(c) Pester Lloyd / 03 - 2012
POLITIK 18.01.2012
Ungarischer Frühling?
Solidarität gegen die neue Angst in Ungarn Interview mit dem Chef der Szolidaritás-Bewegung, Péter Kónya
“Wir wollen der Katalysator" für einen Machtwechsel sein, sagt Szolidaritás-Gründer Péter Kónya als wir uns mit ihm über die Knackpunkte der vielkritisierten Politik der
Orbán-Regierung unterhalten und welche Alternativen er anbieten kann. Wie will sich seine Bewegung positionieren in der zersplitterten Gemengelage von
enttäuschter Wählerschaft, Hoffnungen und Grenzen neuer Oppositionsbewegungen, dem desaströsen Zustand der parlamentarischen Opposition und der Suche nach
einer Strategie gegen die scheinbare Allmacht der Nationalkonservativen.
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Péter Kónya, hier links im Bild in Uniform, bis vor kurzem Chef der Konföderation der Gewerkschaften
der Militärdienste, FRÉDSZ, verließ als Oberstleutnant die Honvéd, weil er unter der gegebenen Politik
eine Vertretung der sozialen Interessen seiner Soldaten nicht mehr als umsetzbar ansieht, aus Gewissensgründen also. Nun widmet er, der vielen als der Hoffnungsträger einer künftigen
Volksbewegung gilt, sich ganz dem Aufbau der Bewegung Szolidaritás, die, nicht von ungefähr an die systemstürzende Solidarnosc erinnert. Er will die Demokratie verteidigen. Mehr dazu auch in: Solidarität statt Gehorsam: Ein Offizier will die Demokratie in Ungarn retten
PL: Herr Kónya. In Ungarn entstehen in letzter Zeit viele verschiedene neue
Oppositionsgruppen, es gibt Parteigründungen wie die 4K!, Bürgerrechtsbewegungen, alternative Protestformen. Im Parlament gibt es die MSZP, deren Abspaltung
Demokratische Koalition, die LMP. Warum noch eine Szolidartiás, was ist an der Bewegung anders, warum ist sie nötig?
P.K.: Aktuell sehen wir, dass 65% der Wahlberechtigten keine der aktuell existenten
Parteien wählen würde. Diese große Gruppe enttäuschter Wähler wollen wir ansprechen und davon überzeugen, dass man selbst etwas dafür tun muss, dass dieses Land wieder
eine gute Richtung einschlägt. Dabei wollen wir weder eine linke oder eine rechte politische Richtung einschlagen, sondern eine neue Mitte anbieten. Wir wollen auch die
aktuelle Wählerschaft von Jobbik erreichen und sozusagen zurückdrehen und wir halten es für wichtig, einen Zusammenschluss all der oppositionellen Parteien und Gruppen zu
Stande zu bringen, denn nur so werden wir fähig sein, die Orbán-Regierung abzulösen.
Die westeuropäische Kritik an der Regierungspolitik in Ungarn ist oft recht pauschal
und auch selektiv, man redet dort viel über das Mediengesetz und über einen neuen Nationalismus. Unser Eindruck aber ist, dass die Politik der Orbán-Regierung viel
unmittelbarer wirkt und das tägliche Leben der Menschen beeinflusst und die ungarischen Menschen daher mit dieser Regierung auch andere Probleme haben als "der
Westen". Welche Hauptfehler macht Orbán aus Ihrer Sicht, was sind Ihre Hauptkritikpunkte an seiner Politik?
Was die aktuelle Situation wohl am besten
beschreibt, ist, dass die Menschen in Ungarn wieder angefangen haben sich vor der Zukunft zu fürchten. Es gibt eine neue Existenzangst, vor allem bei den arbeitenden Menschen, jenen die von
Gesetzen für den öffentlichen Dienst und die staatliche Sphäre betroffen sind. So können Menschen zum Beispiel ohne jede Begründung entlassen werden. Zwar wurde
das vom Verfassungsgericht blockiert, aber danach hat die Regierung dann den "Vertrauensverlust" als Kündigungsgrund eingeführt, was die gleiche Wirkung hat. Auch die
Änderungen am Arbeitsrecht setzen die Arbeitnehmer in eine „Wettbewerbssphäre“, die ebenfalls Existenzängste zur Folge hat.
Das gleiche haben sie mit der Abschaffung und Umbennenung der Frührente gemacht.
Den Betroffenen kann man jetzt praktisch jederzeit die Leistungen und Garantien wegnehmen, was unter dem Schutz der vorherigen Verfassung nicht möglich war. Jetzt
gilt diese Frührente nur noch als eine (zu versteuernde, Anm.) Sozialleistung, die man jederzeit verringern oder streichen kann, was eine sehr große Schicht in existentielle Nöte
und Unsicherheiten gebracht hat.
Mit der Einführung der flat tax wurden die Reichen noch reicher gemacht, da diese am
meisten von dieser profitieren. Das Stopfen der Haushaltslöcher jedoch wird mit unterschiedlichen neuen Steuererhöhung und Abgaben probiert, welche vor allem die
Geringverdiener vermehrt belasten. Das ist es, was die einfachen Menschen am meisten betrifft.
Mehr darüber in “Sündenregister - Gesetze und Maßnahmen der Orbán-Regierung auf einen Blick
Gleichzeitig sehen wir dass die verlogene Regierungspropaganda die wir im Fernsehen,
den Radiosendern und anderen Medien sehen, viele Menschen irreführt. Es ist aber zu erwarten, dass sich diese Entwicklung im Frühjahr zuspitzen wird und sich auch die
gesellschaftliche Unzufriedenheit dann erst richtig Ausdruck verschafft, dann, wenn die Menschen am eigenen Leibe, an ihren Gehältern, an der Senkung ihrer Renten und
Sozialleistungen, an ihrem sinkenden Lebensstandard die Folgen dieser Politik radikal erfahren werden.
