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DIE WOCHE AUF EINEN BLICK

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(c) Pester Lloyd / 49 - 2011  POLITIK 07.12.2011

 

Die eilige Kurie

Aus der parlamentarischen Woche in Ungarn - UPDATE 8.12.

Da nützt die schönste Zweidrittelmehrheit nichts, wenn die Kopiergeräte nicht mitziehen. Am 1. Januar tritt die neue Verfassung in Kraft und es war der ausgesprochene Ehrgeiz der Regierungspartei, möglichst alle in der Verfassung verankerten "Kardinalsgesetze", vom Wahlrecht bis zum Steuersatz bis dahin unter Dach und Fach zu bringen. Nun bleiben viele Artikel im Grundgesetz zunächst ein Hohlkörper mit dem Eitkett: Fortsetzung folgt. Nur bei den Personalien, da drückt man auffalllend aufs Tempo.

Wie jedes Jahr wird auch in diesem ein großer Weihnachtsbaum den Platz vor dem ungarischen Parlament schmücken. Nicht wenige wünschen sich einen ganzen Wald davor.

Die Nationalbank wird erst entmachtet, wenn das Geld auf dem Konto ist

Zu den Gesetzen, die womöglich noch bis zur Mitte des kommenden Jahres auf Implementierung warten müssen, gehören - ungenannt bleiben wollenden Quellen nach - das besonders umfehdete Wahlgesetz sowie das Nationalbankgesetz. Dieser Umstand bestätigt zumindest, dass es - wenigstens im Frühjahr - doch nicht, wie geunkt wurde, zu Neuwahlen kommen wird und die Vertagung des Nationalbankgesetzes könnte durchaus nicht nur organisatorische Gründe hat. In diesem ist nämlich quasi die Entmachtung des Gouverneurs der MNB und damit die Abschaffung der Unabhängigkeit der Zentralbank vorgesehen, was zum jetzigen Zeitpunkt, da man gezwungen ist, mit dem IWF über ein neues "Sicherheitsnetz" zu verhandeln, nicht besonders gut ankommt. Ist das Geld mal auf dem Konto, dürfte die Umsetzung nicht mehr allzu schwer fallen.

Chaos in der Gerichtspraxis möglich

Die Verschiebungen der Kardinalsgesetze haben einen enormen administrativen Mehraufwand zur Folge, denn die Verfassung muss nun mit Anmerkungen bepflastert werden, die auf die noch kommenden Gesetze hinweisen. Und wo kein Gesetz, da keine Rechtsprechung. Das bedeutet, dass Gerichte nun ab 1.1., trotz neuer Verfassung (hier unsere Themenseite dazu), viele Fälle noch nach den alten, ja immer noch gültigen Gesetzen behandeln müssen, ihre Rechtsprechung aber aufgrund der erwarteten Änderungen nur eingeschränkten Charakter haben kann, denn schon die zweite Instanz müsste dann andere Gesetze anwenden (rückwirkende Anwendung ist ja heute in Ungarn längst kein Tabu mehr) als die erste, Urteile aufheben, rücküberweisen, neue Verfahren einleiten und wäre im ständigen Kampf mit Formalien. Im besten (oder schlimmsten?) Fall gibt es einen Gerichtsstau. Die Unsicherheit dieser “Übergangsphase” manifestierte sich bereits im Schwanzeinziehen des ohnehin kastrierten Verfassungsgerichtes.

Wächterrat bis nächste Woche

Viele weitere Gesetze marschieren derweil im Gleichschritt durchs Parlament, als würde ohne die juristische Neuregelung eines jeden Lebensbereiches das Land morgen schon auseinanderfallen. Schon vor der Sommerpause erlebte die Republik, die damals noch so hieß, eine ähnliche Gesetzesflut, die einen guten Einblick in die Intentionen der neuen Machthaber in Budapest gab. Die Zementierung der Macht war dem Fidesz von Anfang an wichtiger als die Einlösung praktisch wirkender Wahlversprechen. Dazu gehört auch, dass man sich mehr Sorgen um die Personalien in der Judikative als um die Gesetze selbst macht. Denn die Berufung der Richter für die neugeschaffene "Kurie", einer Art Wächterrat, den es schon mal in den “tollen” Horthy-Zeiten gab, aus Obersten Richtern und Generalstaatsanwalt, darf nicht aufgeschoben werden.

Fidesz-Fraktionschef Lázár hat dahingehend den Präsidenten nochmals zur Eile gemahnt und damit auch geklärt, wer in diesem Land wem die Anweisungen erteilt. Präsident Schmitt möchte bitte "so schnell wie möglich", die beiden Kandidaten für die zusätzlich geschaffenen obersten Richterstellen benennen, damit man "noch in der kommenden Woche" darüber abstimmen kann. Am kommenden Montag sollen sie dem Parlament präsentiert werden, die Abgeordneten können dann genau eine Nacht drüber schlafen und am Dienstag ihr Plazet geben. Der Präsident der Kurie, sozusagen der Kurienkardinal wird, O-Ton Lázár, "eine Schlüsselrolle in der Reorganisation der Judikative haben und sollte daher jemand sein, der fähig und vorbereitet ist, den Wechsel zu vollführen". Auch wird es eine Art Richterkammer geben, die sich vor allem um die "Beschleunigung der Prozesse" kümmern soll.

