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DIE WOCHE AUF EINEN BLICK

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(c) Pester Lloyd / 51 - 2011  POLITIK 19.12.2011

 

Pest gegen Cholera

Ungarn und der IWF spielen griechische Tragödie - EINE POLEMIK ALS JAHRESRÜCKBLICK

Die IWF-Delegation, die am Freitag überstürzt und nicht sehr erbaut aus Budapest abreiste, hätte es eigentlich wissen müssen. Schon seit eineinhalb Jahren bietet Premier Orbán seinem Land und Europa ein sehr eigensinniges "Nationaltheater", bei dem alle um ihn als Statisten eingekleidet werden und Demokratie wie Rechtsstaat nur noch als potëmkinsche Kulisse dienen. Doch die charakterlichen Absonderlichkeiten ihres Premiers werden das Land bald sehr teuer zu stehen kommen. Zeit zu handeln, sonst erwacht womöglich noch das Volk.

Auf allen Bühnen zu Hause: Ungarns Ministerpräsident, Viktor Orbán

Kein Gesprächsabbruch, nur erstes Kennenlernen

Natürlich. Die Gespräche sind gar nicht abgebrochen worden. So lautet die Interpretation der Regierungsriege auf die verfrühte Abreise der IWF-Delegation. Es hat sich nur um "informelle Vorgespräche", eigentlich ein "privates Kennenlernen" und eine "Aushandlung der Tagesordnung" gehandelt, die eigentlichen Verhandlungen fangen ohnehin erst im Januar an. Vor dem Beginn selbiger könne man aber noch gar nicht von einem Scheitern sprechen, so die spitzfindige Auskunft von Fidesz-Fraktionskasper János Lázár.

Dieser billige Gag erinnert uns einmal mehr an die als Osterausflug umgedeutete Evakuierungsaktion der Roma von Gyöngyöspata im Frühjahr, diesmal ist halt Weihnachten. Lázár: "Es ist doch verständlich, dass auch die IWF-Leute das Christkind zu Hause erwarten wollen..." Er mache sich aber "keinerlei Sorgen, dass sie zurückkommen werden", denn immerhin schuldet Ungarn dem IWF "immer noch eine hübsche Stange Geld." Kurz: Gläubiger sind wie Rotz am Ärmel, die wird man nicht so einfach los. Gesprächsabbruch? Schuld für die "Missverständnisse" sind mal wieder die Medien und die Ausländer, Schema F. also.

Trio Infernale: Premier, “Präsident” und Parlamentssprecher

Wollte die IWF-Delegation ein eindeutiges Zeichen des "So nicht!" setzen, dann hätte sie das sagen müssen, für so dezente Gesten wie das kurzfristige Umbuchen von Flugtickets hat man in Budapest heute keinen Draht mehr. Die Gruppe um Chefverhandler Christoph Rosenberg hatte schon 2010 unangenehme Erfahrungen mit Orbáns Verhandlern gemacht und wurde damals quasi vor die Tür gesetzt, worauf die Regierung in ein sagenhaftes Siegesgehäuel ausbrach, als hat man gerade die Türken nach 400 Jahren Besetzung geschlagen. So gesehen hätte man sich das "Kennenlernen" eigentlich ersparen können.

Doch was sich seit dem 13. Dezember, seit die IWF-Leute auf "Bitten" Ungarns wieder im Lande waren, abspielte, genügte, sie diesmal selbst zum Aufbruch zu ermutigen. Die Reaktion der regierungshörigen Medien war entsprechend. Wer nicht ohnehin wieder an eine Verschwörung fremder Mächte glaubte, attestierte der Regierung maximal einen "taktischen Fehler", ein schlechtes Timing bei der Einführung der aktuellsten Gesetze.

