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DIE WOCHE AUF EINEN BLICK

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(c) Pester Lloyd / 51 - 2011  POLITIK 24.12.2011

 

Kein Weihnachtsfrieden

Demonstrationen in Ungarn, Parlamentarier in Ketten, Regierungschef im Radio

Bevor Ungarn sich uns uns vielleicht doch eine Weihnachtspause gönnt, herrschte am Freitag nochmal Aufregung in Budapest. Abgeordnete und ein Ex-Premier wurden verhaftet, nachdem sie das Parlament blockierten, tausende Menschen demonstrierten gegen das "Ende der Demokratie" und forderten die Ablösung von Premier Orbán. Dieser ist unbeirrt und kümmert sich nicht um die Proteste. Er lehnte im Radio von der EU geforderte Gesetzeskorrekturen strikt ab und wiederholte, dass er "kein Geld vom IWF" brauche.

Abgeordnete der ungarischen Oppositionsparteien boykottierten am Freitag öffentlichkeitswirksam die letzte Parlamentssitzung des Jahres, in dem sie die Zufahrt zum Parlament blockierten und sich am Schlagbaum des Abgeordneten-Parkplatzes anketteten. Die Abgeordneten der LMP erklärten, dass dieses Parlament seine Funktion als Ort der politischen Auseinandersetzung verloren hat, die Regierungsparteien weder an Debatten, noch Konsultation interessiert sind und die in den letzten Tagen und heute verabschiedeten Gesetze eine "Gefahr für die Demokratie" darstellten. Die Änderung der Geschäftsordnung, die nur noch beschränkte Debatten erlaubt, manchmal ganz auf selbige verzichtet sowie ein Hausverbot gegen Journalisten des führenden Newsportals, index.hu, wegen des "Missbrauchs der Würde des Hauses" setzten dem Geschehen noch die Krone auf.

Geschickt eingefädelte Protestaktion

Die Polizei ging der Taktik der Protestierer auf den Leim und meinte, mit Bolzenschneidern anrücken zu müssen und trug die Abgeordneten immer wieder weg. Zu den LMP-Abgeordneten gesellten sich danach auch Mandatare der MSZP und der Demokratischen Koalition, einer Abspaltung von Ex-Premier Gyurcsány, die sich mit dem Protest der LMP solidarisierten. Der Protest, der darin gipfelte, dass mehrere Abgeordnete, einschließlich des ehemaligen Ministerpräsidenten, kurzzeitig verhaftet und "wegen Einschränkung der persönlichen Freiheit" der Abgeordnten, die an der Sitzung teilnehmen wollten, abgeführt wurden, zum Teil unter Einsatz von physischer Gewalt, stahl der Regierung geschickt die Show, die an diesem Tag die "Vollendung" der Gesetzgebungswelle rund um die neue Verfassung und damit den Beginn einer neuen Ära verkünden wollte, stattdessen bestimmen Schlagzeilen über 26 verhaftete, demokratisch gewählte Abgeordnete und andere Aktivisten die Nachrichten aus Budapest. Während die Parlamentarier aufgrund ihrer Immunität bald wieder auf freien Fuss gesetzt wurden, sind einige andere Aktivisten, darunter angeblich auch MSZP-Mitglieder, noch am späten Nachmittag in Haft gewesen. Die Anwesenheit von Ex-Premier Gyurcsány wurde von Demonstranten später als Trittbrettfahrerei eines Mitschuldigen an der Misere kritisiert.

Bereits am Vortag hatten mehrere tausend Menschen gegen den Entzug der Sendefrequenz für das oppositionelle Klubrádió protestiert, der - auch wenn die Medienbehörde natürlich strikt das Gegenteil behauptet - politische Gründe hatte.

Tausende protestieren gegen das "Ende der Demokratie"

Für Freitagnachmittag hatte die LMP zu einer Großdemonstration vor dem Parlament aufgerufen, der mehrere tausend bis über zehntausend Menschen folgten, bei weitem nicht nur Anhänger der LMP. Die Demonstranten, unter ihnen nicht wenige Prominente, wehren sich gegen das "Ende der demokratischen Republik" und den Beginn des "Orbán-Regimes", einer "Diktatur". Die Demonstration, umrahmt von vielen emotionalen Reden und Liedern, endete kurz vor 18 Uhr abends mit dem gemeinsamen singen der Nationalhymne. Doch die Menschen gingen nicht auseinander, sondern blieben und skandierten Orbán-Raus-Sprechchöre. - Die grün-liberale Partei schlägt in den letzen Tage einen deutlich radikaleren Ton an als in den vergangenen Monaten, was auch als Erfolg der neuen außerparlamentarischen Oppositionsbeewegungen 4K!, Szolidaritás u.a. gewertet werden kann. Erstgenannte erklärten denn auch sogleich ihre Unterstützung mit der Aktion vom Vormittag.

