfassungsgericht dem nichts entgegensetzen kann, ist es nämlich - laut Verfassung - "bis die Schuldenquote von unter 50% erreicht wurde" von der Rechtspsrechung "das Budget betreffend" ausgeschlossen.

Der Haushaltsrat, ein gleichgeschaltetes Wächtergremium, könnte, ja müsste eigentlich sein Veto gegen das Budget 2012 einlegen, doch die Mitglieder dieses "Expertenrates" sind dazu nicht willens, ihr eigentlicher Auftrag ist es nämlich, durch ihr Vetorecht die politischen Nachfolger an der Arbeit zu hindern. Man hat Experten, Ratgeber systematisch von der Macht und ihrer Kontrolle ausgeschlossen, einen kritischen Staatssekretär hat man erst kürzlich aus dem Wirtschaftsministerium “entfernt”, Fakten stören. Die Konsequenzen aus dem allgemeinen brain drain erfahren die Laien in Budapest nun schwarz auf weiß von anderen, solchen, die sie nicht kündigen können.

Märchenstunde im Parlament und vor der Presse

Matolcsy schickte Ende der Woche seinen Staatssekretär an die Medienfront, der sollte mit ein paar Worten Märkte, Investoren und Kundschaft beruhigen. Das kam dabei heraus: "Bevor wir irgendwelche Änderungen an unseren Wachstumsprognosen vornehmen, warten wir auf offizielle Korrekturen aus Deutschland." Nun kann sich in Deutschland zwar das Wachstum verlangsamen, Einfluss auf die Flat-tax-Rate von 16% hat Frau Merkel aber nicht. Und genau die kostet das Land derzeit die Milliarden, die ihm fehlen. "Die Flat tax ist der Garant für andauerndes Wachstum und neue Arbeitsplätze", dieser Satz aus dem Kellerabteil der Neoliberalen, an den die selbst nicht mehr glauben, steht noch immer wie gemeißelt im Regierungsporgramm, (denn er stammt vom Großen Vorsitzenden selbst) und selbst das schon totgesagte Märchen von "einer Million neuer Arbeitsplätze bis 2020" traute sich ein Fidesz-Abgerodneter zur Belustigung der Runde im Parlament nochmals vorzutragen. Staatssekretär Cséfalvy teilte der F.A.Z. sogar mit: Ungarn hat die Wende geschafft. Nur, die Wende wohin?

Orbán drehte in London am ganz großen Rad

Orbán hielt, derweil sein Land den Bach herunterrauscht, hochwichtige Vorträge vor Finanzfachleuten in London, in der Höhle des Löwen sozusagen. Doch anstatt in der “London School of Economics and Political Scienes” zu erklären, wie er sein Land nun wirklich stabilisieren wird und warum er den Besserverdienern Steuergeschenke in Größenordnungen macht, während er gleichzeitig Frührentner zu Sozialhilfeempfängern degradiert, die dann doch keine wertschöpfende Arbeit mehr finden oder wenigstens zu sagen, wie er in zwei Jahren seine Schulden bezahlen will, schwadronierte er darüber, dass Ungarn eigentlich gar keinen Euro mehr braucht und welche Fehler die Eurozone gemacht habe, in der Hoffnung, das kommt in England gut an. Staunend verfolgten die Banker Orbáns Rede über “Mitteleuropa als Wachstumsmotor” und sein Eigenlob der “unorthodoxen Maßnahmen”, ja die Ankündigung einer “ganz neuen Weltordnung”. Er werde das Bankwesen umwerfen, der Staat wird die Finanzierung des Mittelstandes übernehmen, etc. Hätte es noch einer Begründung für die Herabstufung gebraucht, Orbán lieferte sie in London persönlich ab.

