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DIE WOCHE AUF EINEN BLICK

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(c) Pester Lloyd / 48 - 2011  BUDAPEST 29.11.2011

 

Kopflos

Schafft Ungarn seine Hauptstadt ab?

Es vergeht kaum ein Tag, an dem aus Budapest nicht Meldungen kommen, die noch absurder klingen als am Tag zuvor. Dabei ist die ungarische Realität heute so, dass man fahrlässig handelte, folgte man nicht jedem noch so haarsträubenden Gerücht. Am Wochenende fühlte sich der Budapester Oberbürgermeister István Tarlos zu einer dringenden Mitteilung auf der offizellen Webseite des Rathauses gedrängt, seine Sorge: Budapest könnte aufgelöst werden.

Dabei geht es um kursierende Änderungsvorschläge zur aktuell behandelten neuen Kommunalgesetzgebung als Teil der "Kardinalsgesetze" der Verfassung, die derzeit dutzendweise durchs Parlament geprügelt werden, um es noch rechtzeitig bis Jahresende ins Grundgesetz zu schaffen.

Wer Augen hat, kann sehen. Hier schaut es noch nach Eitelsonnenschein zwischen den Parteifreunden aus, als OB Tarlós seinem großen Vorsitzenden die Einnahme des roten Budapest melden konnte.

Budapest, so lauten die Vorschläge aus Reihen der Regierungspartei, solle zu einem Komitat und die 23 Stadtbezirke der Hauptstadt zu unabhängigen Kommunen umgewandelt werden. Die tatsächliche Umsetzung derartiger Pläne würden das Ende der 140-jährigen politischen Einheit Budapests bedeuten, de jure würde die Stadt aufhören zu existieren, Debrecen wäre dann die größte Stadt Ungarns. Einer der Bezirke müsste alsdann die Funktionen der Komitatshauptstadt übernehmen, die Landeshauptstadt wären dann 23 Gemeinden.

Doch schon bei der konstituierenden Sitzung des Budapester Stadtparlamentes
schien Orbán höhere Mächte um Rat anzusuchenl...

Das ist doch Irsinn? Abwarten: der Schritt würde auf der einen Seite bedeuten, dass die Zentralregierung die Verantwortung für die zentralen städtischen Einrichtungen übernehmen müsste, aber auch die uneingeschränkte Macht darüber hätte (erst kürzlich wurden sämtliche Institutionen der Komitate in die Obhut des Staates überschrieben, wird Budapest Komitat ginge es ihm genauso.). Allerdings bliebe man auch auf den Schulden von BKV, sämtlichen städtischen Beteiligungen und zumindest jenen 59% Haushaltsschulden der Stadt sitzen, für die der Staat schon heute bürgen muss.

Im Hintergrund des Vorschlages steht aber womöglich auch die Überlegung, das tendentiell eher liberal veranlagte Budapest als zukünftiges oppositionelles Machtzentrum auszuschalten, denn das die Wahl Tarlós`zum OB ein Ausrutscher war, hat mittlerweile auch der letzte Budapester gemerkt. Dieser würde bei der Auflösung der Stadt ganz nebenbei auch überflüssig werden. Das könnte man mit dem beliebten "Effizienz steigern, Überlappungen vermeiden." bestens begründen.

Denn der Budapester OB, einst als gestrenger Gefolgsmann Orbáns gestartet, ist mit nicht wenigen seiner Parteikollegen über Kreuz, sein autoritärer Führungsstil und mangelnde Sachkompetenz haben viele Kratzer im Lack hinterlassen. Orbán hält ihn - so sagt man - mittlerweile nur noch für ein peinliches Großmaul, das er lieber heute als morgen kaltstellen würde. Möglich, dass sich beide einfach zu ähnlich sind?

Tarlós warnte in seinem Statement vor einer "unkontrollierbaren politischen Situation". Budapest hätte als Komitat keine Kompetenzen mehr bei der Umsetzung öffentlicher Dienstleistungen, wie z.B. großer Transport- und Infrastrukturmaßnahmen, welche dann ausschließlich bei den Stadtbezirken (dann Kommunen) liegen würden. So müsste z.B. der Bau der Metro 4 überwiegend vom V. Bezirk, der Ausbau der Budapester Straßenbahn vom VI. Bezirk und die Umstrukturierung des Széll Kálmán tér (ehem. Moszkva tér) von insgesamt drei Bezirken übernommen, finanziert und organisiert werden. Die meisten Projekte würden so undurchführbar.

