(c) Pester Lloyd / 51 - 2011
POLITIK 21.12.2011
Legislative Landnahme
Ungarn wird von einer Gesetzesflut überspült
Derzeit rollt durch das ungarische Parlament eine wahre Welle von Last-Minute-Gesetzen, viele davon Teil der neuen Verfassung, in der diese als
"Kardinalsgesetze" verankert werden. Selbst viele Parlamentarier haben längst den Überblick über die Papierberge von hunderten Änderungsanträgen verloren und
funktionieren nur noch als Stimmvieh, mit deren Hilfe sich die Regierung das Land unter den Nagel reißt.
Mihály Munkácsys Monumentalgemälde “Landnahme” über den zentralen Gründungsmythos der
Magyaren wird ins rechte Licht gerückt und passend gemacht.
1 Wozu noch viel reden?
Die ungarische Regierungspartei Fidesz hat nicht vor, sich künftig weiter lange mit
parlamentarischen Debatten aufzuhalten. Wozu auch, wenn am Ende doch ihre 2/3-Mehrheit jedes Argument ersetzen kann. Vor einigen Wochen kam es zu einem parlamentarischen Unfall, als es Abgeordneten der Opposition gelang, einen Moment der
nachlassenden Aufmerksamkeit abzupassen, um mit eigener Mehrheit der Anwesenden eine Art "Filibuster" zu inszenieren, um die Verabschiedung eines Gesetzes durch eine
Dauerdebatte zu verhindern. Die Abgeordneten der Regierungspartei erschienen am nächsten Morgen und staunten nicht schlecht, als sie immer noch ein paar übernächtigte
Oppositionskämpfer Reden schwingen hörten. Die Reaktion: "Das wird Konsequenzen haben."
Nun hat die Regierungspartei die Möglichkeit geschaffen, Gesetze binnen zwei
Sitzungstagen durch das Hohe Haus zu winken. Bisher mussten zu diesem Verfahren 4/5 der Abgeordneten zustimmen, nun genügt dazu eine 2/3-Mehrheit. Zusätzlich können
demnächst unbegrenzt und auch noch in letzter Minute Änderungen für zur Abstimmung gestellte Gesetze eingebracht werden, ohne dass dazu noch eine Debatte erforderlich
wäre. Bisher ging das nur, wenn Widersprüche zur Verfassung oder in sich widersprüchliche Regelungen vorgebracht werden konnten. Die einleuchtende Erklärung
aus den Fidesz-Reihen: die Gesetzgebung wird so "einfacher und klarer" und damit "demokratischer". Die Opposition ist entsetzt, viel mehr bleibt ihr auch nicht.
2 Wozu noch viel Bildung?
Eines der Kardinalsgesetze, die dafür sorgen werden, dass künftigen Regierungen eine
Abweichung von der heutigen Linie unmöglich gemacht wird, ist eine "Bildungsreform", die
sich vor allem durch staatliche Bedarfssteuerung bei Studienplätzen, Aufhebung der Bildungsautonomität der Universitäten und eine allgemeine Zentralisierung der Strukturen
und Finanzen, einschließlich Kürzungen, auszeichnet. Der Entwurf, der, trotz dutzender Änderungen, die Handschrift der KDNP-Bildungsstaatssekretärin Rózsa Hoffmann,
Vertreterin einer ultrakonservativ-ständischen Bildungsauffassung, trägt, wurde mit 252 zu 62 Stimmen angenommen, doch ausgerechnet der bildungspolitische Sprecher der
KDNP-Mutterpartei FIDESZ, Zoltán Pokorni, verweigerte dem Gesetz seine Zustimmung, was allerdings mehr als Ausdruck verletzter Eitelkeit in einem monatelangen intensiven Schlagabtausch mit Hoffmann einzuschätzen ist, denn als politische Abweichbewegung.
Zum Thema: Bildungsministerin will Uni-Absolventen an Abwanderung hindern
In letzter Minute wurde darin das Eingangsalter für den verpflichtenden Kindergarten bzw.
Vorschule von 5 auf 3 gesenkt, nur die Dorfnotare dürfen, nach Gutdünken, bis zum vollendeten 5. Lebensjahr Ausnahmen zulassen, nach "Lebenssituation oder
Entwicklungsstand". Auch dieser Punkt, mag er aus kaptialistischer Effizienzlogik sinnig erscheinen, auch wenn er eher an Sowjetunion erinnert, hat in Ungarn spezielle Wirkung,
öffnet er doch der weiteren Segregation von Romakindern Tür und Tor. Während die Eltern ab kommendem Jahr flächendeckend zum beaufsichtigten, unterbezahlten und dauerhaft perspektivlosen Waldfegen abkommandiert werden, entzieht man deren Kinder
ihrer Obhut schon ab 3 Jahre, während die Kinder der "Weißen" vom Dorfnotar eine Befreiung erhalten können.
