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(c) Pester Lloyd / 45 - 2011  GESELLSCHAFT 17.11.2011

 

Eine richtige, ganz große Familie

Zu Besuch in einem SOS-Kinderdorf in Ungarn

Seit 25 Jahren arbeiten SOS-Kinderdörfer in Ungarn. Sie bieten, was staatliche Kinderheime nicht bieten können: eine echte Familie. Bei einem Besuch im SOS-Kinderdorf in Kecskemét werfen wir einen Blick auf die engagierte Arbeit und die Probleme des Systems und einen Blick in die Wohnstuben der Menschen hinein, die mit ihren vielen verschiedenen Schicksalen eine Sehnsucht teilen, die nach Normalität und Geborgenheit, einem Ort und Menschen, zu denen sie gehören.

Dénes wirkt wie ein typischer Jugendlicher. Der 19-Jährige hat ein sanftes Gemüt, mag Rockmusik, hat seit kurzem seine erste Freundin und möchte bald eine Ausbildung zum Informatiker beginnen. Doch an seine frühe Kindheit erinnert er sich nicht gern. Vor 13 Jahren ließen seine Eltern ihn und seine jüngeren Geschwister in einem verfallenen Bauernhaus einfach zurück. Als dies einstürzte, fanden Nachbarn die Kleinkinder die weder etwas zu Essen, noch richtige Kleidung hatten.

Zuhause statt Heim

„Der häufigste Grund, warum die Behörden aufmerksam werden und die Kinder zu uns kommen, ist, dass sie von ihren Eltern ausgesetzt oder zurückgelassen werden", so Krisztina Mina, Koordinatorin der Organisation SOS Kinderdorf in Ungarn. Die Organisation ist von ihrer Größe an 15. Stelle der insgesamt 30.000 nichtstaatlichen Organisationen und ist seit über 25 Jahren in Ungarn aktiv. Sie betreut Säuglinge, Kinder und Jugendliche teilweise bis zu Beendigung ihrer Ausbildung bis 24 Jahre. In Ungarn gibt es drei Kinderdörfer und drei Jugendhäuser. Neben dem ältesten Kinderdorf in Battonya, welches 1983 gegründet wurde, befindet sich das zweitgrößte in Kecskemét, 90 km südlich von Budapest. Hier leben 139 Kinder bzw. Jugendliche und 40 Säuglinge. Die Organisation legt, konträr zu staatlichen Einrichtungen, die mehr verwahren, den Fokus auf den Familienverbund. Acht bis neun Kinder jeden Alters leben mit einer Pflegemutter oder Pflegeeltern in einem Haus. Ist kein Platz, so werden sie an Pflegeeltern vermittelt.

Fast 200.000 Kinder gelten als gefährdet

Laut dem nationalem Statistikamt KSH sind derzeit rund 18.000 Kinder in staatlicher Obhut, knapp 198.000 werden in ihrer Entwicklung als „gefährdet" eingestuft. Bevor die Kinder in staatliche Obhut übergeben werden oder zu Pflegeeltern kommen muss viel passieren. Aufgrund des 1997 in Kraft getretenen Gesetzes zum Schutze der Kinder ist es verboten diese aus den Familien zu nehmen, wenn als einziger Grund Armut angeführt werden kann. „Die meisten Probleme entstehen allerdings aus der schlechten finanziellen Situation der Familien heraus. Arbeitslosigkeit, schlechte Bildung und fehlende Vorbilder führen häufig dazu, dass die eigenen Kinder als Belastung angesehen werden", so Mina.

Es kommt auch vor, dass die Kinder nach gewisser Zeit in die Familien zurück können. „Das ist leider seltenst der Fall. Da muss viel Geduld und von Seiten der Eltern viel Wille da sein", erklärt Mina. Letztlich ist der Familienverbund die beste Möglichkeit, ein Kind gut unterzubringen. Sie lernen Verantwortung zu übernehmen und ein Miteinander. In staatlichen Einrichtungen ist dies weniger bis gar nicht der Fall. Kann ein Kind nicht an eine Pflegefamilie vermittelt werden, so lebt es in einem Heim bis es 18 Jahre alt ist. Danach bekommt es ein bisschen Geld und soll von nun an sein Leben selbst regeln. Die meisten dieser Jugendlichen rutschen so in die Kriminalität ab oder werden obdachlos.

Bestmögliche Schadensbegrenzung

Die Diplompsychologin Laura Bliedung hält den Familienverbund ebenfalls für die beste Variante, Kindern eine Struktur zu geben. „Wie standfähig ein Mensch gegenüber Problemen ist, ist natürlich eine Sache des Charakters und der Genetik. Dennoch lernen vor allem Kleinkinder durch Emotion und Beobachtung der Personen um sich herum. Letztlich muss man aber zugeben, dass Pflegeeltern bei schweren Fällen nur Schadensbegrenzung leisten können." Solche Fälle betreuen Psychologen in den Kinderdörfern zusätzlich zu den Gruppensitzungen in Einzeltherapien.