Wohlklingende Ankündigungen - diametrale Realität

Was "den Märkten" aber auch den "unseriösen Ökonomen" nicht passt, ist in erster Linie die Instrumentalisierung von Wirtschaftsdaten für die Ideologie. Das entfernt den Staatshaushalt und die Finanz- wie Wirtschaftspolitik fast automatisch von ökonomischer Logik und damit auch von volkswirtschaftlicher Vernunft. Den wohlklingenden Ankündigungen der Regierung nach Schuldenabbau, Aktivierung der eigenen Kräfte, Verringerung der strukturellen Defizite, Ankurbelung von Wirtschaft und Konsum stehen gegenüber: Löcher mit Einmaleinnahmen stopfen, statt strukturelle Defizite durhc Reformen abzubauen, weitere Schuldenaufnahme bei Drittquellen, Steuergeschenke an Besserverdienende, Erhöhung der Arbeitskosten und sonstiger Belastungen für KMU, Verarmung der unteren Einkommensschichten durch die Flat tax (Superbrutto), Protektionismus bei Förderungen, Subventionen und Investitionshilfen, unberechenbarer staatliche Eingriffe in die Wirtschafts- (Genehmigungen) und Kapitalkreisläufe (Forexablöse), Schaffung Dutzender neuer Steuerarten, u.a. Erhöhung der Mehrwertsteuer auf EU-Rekordniveau, damit Abwürgen von Konsum etc. etc. Dazu kommt natürlich noch ein ungünstiges europäisches und zumindest nicht einfaches globales Umfeld sowie ein schweres Erbe, aber es kommt eben nur dazu, ist nicht die Hauptursache für Ungarns heutigen Marsch in griechische Gefilde.

Hypnotische Fixierung auf einen großen Vorsitzenden

Ohne die (einmaligen) Milliarden aus der beschlagnahmten privaten Rentenversicherung wäre Ungarn schon heute pleite, doch die Regierung verschob die Tilgung der Schulden der Staatsbetriebe, die mit diesen Geldern vorgesehen war - um andere - völlig unerwartete - Budgetlöcher zu stopfen. Damit reißen neue Löcher auf. Was geschieht nächstes Jahr? Noch eine Sondersteuer für die bösen Multis? Straßenmaut, Bart- oder Hochzeitssteuern wie im Mittelalter? Plünderungsfeldzüge nach Norden?

Man kann über die Macht der Ratingagenturen erbost sein, sie als Wachhunde der internationalen Spekulationsmafia einordnen und das ganze System der demokratiebeschädigenden Abhängigkeit der Staaten von der Hochfinanz verdammen. Fakt ist, dass die Richtersprüche der smarten Analysten reale Auswirkungen auf Volkswirtschaften haben, ihre Macht also ungebrochen ist, solange die Staaten Teil "des Systems" sind.

Was Ungarn betrifft, hatten Moodys, Fitch und Standard & Poors sich eigentlich relativ lange zurückgehalten. Schließlich erhoffte man sich durch die rechte Regierung, der man instinktiv mehr ökonomischen Sachverstand als der linken unterstellte, eine Wende zum Guten. Doch die blieb aus, weil sich die geradezu hypnotisch auf Premier Orbán fixierte Regierungsmannschaft vollkommen in ihrem anachronistisch-eklektizistischen Mischmach von Nationalistischem wie Sozialistischem verhedderte. Orbán hat aber keinen blassen Schimmer von Wirtschaft und unterließ es, sich die richtigen Fachleute an die Seite zu holen, aus Angst, jemand könnte Schatten auf seinen Glanz fallen lassen.

Sein Ziel war ein blühender, nationalistischer Ständestaat, eine Chimäre, in dem alles wird, wie es früher schon nie war. Das Ergebnis läuft zur Zeit auf ein zweites Griechenland hinaus, nur ohne Meer. Denn diese Regierung zeigt neben wenig Sachverstand mindestens genauso viel Respektlosigkeit gegenüber dem Souverän wie ihre Vorgänger oder die griechischen und italienischen Mafiafamilien, die dort seit Jahrzehnten die Regierungen stellen. In der Zeit der jetzigen Bedrängnis wird die Unberechenbarkeit dieser Regierung nur noch stärker, die Uneinsichtigkeit und pathologische Versagensangst des kleinen Gernegroß in Budapest kann zu weiteren Kurzschlusshandlungen führen, die Ungarn tatsächlich und endgültig ruinieren. Daran sollte die “Ratingangtur der Demokratie”, vulgo: Volk, beim nächsten Mal denken.

Dazu: Széchenyi würde auswandern - Chaos als einzige Konstante der Wirtschaftspolitik in Ungarn http://www.pesterlloyd.net/2011_44/44chaoswirtschaft/44chaoswirtschaft.html

Mehr zum Budget 2011, der Wirtschafts- und Steuerpolitik und der ökonomischen Lage im Ressort WIRTSCHAFT sowie den dazugehörigen Rubriken.

red. / M.S.

 

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