Protest, Widerstand, Kritik ist das eine, aber wie sieht die Alternative aus? Nehmen wir
als Beispiel die genannte Umwandlung von Frührentnern zu Sozialhilfeempfängern, Orbán sagt ja nicht zu unrecht, wir können es nicht mehr bezahlen, das System können
wir uns nicht mehr leisten...
Wir beginnen jetzt mit den gesellschaftlichen roundtable-Gesprächen, die wir im ganzen
Land initiierten und veranstalten wollen. Dies wird der Anfang einer Entwicklung sein, an dessen Ende ein Programm stehen soll. Es geht darum, die Menschen direkt zu fragen,
was sie über ihre eigene Situation denken, zum Beispiel bezüglich des Gesundheitswesens, der sozialen Fragen, der Bildung, der öffentlichen Sicherheit und so weiter.
So ähnlich, wie die Referenden-Initiative der LMP?
Nein, das ist eine Initiative der
Szolidaritás, im ganzen Land diese Gespräche über unterschiedliche Themenkreise zu suchen bzw. zu veranstalten und parallel dazu wollen wir den oppositionellen runden Tisch
initiieren, die Opposition an einen Tisch bringen, ähnlich zum runden Tisch beim Sytemwechsel, in der wird die parlamentarische wie auch die außerparlamentarische Opposition, also
Bürgergruppen, Gewerkschaften, Parteien zusammenbringen nd wobei hier natürlich auch eine Aufgabe sein wird, konkrete inhaltliche Alternativen zu formulieren. Es geht darum,
den demokratischen Minimalkonsens, der aufgekündigt worden ist und um die Frage wie man die rechtsstaatlichen und den verfassungsmäßigen Rahmen wieder herstellen kann,
der jetzt von dieser Regierung abgebaut worden ist.
Wie aber kann man die vielen frustrierten Wählter, die trotz großer Hoffnungn nun
erkennen, wieder die Falschen gewählt zu haben, wie kann die Szolidaritás diese Menschen aktivieren, so dass sie sich für ihr Schicksal einsetzen? Wird sich die
Szolidaritás irgendwann als Partei gründen, um auch parlamentarisch eine Rolle übernehmen zu können, wird sie weitere Demonstrationen machen, was kommt nach
der "Clowns-Revolution", dem "D-Day", den Neujahrsprotesten? Wie ist Ihre Stratgie zum Machtwechsel?
Die Szolidaritás-Bewegung hat begonnen, ein landesweites Netzwerk aufzubauen, wir
haben mittlerweile in über 200 Orten organisierte Gruppen und Aktivisten. Aus der Bewegung selbst wollen wir keine Partei machen, aber wir schließen nicht aus, dass sich
die Bewegung hinter eine solche neue Partei stellt, welche glaubwürdig ist und mit einem entsprechenden Programm aufwartet.
Wir möchten in erster Linie als Katalysator für einen breiten Zusammenschluss dienen.
Übrigens bereiten wir uns gerade auf die am Wochenende stattfindende Klubrádió-Demonstration vor, wir wollen unsere Mitglieder hierfür mobilisieren und für
Anfang März bereiten wir eine große eigenständige Kundgebung vor. Und natürlich, wie erwähnt, beschäftigen wir uns momentan mit dem gesellschaftlichen Runden Tisch und
dem oppositionellen runden Tisch. Also der Aufbau eines Netzwerkes hat begonnen und natürlich, wenn wir dieses aufbauen und diese Bewegung stärker wird, dann wir dieses
später einmal hilfreich sein, einer Partei mit diesen Stimmen zum Sieg zu helfen.
Wann kommt diese Partei, wie muss sie sein?
Momentan schätzen wir es allerdings so ein, dass das Partei-Thema noch etwas verfrüht
ist, die Menschen sind momentan schließlich von den Parteien enttäuscht, also ist die Chance unsere Bewegung zu einer Massenbewegung auszubauen viel größer, als dass wir
jetzt mit einer Parteidiskussion anfangen sollten. Aber natürlich sind wir uns darüber bewusst, dass man Wahlen nur mit Parteien gewinnen kann.
Kommt von den aktuellen Parteien denn keine in Frage?
Im Moment sieht die Szolidaritás keine solche Partei in Ungarn, hinter die sie sich stellen
könnte. Also so eine Partei existiert noch nicht.
Wenn wir den Zustand der unbelehrbar scheinenden MSZP betrachten, Ex-Premier Gyurcsány mit seiner
Demokratischen Koalition, die kriselnde LMP, dann sind Sie doch eigentlich prädestiniert als neue, unbelastete Führungsfigur. Sie können gut reden, haben starke
Überzeugungen, die Leute hören ihnen zu. Haben sie denn selbst keine Ambition zu sagen, ich könnte diese Person sein, die eine Alternative zu Orbán verkörpert - vielleicht eines Tages?
Ich kann das Gesicht einer solchen Bewegung sein, aber mir ist es noch drei Jahre nicht
gestattet bei Wahlen zu kandidieren. Offiziell bin ich immer noch Soldat, meine Demobilisierung ist noch im Gange, und das Fidesz hat ein Gesetz verabschiedet, dass
ehemaligen Angehörigen der Sicherheitskräfte eine 3jährige Sperrfrist für Wahlmandate vorschreibt...
Das Gespräch führten Christian-Zsolt Varga und Marco Schicker
IN EIGENER SACHE
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