Der Osten ist der neue Westen. Premier Orbán mit einem “stratgeischen Partner”

Orbán: "Der IWF ist unsere eigene Bank"

Zunächst war da die Ausweitung des neuen Nationalbankgesetzes um die Idee, dem Zentralbankchef einen Aufpasser an die Seite und einen Chef vor die Nase zu setzen. EU-Währungskommissar Olli Rehn fand dafür immerhin Worte: er wolle zumindest die Bereitschaft erkennen, über die Frage der Unabhängigkeit der Zentralbank zu reden. Ebenfalls während der Anwesenheit der IWF-Delegation prasselte eine ganze Reihe von Weihnachtsgrüßen der wie immer verspäteten Bedenkenträger aus Brüssel auf Budapest ein und die EU-Zentrale gilt dann auch als derjenige, der die IWF-Delegation zurückpfiff.

Ganz zuletzt noch erfuhren wir von der Restenteignung der rund 100.000 übriggebliebenen Beitragszahler privater Rentenkassen, die ein früheres "Angebot" der Regierung ablehnten, das nicht abgelehnt werden sollte. Denen wurde am Freitag über das Radio mit einem Orbánschen "so wird das ab sofort gemacht" mitgeteilt, dass ihre Beiträge, trotz der Streichung aus der staatlichen Rente, dennoch in selbige eingezogen werden. Zynischer Nachsatz: "Wir begrüßen Sie herzlich zurück im staatlichen Rentensytem", was uns an die Begebenheit erinnert, in der Orbán Teilnehmer von gewerkschaftlichen Demonstrationen als "Clowns" qualifizierte, was die auch nicht so schnell vergessen werden.

Das Fass zum Überlaufen brachte letztlich aber nicht die Serie von rechtsstaatlich bedenklichen Maßnahmen der letzten eineinhalb Jahre, sondern eine Radioshow am Freitagmorgen, in der Premier Orbán, sozusagen als Morgengabe für die IWF-Leute, deren Institution als "unsere eigene Bank" bezeichnete, mit der man "nicht die Absicht habe, über die ungarische Wirtschaftspolitik zu verhandeln."

Bescheidenheit ist eine Zier, doch besser geht es ohne ihr... Orbán im EU-Parlament

Orbán spielte sich im Äther mächtig auf, ein klassischer Fall von Überkompensation, möchte man meinen, um die für ihn demütigende Rückkehr an den Verhandlungstisch vor seinen Landsleuten und sich selbst rechtfertigen zu können. Der IWF sei nichts besonderes, "lediglich eine Bank, eine Finanzinstitution", man werde mit ihr reden, wie mit allen anderen Banken. Mehr noch, da Ungarn Mitglied in der Multinationenbank ist, "werde man sie behandeln, wie seine eigene Bank". Kurz: Orbán gibt dem IWF die Anweisungen, nicht umgekehrt. Für Ungarn-Kenner auch kein neuer Zug. Sogar in der Magyar Hírlap, sozusagen dem Budapester "Stürmer", merkte man dezent an, dass es doch Ungarn sei, welches das Geld brauche, nicht der IWF, ohne zu vergessen, darauf hinzuweisen, dass es die Schuldenberge der Vorgänger sind, die man abtragen müsse.

Buddhistische Gelassenheit angesichts solcher "Repräsentanten"

Orbáns befreiungstheologisch vorgebrachte Erkenntnis, dass ein IWF-Kredit nichts weiter bedeutet als neue Schulden und weiteren Souveränitätsverlust über die eigene Fiskal- und Wirtschaftspolitik ist richtig. Es ist auch richtig, seinem Land dieses an alle Grenzen gekommene und verkommene System aus Schulden, Zinsen, neuen Schulden nicht auf ewig antun zu wollen. Es ist aber eine andere Frage, ob man im Reform- oder Revolutionseifer seine eigenen Kräfte überschätzt und riskiert, am Ende in die komplette Pleite zu rutschen und das ganze Volk dabei mitzureißen, anstatt zumindest eine zeitweise Hilfestellung potenter Geldgeber in Kauf zu nehmen - und sei es auch nur um die krankhafte Psyche "der Märkte" im eigenen Interesse positiv zu beeinflussen.