Für unabhängige Kandidaten bräuchte man zuerst einen unabhängigen Präsidenten

Den jetzigen Obersten Richter des Landes, András Baka, einst ein Kompromisskandidat zwischen der damaligen sozialistischen Regierung und dem konservativen Präsidenten Sólyom, hat man mit einem Gesetzespassus der "fünf Jahre praktische Richtertätigkeit an einem ungarischen Gericht" vorschreibt, sozusagen wieder zum Praktikanten degradiert, obwohl er selbst in der konservativen Landeshälfte als juristischer Experte anerkannt war. Ihm war sein Schicksal schon seit Frühjahr klar. Andere Altkader sortiert eine neue Altersgrenze aus und letztlich sorgt die Aufstockung der obersten und Verfassungsrichterstellen für neue "Porportionen". Die MSZP-Opposition spricht von "politischer Rache", was ein bisschen eigenartig klingt, denn dies hieße ja, dass Baka doch "ihr" Kandidat war. Die Grünen von LMP mahnen den Präsidenten, Kandidaten zu finden, "deren Unabhängigkeit außer Frage steht". Gut, dazu bräuchte es vielleicht erstmal einen Präsidenten, dessen Unabhängigkeit außer Frage steht.

Versammlungsgesetz

Am Montag wurde das Versammlungs- und Vereinsgesetz durchgewunken, das auch die staatliche Unterstützung für Vereine und die Zivilgesellschaft in ein "neues System" überführt. Darin wurde - neben Parteien, Vereinen, Stiftungen etc. - auch die "Bürgervereinigung" als neue Organisationsform deklariert. 258 stimmten dafür, 52 dagegen. Im wesentlichen übernimmt es alte Regelungen und betont das Recht auf Gründung von und Mitgliedschaft in Organisationen für "jedes Individuum", sofern es nicht das Recht und die Freiheiten anderer einschränkt. Es schafft auch neue Ansätze bei der finanziellen Rechenschaftslegung und enthält einen Passus, der "inaktive Organisationen" aus dem Register streicht. Die Gründung "bewaffneter Organisationen außerhalb der staatlichen" ist verboten, wofür wir dankbar sein sollten. Die Finanzierung wird über das Justizministerium abgewickelt, alles weitere bestimmen Dekrete und “nationale Interessen”.

Eine Steuer, die man nicht mehr steuern kann

Auch die Flat tax zur Einkommenssteuer von 16% (eingedenk diverser und mittlerweile ausgeuferter Übergansregelungen) wird Teil eines Kardinalsgesetzes, sie ist ab 2013 verpflichtend anzuwenden. Darin ist auch verankert, dass die "Kosten für die Erziehung von Kindern" auf die Sterugrundlage angerechnet werden. Die Flat tax für Unternehmen von 10% (bei Gewinnen bis 500 Mio. HUF, ca. 1,7 Mio. EUR) wird ab 2015 zur Regel. Regeln zur zentralen Haushaltsführung, dem Schuldenmanagement des Staates werden in die Verfassung gestellt. Steuersätze in der Verfassung? Das bedeutet, dass zukünftige Regierungen auch unter veränderten Mehrheitsverhältnissen auf das Wohlwollen von 2/3 der Abgeordneten angewiesen sein werden, um auf ökonomische Tendenzen reagieren zu können und steuernd tätig zu werden. Außerdem wird eine soziale Ungerechtigkeit - denn die Flat tax ist nichts anderes - zu einer staatlichen Institution. Eine Totalblockade ist hier vorprogrammiert, wir können uns die Schlagzeilen in ein paar Jahren geradezu ausmalen.

Mit Vollgas zur Schuldenbremse

Eine weitere Ausnahme betrifft die hochgelobte "Schuldenbremse". Mit dem 1.1.2012 würde die ungarische Regierung nämlich automatisch verfassungsbrüchig, schreibt das Grundgesetz doch eine Maximalverschuldung zum BIP von 50% vor. Wir liegen derzeit bei rund 80% und die hochtrabenden Prognosen der Regierung (70%, 60%, ....) bedeuten nur, dass Ungarn noch sehr lange über 50% bleiben wird. Daher auch hier eine Übergangsregelung, Zieldatum ist jetzt 2016, Optionen bleiben aber erhalten. Die schlüssigen Begründungen dafür wird uns die General-Abschlussdebatte am Freitag liefern.

UPDATE, 8.12.

Ebenfalls am Montag wurde die Schaffung eines "nationalen Registers" beschlossen, dass alle Einwohner automatisch für Militärdienste im Falle eines nationalen Notfalles einplant. Dieser Zustand entsteht, nach dem Gesetzentwurf, jedoch nicht nur durch den Verteidigungsfall, sondern auch, wenn das Parlament eine "präventive Verteidigungssituation" feststellt. Damit wird die 2004 abgeschaffte Wehrpflicht wieder eingeführt, sozusagen auf Abruf. Dies beinhaltet, dass sich jeder Mann zwischen 18 und 40 einer medizinischen Untersuchung zu stellen hat, um seine Tauglichkeit für militärische Dienste festzustellen. Die Regierung verteidigte ihren Entwurf damit, dass ähnliche Regelungen auch schon unter der Vorgängerregierung gegolten haben und auch in anderen Ländern Praxis seien.

red.
 

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