Dies Bild bedarf kaum eines Kommentars. Rechts steht Vizepremier Semjén, der schon zu wissen scheint, welches Schicksal OB Tarlós erwartet.

Die brodelende Gerüchteküche sagt auch einiges über das Kommunikationschaos bei der Regierungspartei aus. Tarlós sagte, dass er sich ob der Risiken dieser Gesetzesänderungsvorschläge nicht vorstellen könne, dass Ministerpräsident Orbán überhaupt etwas über diese Pläne wisse, womit er zugab, dass er als Hauptbetroffener einer solchen Maßnahme nicht einmal informiert, geschweige denn, um Rat gefragt worden ist. Anschließend sprach er aber Orbán vorsichtshalber seinen Dank für die schnell erteilten (vor Monaten vereinbarten) Hilfs-Zuschüsse über 5 Millarden Forint für die Budapester Verkehrsbetriebe (BKV) auszurichten. Tarlós wies jedoch darauf hin, dass die Summe noch lange nicht ausreichen werde um einen möglichen Zusammenbruch des öffentlichen Nahverkehrs in Budapest Anfang nächsten Jahres abzuwenden. Dazu: Abgebrannt - BKV wieder vor der Pleite, OB geht betteln.

Székesfehérvár wird neue Hauptstadt

Die Äußerungen des OB fügen sich nathlos in die Scharmünzel der letzten Tage ein, die Regierungssprecher András Giró-Szász letzte Woche, einen Tag nach der Genehmigung der 5-Millarden-Spritze für die BKV angeheizt hatte. Giró-Szász warf der Hauptstadt, die doch immerhin von einem Parteifreund regiert wird, dabei Schlampigkeit vor und wies darauf hin, dass der größte Teil des ungarischen BIP in Budapest erwirtschaftet werde und die Hauptstadt auch die meisten Steuereinnahmen unter allen Städten verzeichne (welch Überraschung!), daher müsse es Budapest in Zukunft möglich sein, ohne Hilfe der Regierung seinen öffentlichen Nahverkehr aufrecht zu erhalten.

Tarlós konterte, dass nur 1% der Budapester Steuereinnahmen bei der Stadtverwaltung lande, 99% aber der Staatshaushalt aufsauge, also der Nahverkehr auch in Zukunft keinesfalls ohne das Geld von oben, und zwar sehr viel Geld, aufrecht erhalten werden könne. Der Schlagabtausch zwischen dem Regierungssprecher und dem OB war nur ein Höhepunkt im aktuellen Tarlós-Bashing, das Ausmaße angenommen hat, die einschlägig bekannten Oppositionsmedien sogar Titelgeschichten wert sind. (siehe Foto)

Das durchgestrichene Ortsschild ist nicht unser halblustiger Kommentar zum Thema, sondern die Bebilderung des entsprechenden Beitrages auf der offiziellen Seite des Rathauses: http://www.budapest.hu/engine.aspx?page=news&artname=20111126-cikk-TIstaj

Unsere Nachfragen im Rathaus, bis wann man seinen Wohnsitz ummelden müsse und wie genau die medialen Sprachregelungen für die Zukunft sein werden ("traf zu einem offiziellen Besuch in Leopoldstadt, dem ungarischen Hauptdorf ein?") oder ob bald Mautgebühren auf den Donaubrücken beim Wechsel zwischen den Bezirken fällig werden, wollte oder konnte man uns nicht beantworten. Große Projekte brauchen eben ihre Zeit.

Unser Vorschlag ginge dahin, die alten Strukturen vor der Stadtgründung wieder herzustellen, also Budapest wieder in die drei Tteile, Buda (Ofen), Pest und Altofen (Óbuda) zu teilen und im freien Kampf der Kräfte nach ein paar Jahren zu schauen, wer sich am besten schlägt. Dessen System wird dann übernommen. Székesfehérvár wird Hauptstadt Ungarns, hier ist schließlich Orbán geboren und wurden schon vor langer Zeit auch andere ungarische Könige gekrönt.

red. / Varga

 

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