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(c) Pester Lloyd / 04 - 2012      POLITIK 26.01.2012

 

Wille und Wirkung

Eine Analyse der neuen Verfassung für Ungarn - Teil 1

Allein aus dem Text der neuen Verfassung kann nicht hergeleitet werden, dass Ungarn auf dem Weg zu einer Diktatur sei, so der Autor dieser vergleichenden Analyse. Er konstatiert ein neues, "deutliches Machtungleichgewicht zwischen den Organen zugunsten der Regierung", das System der „checks and balances“ wird zumindest in Frage gestellt. Seine Schlussfolgerung: Um die Demokratie in Ungarn kann man sich, auch aufgrund seines neuen Grundgesetzes, Sorgen machen.

Teil 1: Die ehemalige Verfassung und ihre Infragestellung

Teil 2: Die neue Verfassung

Einer der “Verfassungstische”, die in jedem Bürgermeisteramt per Weisung aufgestellt werden mussten. Mehr dazu in Teil 2.

„Verfassungsputsch" - mit diesem Wort hatte Attila Mesterházy, Chef der größten Oppositions- und vormaligen Regierungspartei MSZP den Vorschlag der Regierungspartei Fidesz zur Verfassungsänderung bezeichnet. Ob man es tatsächlich so bezeichnen kann, bedarf näherer Klärung. Auf jeden Fall zementiert die Verfassung ein Machtungleichgewicht zugunsten der Regierung und das politische System in Ungarn ist stark verändert worden. Die Verfassung der “Sowjetzeit”, die 1989 geändert wurde, ist am 1. Januar dieses Jahres durch die neue ersetzt worden. Ob dies eine „Verfassung zum Fürchten“ ist, wie in einer Internet-Petition Akademiker aus mehreren Ländern vermuteten, ist herauszuarbeiten. Zum besseren Verständnis der neuen Verfassung, werden zunächst die alte Verfassung, Fidesz´ Verhältnis zu dieser und die Gründe für die Änderung beschrieben.

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Weiterführende Links zum Thema:

> Die amtliche deutsche Übersetzung der neuen ungarischen Verfassung
>
Themenseite zur neuen Verfassung, Debatte und zum Entstehungsprozess
> Es lebe die Republik! -
Zehntausende demonstrierten gegen die neue Verfassung

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I - Die ehemalige Verfassung

Ein Kompromiss

In modernen Demokratien werden neue Verfassungen zumeist direkt per Referendum oder indirekt durch parlamentarische Legitimation verabschiedet. In Ungarn war dies so nicht der Fall. Die Verfassung war ein Eliten-Kompromissentwurf am runden Tisch mit unzureichender parlamentarischer bzw. fehlender plebiszitärer Legitimation. Sie wurde nur vom alten, nicht demokratisch legitimierten Parlament verabschiedet, ist unter Zeitdruck entstanden und hat einen eindeutigen Kompromisscharakter. Somit war sie von vornherein angreifbar. Zum Beispiel von Seiten Fidesz´, welche als Oppositionspartei startete – die Partei verstand sich als Radikalopposition zur kommunistischen Jugend und der Regierungspolitik Jószef Antalls.

Die bis Ende letzten Jahres sich in Kraft befindende Verfassung beruht auf der kommunistischen Verfassung von1949. Sie wurde im Zuge des Umbruchs 1989/90 komplett verändert und war schon damals nicht auf Dauer angelegt. Aber sie bereitete die rechtliche Basis für einen demokratischen Neubeginn. Bereits in der ersten Legislaturperiode wurden dann Änderungen im Zuge der ersten umfassenden Verfassungsänderung 1990, dem sogenannten „Antall-Tölgyessy-Pakt“, eingebracht. Küpper stellte fest: „Die Verfassung leidet unter zahlreichen Schwächen: eine optisch unglückliche Textstruktur mit einer Endstellung der Grundrechte, ein durch zahlreiche Änderungen zerstückelter Inhalt mit teils gegensätzlichen Wertungen und viele mitgeschleppte Überbleibsel sozialistischen Rechtsdenkens. Hinzu kommt der Makel, dass es sich formell um ein Gesetz aus der schlimmsten Zeit des Stalinismus handelt.“ So erscheint nachvollziehbar, weshalb die Verabschiedung einer neuen Verfassung nun vollzogen wurde.

Fidesz‘ Verhältnis zur Verfassung

Bereits 1996/1997 gab es einen Verfassungsentwurf, der allerdings nie verabschiedet wurde, bei der sich nahezu alle Parteien (insbesondere Fidesz und MSZP) über die Rolle des Staatschefs einig waren. Jedoch „ […] scheiterte [sie] schließlich an der Weigerung der Opposition [Fidesz u.A.], die zwar keine gravierenden inhaltlichen Einwände hatte, aber kurz vor den sich nähernden Wahlen 1998 der Regierung den Triumph einer erfolgreichen Verfassungsgebung nicht gönnte.“

