(c) Pester Lloyd / 47 - 2011
POLITIK 23.11.2011
Drehtür der Geschichte
Ungarn auf dem Weg zum "Sozialistengesetz" - Analyse & Kommentar
In seinem unermüdlichen Kampf um die "Ausmerzung des Kommunismus" greift Ungarns Regierungschef Viktor Orbán zu neuen, rabiaten Methoden. Die
Wirtschafsdaten bleiben mies, die Umfragewerte waren auch schonmal besser, da muss man sich schon etwas einfallen lassen, um das Volk bei Laune zu halten. Nun
soll - per Gesetz - die MSZP für die Verbrechen ihrer Vorgängerpartei, die MSZMP, mithaften, damit endlich "die, die während der kommunistischen Zeit Verbrechen
begangen haben, zur Verantwortung gezogen werden können."
Rückwirkende Kollektivschuld und anderer Nonsense
Problematisch an dem Gesetzesvorwurf, der zur Zeit auf den Parlamentsgängen ventiliert
wird, ist nicht nur, die - wieder einmal - rückwirkende Gestaltung und Anwendung von Gesetzen (daran hat man sich beim heutigen Ungarn schon fast gewöhnt) sowie die
hanebüchene Kollektivschuldthese, sondern der Umstand, dass es auch im Fidesz - und anderen Parteien - eine Reihe von ehemaligen Mitgliedern der "Einheitspartei" gibt,
worauf sich die Frage stellt, ob dann nicht zumindest eine Teilmithaftung logisch wäre. Auch beansprucht die Munkáspárt (Kommunistische Arbeiterpartei) in inhaltlicher Weise
die Nachfolgeschaft des nur mäßig lustigen Baracken-Ungarns, doch die ist nunmal politisch keine Gefahr für die Machthaber.
Auch wenn es stimmt, dass zahlreiche Verbrechen im Stalinismus und in der
poststalinistischen, vulgo gulaschkommunistischen Ära ungesühnt geblieben sind, auch solche, die schon damals strafbar waren, ist der Vorstoß aus der ungarischen
Regierungspartei Fidesz genauso rechtsstaatsfremd wie durchsichtig. Ein Manöver, dass ausgerechnet jetzt gefahren wird, wo klar ist, dass Orbáns Truppe die Fäden in der
Wirtschaftspolitik zu entgleiten drohen und all die vielen, schönen Versprechungen der "neuen Ära" wohl noch eine Weile auf ihre Erfüllung warten müssen.
Opposition im Wachkoma, aber: sicher ist sicher
Der Entwurf zu diesem Gesetz, das sogar in Verfassungsrang erhoben werden soll, ist ein
neuer Höhepunkt in einer Abfolge von ideologisch gelenktem Unsinn, bei dem man dachte, die Spitze des Eisberges wäre mit dem Vorschlag von Fidesz-Fraktionschef Lázár
erreicht, man müsse die passenden Gesetze, die Gyurcsány, Medgyessy und Bajnai (die drei vorherigen Premiers) ins Gefängnis bringen, notfalls erschaffen, um dem
"Gerechtigkeitssinn des Volkes" genüge zu tun.
Die Anhäufung von Staatsschulden, die man dafür als strafbares Delikt im Auge hatte,
stellten sich als ungeeignet heraus, weil man in der nationalkonservativen Magengegend das Gefühl nicht los wurde, auf diese Weise eher früher als später auch eigene Leute im
Knast sehen zu müssen. Danach kam die Idee auf, ehemalige Fuktionäre des untergegangenen Systems zur Kasse zu bitten und ihnen die Rente zusammen zu
streichen. Dieser Plan ist auch Teil dieses Gesetzeswerkes.
So ganz vertraut Orbán offenbar also doch nicht auf ein andauerndes politisches
Wachkoma der MSZP, auch die aktuellsten Umfragewerte bringen die beiden großen Parteien in eine lange nicht gesehene Nähe, bei Ipsos beträgt der Abstand bei den zur
Wahl Entschiedenen "nurmehr" 16 Prozentpunkte, bisher lag man dort permanent bei um die 30. Um sicher zu gehen, müssen die guten alten Instrumente: Verteufelung und
Diffamierung her. Denn dieses Gesetz ist nur ein Ausdruck der Entschlossenheit, die "links-liberale" Ära, dieses pauschale Fabelwesen, ein für alle mal zu beenden.
Kulturpolitik, Bildungsreform, Arbeitsrecht, Verfassung, Gleichschaltung der öffentlich-rechtlichen Medien etc. sollen hier als einige weiterführende Stichworte genügen.
Die heutige Rechtslage ist im Hinblick der juristischen Aufarbeitung der jüngeren
Vergangenheit so, dass jene, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Mord begangen haben, verfolgt werden können, da es sich dabei um Taten handelt, die nicht
verjähren. Das neue Gesetz würde den Kreis der "Täter" um jene erweitern, die dem Regime bei der Umsetzung seiner Rechtsbrüche geholfen haben, eine
Gummiformulierung, die genau jener Willkür wieder Tür und Tor öffnete, die man mit dem Gesetz vorgibt, aufarbeiten zu wollen.
Wann hört eine Demokratie auf zu existieren?