Einen Teenager dazu zu bringen, über seine Probleme zu reden und eine Therapie erfolgreich abzuschließen, ist jedoch schwierig. „Mit Teenagern ist es besonders problematisch. Sie haben ihren Platz in der Gesellschaft noch nicht gefunden und sind von vorn herein eher misstrauisch", so Kéci Zoltánné, Leiterin des SOS Kinderdorfes in Kecskemét. Sie hat 20 Jahre bei der staatlichen Kinderbetreuung im Komitat Békés gearbeitet und bestätigt zudem, dass die staatlichen Einrichtungen sich immer mehr auf Nichtregierungsorganisationen verlassen. Die Stadt Kecskemét hat kürzlich aus Geldmangel die Betreuungsabteilung für Säuglinge geschlossen und diese komplett in die Obhut des SOS-Kinderdorfes gegeben.

Extrem viele Neuzugänge in den letzten Monaten

„Wir haben in den letzten Monaten extrem viele Neuzugänge verzeichnet. Bis Jahresende werden mit Sicherheit weitere dazukommen", so Kéci. Viele Mütter setzen ihre Neugeborenen aus Panik aus oder sind mit der Situation völlig überfordert. Wenn sie allein sind und von der Familie keine Unterstützung erfahren, dann geben sie ihre Kinder aus Verzweiflung auf. „Dazu kommt noch die hormonelle Veränderung in den Wochen nach der Geburt, die im schlechtesten Fall zu einer Depression und Ablehnung des Neugeborenen seitens der Mutter führen kann", erklärt Laura Bliedung.

Schwerer Zugang zu Romafamilien - Herkunft spielt aber keine Rolle

Kéci sieht einen wesentlichen Grund für die Publikwerdung von Fällen in der Erstarkung der Zivilgesellschaft. „Noch vor 20 Jahren war häusliche Gewalt und Vergewaltigung eine Sache der Familie, man hat sich da nicht eingemischt. Heute wissen die Menschen, an wen sie sich wenden können und immer mehr Kinder selbst melden Missstände beim Arzt, dem Lehrer oder direkt bei der Polizei." Die Behörden werden derzeit am häufigsten durch anonyme Meldungen aufmerksam. Die Möglichkeit, anonym einen Fall zu melden, besteht erst seit wenigen Jahren. „Minderheiten, wie die Roma, klären das in ihren Strukturen meist selbst", so Kéci, was ja vieles bedeuten kann. Wie viele Romakinder im System landen kann keiner sagen. Im SOS Kinderdorf wird darüber keine Statistik geführt. Kéci erklärt, dass „es uns hier in der Organisation völlig egal ist, ob Roma oder nicht. Wenn ein Kind Hilfe braucht geben wir sie ihm." Man hört raus, dass man das Problem hier nicht vertiefen will, das sollte man ohnehin an anderer Adresse.

Éva Németh (Foto) hätte sich gewünscht, dass ihr jemand zeitiger geholfen hätte. Sie ist eine Pflegemutter und betreut acht Kinder. Ihre Tochter macht eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester und wohnt ebenfalls mit in dem Einfamilienhaus. „Ich selbst hatte keine schöne Kindheit und diese Aufgabe hier erfüllt mich", erklärt sie. Nachdem ihr zweiter Ehemann mehr Kinder wollte, entschied sich das Paar vor neun Jahren, Pflegeeltern zu werden. Seit zwei Jahren leben sie in Kecskemét in dem SOS Kinderdorf.

Die neue Familie kann nichts ungeschehen machen - aber Liebe heilt

Éva ist sehr positiv eingestellt, „hier ist es wie in einer ganz großen Familie. Jeder kennt sich, man unternimmt viel und die Kinder können auf staatliche Schulen in der Stadt. Es ist alles integrativ und vernetzt." Die Erfolgsquote gibt der Organisation Recht, dass das System funktioniert. Ungefähr 90 Prozent der Kinder machen eine Ausbildung, gehen zur Universität und haben später eigene Familien. Die meisten betätigen sich in sozialen und pädagogischen Berufen. Diplompsychologin Bliedung sieht darin keine Überraschung. „Ehemalige Pflegekinder wollen meist etwas zurückgeben. Die Kindheitserfahrungen lassen sich nicht einfach auslöschen und dadurch, dass sie anderen helfen, helfen sie auch ein Stück sich selbst." Dénes hat sich vorgenommen, nach seiner Ausbildung regelmäßig im Kinderdorf vorbeizuschauen. Er kann nicht ungeschehen machen, was ihm passiert ist, aber er lebt mit dem Wissen, eine Familie gefunden zu haben, die ihn liebt.

Vivienne Kiss

 

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