Das gesetzliche Schulabgangsalter (Pflichtschule) wurde hingegen von 18 auf 16 gesenkt.
Die Intention dieser "Reform" lässt sich so zusammenfassen, dass man die Kinder zukünftig möglichst früh in die geordneten Strukturen staatlicher Obhut bringen will, sie
aber nicht zu klug werden lässt, um sie möglichst bald als steuerpflichtige Staatsbürger "dem Arbeitsmarkt zuzuführen". Studentischerseits wurde mit weiteren, verschärften
Protesten im kommenden Jahr gedroht, woran man sieht, dass zuviel Bildung nur Flausen im Kopf produziert.
Irgendetwas übersehen? Vizepremier Semjén arbeitet sich durch die Akten,
neben ihm sein Chef Orbán...
3 Absoluter Zentralstaat
Wie berichtet, übernahm die Regierung vor einigen Wochen per Dekret sämtliche
Komitatsinstitutionen in staatliche Hoheit, mit der Begründung, auf diese Weise der
ausufernden Verschuldung Einhalt zu gebieten. Der Schritt wird nun mit einem neuen Gesetz über die Kommunalverwaltung legislativ unterfüttert, der fast alle maßgebliche
Exekutivgewalt in die Hände des Zentralstaates legt. Sämtliche Schulen, Krankenhäuser und Sozialeinrichtungen werden in Zukunft strukturell, personell und finanziell vom Staat
getragen, der nach seinem Ermessen, die Verwaltung und den Betrieb in die Hände lokaler Strukturen übergeben kann. Wenn er will. Er kann aber auch schließen, zusammenlegen, umbesetzen.
In Händen der Lokalverwaltung bleibt jedoch ausgerechnet die "öffentliche Sicherheit",
Wasserversorgung, Müllmanagement, Fernwärmeversorgung sowie die Betreuung Obdachloser. Vor allem hinsichtlich der "öffentlichen Sicherheit" stellt sich auch in der
Praxis immer häufiger die Frage, inwiefern das "Gewaltmonopol des Staates" noch gewahrt bleibt, wenn immer mehr Bürgermeister Abkommen mit bewaffneten
"Ordnungsgruppen" schließen. Zur Erfüllung ihrer Pflichten dürfen die Kommunen lokale Steuern erheben. Neue Schulden dürfen sie hingegen nur noch mit ausdrücklicher
Genehmigung der Zentralregierung aufnehmen.
Mental und physisch erschöpft, wie das ganze Land. Blick ins Parlament.
Grundsätzlich gilt auch hier eine Schuldengrenze von 50% der Jahreseinnahmen, doch der
Ausnahmen gibt es viele: Kredite, die aufgenommen werden, um die Eigenfinanzierung für EU-Gelder zu generieren, staatliche garantierte Kredite, Kredite zum Betrieb von
Einrichtungen mit einer Laufzeit von unter einem Jahr sowie Restrukturierungs-Kredite, die unter dem Liquidationsrecht ausgegeben werden. Ein wichtiger Punkt:
Parlamentsabgeordneten ist es ab den kommenden Wahlen 2014 untersagt, neben ihrem Mandat auch noch den Posten eines Bürgermeisters inne zu haben, was zwei Dutzend
Fidesz-Parlamentarier betrifft, die sich im Interessengemenge mehr als einmal verheddert hatten. Premier Orbán will keine Zugeständnisse machen müssen. Er will Parteiarbeiter im
Parlament und abhängige Vasallen in den Rathäusern. Alles soll "seine" Ordnung haben.
Erst Freitagnacht, wenn also der weihnachtliche Rentierschlitten praktisch schon zum Landeanflug auf
Budapest ansetzt, wird die Gesetzesorgie, die einer legislativem Landnahme gleicht, beendet werden, mit einer Regierungserklärung des Premiers, der allen noch einmal
nachweisen wird, wie unsinnig jedwede Bedenken an der Herrlichkeit des kommenden neuen Ungarns sind. Seine Parteigenossen schwor er schon auf "fortgesetze Angriffe von
außen" ein, auch dem Volk wird er wieder erklären, wo der wirkliche Feind steht.
red.
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