Einen ähnlichen Vorstoß gab es schon einmal, kurz nach der Wende, dieser wurde vom
Verfassungsgericht mit Hinweis auf die Aushebelung der Verjährungsfristen abgeschmettert. Unerreicht ist jedoch die "Nachfolgethese". Eine gesamte Partei ist
schuldig. Warum verbietet man sie dann nicht gleich? Und was ist mit denen, die nach 1989 in die MSZP eintraten, ja vielleicht sogar erst nach 1989 geboren wurden und sich
für diese Partei entschieden? Sind die auch mit schuldig? Hier riecht es nicht nur nach Gesinnungsjustiz, sondern es stinkt gewaltig.
Die politische Orientierung von Menschen - noch indirekt - als pauschal strafbare Handlung
einzustufen, steht in gewisser Weise in logischer Reihung mit der Entmachtung von demokratischen Kontrollinstitutionen, der Entrechtung von Arbeitnehmern, der Kriminalisierung von Obdachlosen und mit dem hier gepflegten Umgang mit der Roma-Minderheit. Wann, so ist die Frage heute in Ungarn, hört eine Demokratie eigentlich auf, eine solche zu sein? -
Möglicherweise macht man sich hier aber unnötigerweise Sorgen. Vielleicht steckt hinter
alldem gar kein großer Plan, vielleicht ist es nur die Rachsucht Orbáns, der weder die Schmach seiner früheren Wahlniederlagen, noch die mangelnde internationale
Anerkennung seiner historischen Bedeutung und schon gar nicht den arg an seinem Lack kratzenden Canossa-Gang zum IWF verschmerzen kann, ohne diese “Demütigungen”
weiterzugeben und so ein vielsagendes Zeugnis seiner “Reife” zur Führung eines europäischen Staates ablegt.
Warum kümmert man sich nicht um die Stasiakten?
Es wäre dabei durchaus an der Zeit gewesen, Gelgenheit war ohnedies, die mehr oder
wenig ungeordnet herumliegenden Stasiakten endlich per Gesetz einer systematischen Be- und Auswertung zu unterziehen und damit dem Wunsch nach Aufarbeitung Fakten
beizuordnen. Dass dies bis heute nicht geschah, übrigens in Ungarn als fast dem einzigen postkommunistischen Land nicht, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass nicht nur die
Abgeordneten und Funktionsträger der MSZP blamable Aufdeckungen fürchten müssten.
Die Konservativen der EU lassen Orbán alles durchgehen
Offen bleibt auch die Frage, wer bei einem solchen "Sozialistengesetz" das Recht der
Anklageerhebung erhält. Dies entscheidet mit darüber, ob diejenigen, die in den 70er und 80er Jahren für das Kádár-Regime tätig waren und sich nun auf der anderen politischen
Seite eingerichtet haben, auch mit zur Verantwortung gezogen werden können oder ob das Gesetz nur für "Unbelehrbare" der MSZP gelten wird, die noch immer nicht den
"richtigen" Weg eingeschlagen haben. Werden Individualklagen zugelassen oder wird ein selektierendes "Organ" vorgeschaltet, vielleicht wieder einer der Sonderermittler von
Orbáns Gnaden?
Natürlich müsste man, um ein solches Gesetz zum Wirken zu bringen, das
Verfassungsgericht in einer weiteren Sparte entmannen, was noch leicht sein wird. Die unvermeidliche Niederlage eines solchen Gesetzes vor EU-Gerichten ist nicht ganz so leicht
zu verhindern, freilich werden bei Missachtung allfälliger Urteile keinerlei Sanktionen auf Ungarn zukommen, das wird die Kameraderie der konservativen Reichshälfte schon zu
verhindern wissen, wie sie bisher noch jeden Frevel aus Budapest durchgehen ließ, ja ihn sogar heimlich beklatschte, so lange es nicht ans Eingemachte, sprich ans Geld ging. Sie
sind schlicht fasziniert, wie man mit "demokratischen" Mitteln die Demokratie unterpflügen kann. Doch selbst für den Fall, das Brüssel z.B. den strafweisen Einbehalt von
Renten untersagt, hat man vorgesorgt, dann werden nicht die Rentner, sondern die Multis mit neuen Sondersteuern zur Kasse gebeten. Auch eine Möglichkeit, die
konzerngesteuerte EU zum Schweigen zu bringen.
Historische Sendung, göttliche Fügung
Die Reaktionen aus dem linken Lager in Ungarn waren erwartbar, natürlich benennt man
dort das offensichtliche Ablenkungsmanöver von der Wirtschaftsmisere (wobei man das eigene Verschulden daran noch immer nicht ansatzweise eingesteht). Doch auch Juristen
ohne linke Ambitionen schütteln nur noch die so weisen wie stummen Häupter. Die Ablenkungsthese erklärt hier nur einen Teil der Geschichte, denn die Chefideologen von
Fidesz-KDNP, allen voran Orbán selbst, glauben tatsächlich an ihre historische Sendung (Präsident Schmitt sogar an eine Art göttlichen Auftrag), die "Nachwendeära" zu beenden,
bzw. "die Tür zum 20. Jahrhundert endlich zuzuschlagen", wie es, trefflich wie immer, Fraktionschef Lázár auszudrücken beliebt.
Dass sich diese Tür als Drehtür herausstellen könnte, bei der man am Ende in den gleichen
oder ähnlichen Zuständen landet, aus denen man gekommen ist, geschmückt nur mit Krone und Kreuz, statt Hammer und Sichel, das ist die Tragik Ungarns, genauso wie der
Umstand, dass sich das Volk noch immer und schon wieder relativ geduldig mit derlei Stumpfsinn aus der Mottenkiste der politischen Manipulation abspeisen lässt.
M.S.
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