Es ist nicht das erste Mal, dass die charakterlichen Auffälligkeiten Orbáns ihm und seinem Land ein Bein stellen, langsam sollte man sich auch unter konservativen Patrioten wirklich Sorgen machen, denn was nutzen die schönsten Ideen von einem zukunftsfähigen Land und ein verfassungsmäßiger Gott, wenn der Landesvater sie selbst bei jeder Gelegenheit wieder einreißt, weil ihm in seinem nationalistischen Fieberwahn alles noch nicht rot-weiß-grün genug erscheint?! Und so sprechen in Ungarn mittlerweile auch bürgerliche, zumindest aber dem linken Lager ferne Beobachter von einem "unvorstellbaren Maß an Zynismus", den Orbán und seine Vasallen, denn anderes sind sie nicht mehr, in den letzten Tage abgeliefert haben.

Verrückte Burschen, Silvio und Viki beim Armdrücken. Klar, wer gewinnt.

Ja, die Orbán-Mannschaft hat es geschafft, so erzkonservative Persönlichkeiten wie Ex-Präsident Sólyom, der, als er noch im Amt war, dem Fidesz jede nur denkbare Wahlhilfe gewährte, mittlerweile wie einen linken Dissidenten aussehen zu lassen. Dafür haben wir jetzt solche Leuchten wie einen Präsidenten Schmitt, einen Parlamentspräsidenten Kövér, Vizepremier Semjén, Fraktionschef Lázár und Regierungssprecher Szijjártó, die Minister Matolcsy und Pintér, die Staatssekretäre Hoffmann, Szöcs und Pröhle, von den Knallchargen aus der zweiten Reihe, z.B. in Esztergom oder diversen Botschaftern und den Figuren am ganz rechten Rand abgesehen. Das ungarische Volk beweist tagtäglich wahrlich buddhistische Gelassenheit angesichts dieser "Repräsentanten", auch wenn ihnen, gefragt nach ihren “ungarischen Helden” der Gegenwart, nurmehr ein polnischer Papst einfällt. Soweit ist es gekommen, dass man das eigene Land nur noch im Suff ertragen kann...?

Über dem Land schwebt ein billionenschweres Fragezeichen
- und der Schatten eines Nero

Der IWF wird die letzten 18 Monate der ungarischen Politik aufmerksam und mit wachsendem Schaudern beobachtet haben und man fragt sich, warum er sich die Reise an die Donau nicht gleich ganz erspart hat. Mit der Good-Will-Tour vor Weihnachten und der überstürzten Abreise spannten sich die Internationanbanker freiwillig für einen willkommenen Gastauftritt vor den Thespis-Karren der innenpolitischen Dauershow von Premier Orbán, über dessen Hang zum Theatralischen man eigentlich hätte informiert sein können.

Das Grundproblem: niemand weiß, was dem ungarischen Regierungschef morgen einfällt, aber zuzutrauen ist ihm schon fast alles. Nicht unbedingt die Beschreibung eines Partners, mit dem man gern verhandelt, eher eine Charakterstudie Neros.

Zustände, die man nur noch im Suff ertragen kann: Orbán mit “seinem Freund”, Zsolt Bayer (im Hintergrund eine wandelnde Árpád-Flagge). Der Kolumnist und Hassprediger der “Magyar Hírlap”, Mitgründer des Fidesz, bedauert schon einmal öffentlich, dass dereinst nicht genügend Genickschüsse an “Kommunisten” verabreicht wurden. Für seine Leistungen, die in anderen Ländern für die Klapse qualifizieren, erhielt er vom Fidesz kürzlich die Madách-Medaille. Ein Rapper hingegen, der ein paar Schimpfworte aneinanderreihte, wird ein Fall für den Staatsanwalt.