Orbán pfeift auf Barrosos Bedenken, die Verfassung muss pünktlich sein...

Wie sehr sich das politische Ungarn auseinandergelebt hat, zeigt, in welcher Parallelwelt Premier Orbán agiert. Während sich Abgeordnete und Bürger tiefe Sorgen um die Existenz der Demokratie und des Rechtsstaates in Ungarn machen, führte der Ministerpräsident seinen "Abwehrkampf" gegen "Angriffe von außen", wie das im Regierungslager genannt wird, fort. Er stellte in einem Interview mit dem regierungshörigen Sender HírTV klar, dass er EU-Kommissionspräsident Barroso auf dessen persönlichen Brief eine abschlägige Antwort erteilt habe. Die kritisierten Gesetze zur "finanziellen Stabilität" und zur Zentralbank könnten nicht geändert oder zurückgezogen werden, da sie "wichtige Bausteine der neuen verfassung des Landes" bilden, die nur mit diesen Gesetzen zusammen vollumfänglich am 1.1. 2012 in Kraft treten könne. Zudem stünden alle diese Gesetze "im Einklang mit EU-Regularien". Auch wäre die Fusion der Finanzaufsicht mit der Zentralbank nur "eine Idee" und "niemand hat die Absicht" den Nationalbank-Gouverneur abszusetzen oder durch einen Aufseher einzuschränken.

Hinsichtlich des Hick-Hacks um die IWF-Verhandlungen sagte Orbán erneut: "Wir brauchen kein Geld, wir suchen keinen Kredit, wir wollen nur eine vorbeugende Vereinbarung, die uns Zugang zu Kreditlinien verschafft, sollte der internationale Geldmarkt zum Stillstand geraten." Sollte "Ungarn wieder vom IWF kontrolliert werden", weil es gescheitert ist "seine eigene Wirtschaftspolitik umzusetzen, dann bräuchte es solche Menschen wie uns, die nationale Gefühle hegen, nicht." - "Aber das ist keineswegs der Fall.", Ungarn habe seit 18 Monaten einen "sehr erfolgreichen Weg beschritten", so der Premier. Hinsichtlich der erneuten Herabstufung durch eine Ratingagentur meinte er nur, dass ganz Europa "angegriffen werde", "ständig wird irgendwer herabgestuft." "Wir werden uns bald daran gewöhnen und es wird bald keine Rolle mehr spielen..."

Nationalisten und Demokraten: beide haben noch einen Job zu erledigen

 

Für den Abend war eine Art Regierungserklärung von Premier Orbán im Parlament angekündigt, in der er sein "Mission accomplished" verkünden sollte. Danach verabschiedet sich das Parlament in die Weihnachtspause. Die Regierungspartei Fidesz kündigte bereits an, dass das Jahr 2012 ein "Jahr der Konsolidierung" werde, in dem die vielen neuen Gesetze "erfolgreich implementiert" werden müssten. Zum Großteil wird das gegen den Willen und gegen die Interessen der Betroffenen geschehen müssen. Die Demokraten machten durch ihre Demo am Freitag auch klar, dass sie das republikanische Ungarn nicht kampflos aufgeben werden, so bleibt für beide Seiten im kommenden Jahr also viel zu tun, ein mindestens ebenso aufregendes 2012 löst das hochspannende 2011 ab.

red.

Wir wünschen unseren Leserinnen und Lesern in Nah und Fern eine friedliche Weihnachtszeit und einen möglichst fröhlichen Jahreswechsel, denn ernst wird das Jahr von ganz allein wieder. Auch wir gönnen uns und Ihnen ein paar Tage Ruhe, sammeln Kräfte und starten Anfang 2012 wieder durch. Mit uns können Sie rechnen, manche müssen es. :) - Ihre Redaktion des PESTER LLOYD

 

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