Fidesz´ besonderes Verständnis von der demokratischen Kontrollfunktion des Parlamentes kam zur Geltung, als sie das erste Mal Regierungsverantwortung hatten „[…] von 1990 bis 1998 [war]die Landesversammlung im Mittelpunkt des politischen Lebens von Ungarn. […] Die von der Orbán-Regierung [Fidesz] verwirklichte Parlamentsreform von 1999 führte ein sogenanntes Drei-Wochen-System ein, d.h. eine Woche für Plenarsitzungen, eine Woche für die Parlamentsausschüsse und dann eine Woche für die Wahlkreisarbeit. Dies schwächte die Kontrollfunktion des Parlaments – und damit die Opposition – und führte zu einem heftigen verfassungsrechtlichen Konflikt. Die Medgyessy-Regierung führte die wöchentlichen Tagungen wieder ein. […] Hingegen hat die zweite Gyurscány-Regierung einige Schlüsselgebiete der Regierung der Parlamentskontrolle entzogen.“ Also sind auch die Sozialisten unter Gyurscány nicht immer für ein absolut starkes und wehrhaftes Parlament eingetreten. Außerdem war die Verfassung in der Übergangszeit als Provisorium gedacht und wurde zwischen 1990 und 2006 insgesamt 22-mal, davon zehnmal tiefgreifend, geändert.

Stärkung der Rolle des Ministerpräsidenten

„Die Fakten können täuschen. Vieles was in Ungarn auf dem Papier steht, lässt sich in der politischen Praxis anders an. Der Staatspräsident ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, darf aber nicht befehlen; der Ministerpräsident verfügt de jure über keine Richtlinienkompetenz, bestimmt aber de facto die Richtlinien der Politik. Das Parlament steht im Zentrum des politischen Systems aber andere Faktoren sind zentral.“ Mit diesen Worten fasst Dieringer präzise die Diskrepanz zwischen der geschriebenen Verfassung und der Verfassungsrealität zusammen.

Die verfassungsrechtlich herausgehobene Rolle des Parlaments wird in der politischen Wirklichkeit von anderen Akteuren stark begrenzt. Schon im Text der Verfassung sind die dem Ministerpräsidenten an die Hand gegebenen Kompetenzen recht groß. Er bezieht schließlich seine Legitimation durch die Parlamentswahl und stellt die Ministerriege zusammen. Bezüglich der Praxis stellen Bozóki und Simon fest, dass die Stärkung des Ministerpräsidenten gegenüber der Legislative gleichbedeutend mit einer Stärkung von ihm gegenüber dem Kabinett, den Ministerien und der zentralen Administration war.

Das System wurde so immer mehr zu einer „Kanzlerdemokratie“ bzw. „Kanzlerregierung“. Im Zuge der institutionellen Reformen von 1998 bis 2002 kam es nicht nur zum Ausbau der Macht des Ministerpräsidenten, sondern auch zu einer Änderung des Charakters der ungarischen Demokratie, hin zu einer zunehmenden Personalisierung der Politik. Vor allem war es auch Orbán, der den Prozess der Personalisierung vorantrieb, verbunden mit zunehmender Zentralisierung und Ausrichtung von Fidesz auf ihn. Er war auch der Erste, der öffentlich von einer Kanzlerdemokratie sprach. Dies wurde unter den folgenden Regierungen weiter fortgesetzt. Es kam auch zu einem Ausbau der Macht des Ministerpräsidialamtes, welches immer wichtiger wurde: 2006 hatte es mehr Mitarbeiter als das Bundeskanzleramt.

Ein Vertrauensverlust in das System

Aus normativen und emotionalen Gründen, ist es verständlich, dass eine neue Verfassung verabschiedet wurde. Es ist schließlich schwierig, die Transformation von der kommunistischen Diktatur hin zu einer Demokratie geistig-moralisch komplett abzuschließen, ohne einen Austausch der rechtlich-normativen Grundlagen des Staates vorzunehmen.

Außerdem ist es wahrscheinlich, dass die anhaltenden wirtschaftlichen und politischen Krisen sowie das Fehlverhalten der politischen Elite die Verfassung und die gesamte politische Ordnung diskreditierten, so dass es nahezu unabwendbar war, eine neue Ausgangslage zu schaffen. Man könnte die Situation mit jener in Frankreich vergleichen, welche zur Schaffung der Fünften Republik führte. Die politischen Lager in Frankreich waren tief gespalten, es gab bürgerkriegsähnliche Zustände, das Land steckte in einer moralischen, politischen und wirtschaftlichen Krise und benötigte mit dem General de Gaulle nicht nur einen charismatischen Anführer und Reformer, sondern auch einen (Kriegs-) Helden. Viktor Orbán ist selbstverständlich kein Kriegsheld, nicht einmal der Held von 89/90, aber er ist eine intelligente, charismatische Person, die bereits 89/90 prägend war und schon einmal Ministerpräsident gewesen ist.

Teil 2 - Die neue Verfassung

Philipp Karl

Der Autor studierte Diplom-Sozialwissenschaften mit den Schwerpunkten Politikwissenschaft, Europarecht und öffentliches Recht an der Westfälischen-Willhelms Universität Münster und dem Institut d´études politiques in  Lille und absolviert derzeit ein Volontariat beim Pester Lloyd. In Lille absolviert er einen Master im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung.
 

 

 

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