320 Milliarden, um einmal ganz konkret zu werden, beträgt das neue, offizielle Budgetloch im endlich ein wenig überarbeiteten Haushalt 2012, wobei selbst die korrigierten Eckdaten vielen Experten noch und wieder als zu optimistisch erscheinen und die meisten von ihnen den Korrekturbedarf eher doppelt so hoch sehen. Weitere 300 Mrd. werden in den kommenden fünf Jahren als Anteil des Staates für den Abbau der privaten Forex-Schulden fällig, weil die Banken so viel von der Bankensteuer abschreiben dürfen.

Noch, vergessen wir das nicht, zahlt Ungarn auch den alten IWF-Notkredit ab, für den Arbeitsmarkt sind dramatische Prognosen ausgegeben, viele selbstgestellte Fallen und Dummheiten einer "Nationalen Rettungsstrategie", die versuchte, die Realtität zu überholen, blockieren Wachstum und Investitionen. Tiefverschuldete Staatsbetriebe hängen dem Staat als dicke Klötze an den Beinen, mit freundlichen Grüßen von der MSZP. Rechnet man nur die Ungewissheiten des nächsten Jahres grob zusammen, ergibt sich ein billionenschweres Fragezeichen im zweistelligen BIP-Bereich.

Hier sollte also die Möglichkeit eines weiteren Sicherheitsnetzes nicht so verschwenderisch vergeben werden. Diesen Luxus können sich Orbán, vor allem aber Ungarn im moment gar nicht leisten. Zumindest Zeit sollte er sich über den IWF kaufen und sie nicht mit derartigem Gekasper verspielen.

Das Ende der Republik. Immerhin, niemand soll sagen können, er habe es nicht gewusst...

Vorgetäuschte Gegensätze zweier allmachtsphantasierender Systeme

Wie geht es nun weiter? Man ist versucht zu sagen, zwei unvereinbare Systeme, eher zwei Seuchen, treffen aufeinander, auf der einen Seite der IWF, der nach neoliberaler Hegemonie strebende Erfüllungsgehilfe der allesfressenden globalisierten Schuldenlogik und auf der anderen Seite der sture "Nationalrevolutionär" Orbán, der glaubt, sein Volk zu befreien, wenn er es Stück für Stück weiter in Ketten legt, Hauptsache, sie sind Made in Hungary.

Dabei steckt in der vorgetäuschten Antagonie beider allmachtsfiebrigen Systeme viel Theaterdonner, denn das sklavische Arbeitsrecht, das Orbán seinem Land gerade verschrieben hat, die unsoziale Sensenmentalität dieses verlogenen Volkstribuns, das Umdeklarieren von Frührentnern zu Sozialhilfeempfängern, sinn- wie perspektivlose Zwangsbeschäftigungsprogramme zum Niederhalten ethnischer Konflikte, die mehr als großzügigen Steuergeschenke für die behaupteten "Leistungsträger" und die mittelständische Wirtschaft, die man aber hintenrum wieder schröpft bis es quietscht - alles Maßnahmen, die neoliberaler und ständischer kaum sein und damit auch aus der Feder des IWF stammen könnten.

 

Nur beim Thema multinationaler Konzerne und Finanzwirtschaft, da verstehen beide, IWF und Orbán, jeder auf seine Weise, keinen Spaß. Dort wird man sich wohl einigen müssen und zwar substantieller als mit den Mitteln der griechischen Tragödie, weil man sonst in selbiger landet. Kommen beide Streithähne über die Feiertage nicht zur Besinnung, könnte das Zustände herbeiführen, die beide nicht wollen, nämlich, dass sich das Volk, womöglich wieder selbst um seine Belange kümmert. Denkt man die Perspektiven zu Ende, die uns beide "Systeme" bieten, dann müsste die EU Ungarn konsequenterweise Geld schenken, es durch einen radikalen "Schuldenschnitt" aus seiner doppelten Geiselhaft freikaufen. Doch wer glaubt noch daran, dass die EU nicht selbst in beiden Systemen gefangen ist?

ms.

 

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