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(c) Pester Lloyd / 04 - 2012      POLITIK 26.01.2012

 

Wille und Wirkung

Eine Analyse der neuen Verfassung für Ungarn - Teil 2

Allein aus dem Text der neuen Verfassung kann nicht hergeleitet werden, dass Ungarn auf dem Weg zu einer Diktatur sei, so der Autor dieser vergleichenden Analyse. Er konstatiert ein neues, "deutliches Machtungleichgewicht zwischen den Organen zugunsten der Regierung", das System der „checks and balances“ wird zumindest in Frage gestellt. Seine Schlussfolgerung: Um die Demokratie in Ungarn kann man sich, auch aufgrund seines neuen Grundgesetzes, Sorgen machen.

Teil 1: Die ehemalige Verfassung und ihre Infragestellung

Teil 2: Die neue Verfassung

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Weiterführende Links zum Thema:

> Die amtliche deutsche Übersetzung der neuen ungarischen Verfassung
>
Themenseite zur neuen Verfassung, Debatte und zum Entstehungsprozess
> Es lebe die Republik! -
Zehntausende demonstrierten gegen die neue Verfassung

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II - Die neue Verfassung

Eine interessante Einschätzung für das neue Grundgesetz fand mit Ex-Präsident László Sólyom einer der Väter der vorherigen Verfassung, der selbst dem konservativen Lager zugehörig ist. Sólyom verglich die neue Verfassung in ihrer Struktur mit dem Nationaltheater in Budapest (ein Fidesz-Bau, der vor rund einem Jahrzehnt nach langen Debatten entstand.). Das Gebäude „[…] habe nichts mit moderner Theaterarchitektur zu tun, sondern ist in eklektischem, bombastischen Stil erbaut und trotz der Proteste vieler Architekten von den Machthabern mit aller Gewalt durchgesetzt worden." Der Ex-Präsident weiter: „Dennoch kann man darin auch gutes Theater machen, wenn gute Schauspieler da sind und gute Stücke gegeben werden.“

Einer der “Verfassungstische” oder “Altäre” wie gespöttelt wird, die in jedem Bürgermeisteramt per Weisung aufgestellt werden mussten. Es wurde sogar festgelegt, auf welcher Seite die Verfassung aufgeschlagen zu sein hat. Schulkindern wurde die Verfassung - auch auf zentrale Weisung - überreicht, waren sie noch zu klein sie zu verstehen, genügte auch die Präambel.

Die Präambel ist überschrieben mit „Gott, segne Ungarn“, darauf folgt das Nationale Bekenntnis. Der Text ist in der ersten Person Plural geschrieben, es wird vielfältig vor allem auf die Geschichte, aber auch oft auf das Christentum Bezug genommen. Es wird Ungarns über 1000-jährige Geschichte mehrmals erwähnt, wie auch der Nationalheilige Stephan, der erste ungarische König. Das ungarische Volk wird als Glied des christlichen Europas betrachtet, welches nicht nur sein eigenes Fortbestehen, seine Freiheit und seine Unabhängigkeit beständig erkämpft hat, sondern auch Europa verteidigt hat.

Besonders die Rolle des Christentums wird gewürdigt, jedoch werden auch die anderen religiösen Traditionen Ungarns wertgeschätzt. Es wird versprochen, die geistige und seelische Einheit der Nation zu wahren, ebenso wie die ungarische Kultur und die Schätze des Karpatenbeckens. Ungarns Beitrag zur Vielfalt der europäischen Einheit wird betont, die Freiheit und Kultur anderer Völker respektiert. Als Grundlage menschlichen Daseins wird die Menschenwürde gesehen. Familie und Nation sind wichtigster Rahmen des Zusammenlebens, und die Werte der Zusammengehörigkeit sind Treue, Glaube, Liebe. Das Ziel des Staates soll die Entfaltung von Frieden, Sicherheit, Ordnung, Wahrheit und Freiheit sein. Explizit wird Rechtskontinuität mit der kommunistischen Verfassung von 1949 abgelehnt. Am Ende folgt das Bekenntnis, dass Ungarn beständig eine seelische und geistige Erneuerung braucht.

Die Stepahnskrone, auch “Heilige Krone”, was in anderen Republiken ein Museumsstück, ist im heutigen Ungarn als Teil der Verfassung zentrales Symbol der “Einheit der Nation”. Die Insignien des Königreihcs Ungarn finden sich daher nicht im Nationalmuseum, sondern, bewacht von einer Ehrengarde, im Parlament, dem “Herz der Demokratie”...

Zunächst ist festzuhalten, dass eine Präambel natürlich grundsätzlich Teil der Verfassung ist, aber inwiefern sie in der juristischen und politischen Praxis eine gewichtige Rolle spielt, ist allgemein umstritten. Es kommt immer auf die politischen, historischen und juristischen Umstände an. Man darf also den Text der Präambel nicht überbewerten. Sämtliche heutigen Einschätzungen sind also zwingend Spekulationen.

Es ist durchaus kritisch zu sehen, dass im 21. Jahrhundert eine Verfassung verabschiedet wird, deren Präambel den Geist des 19. Jahrhunderts atmet, in dem Sinne, dass implizit die Herdersche Auffassung der Nation als „Volksgeist“ verteidigt wird. Die Präambel hat also zumindest einen stark nationalbewussten Charakter. Ihre christliche Prägung ist mindestens ebenso deutlich. Jedoch bleibt festzuhalten, dass beide Tendenzen in der Präambel später abgeschwächt werden  durch den Verweis auf die anderen Völker Europas und die anderen Religionen, die ebenfalls Ungarn prägen sowie die europäische Einigung. Ein höchst kritischer Aspekt ist die Bezugnahme auf das Karpatenbecken und damit auf das ehemalige Großungarn. Dies kann zum einen als Kniefall vor den extremen Rechten oder zum anderen als Strategie, um ebenjenen das Wasser abzugraben, verstanden werden.

Präsident Pál Schmitt unterzeichnete die neue Verfassung bereits zu Ostern 2011,
dem Fest der “Auferstehung” der Christenheit. Seitdem kamen durch zwei Dutzend
Kardinalsgesetze zahlreiche Änderungen hinein, der Präsident unterzeichnete
alle 319 ihm vorgelegten Gesetze ohne zögern oder Überprüfung.

Desweiteren ist ein verständlicher „Grund zur Sorge", die expressis verbis ausgeschlossene Rechtskontinuität mit der Vorgängerverfassung. Die Präambel als solche ist mit ihren vielfältigen Geschichts- und Religionsbezügen für Deutsche sehr befremdlich, jedoch im Lichte der ungarischen Geschichte, die vor allem in den letzten hundert Jahren oftmals zu einem großen Teil fremdbestimmt war, durchaus nicht unverständlich. In Europa, aber auch von der ungarischen Opposition, wurde sie kritisch aufgenommen. Zu unterscheiden sind der hier vertretenen Ansicht nach drei verschiedene Gründe, weshalb die Präambel so formuliert wurde, wie sie sich jetzt darstellt:
1.Schlichter Romantismus
2.Strategie, um Jobbik zu schwächen
3.Ein radikaler nationalistischer Umbruch

In der Realität werden wohl alle drei Gründe eine Rolle gespielt haben, sowie noch weitere. Im Gegensatz zur alten Verfassung ist die offizielle Staatsbezeichnung gemäß Artikel A nun nur noch „Ungarn“ und nicht mehr Republik Ungarn. Ungarn ist zwar weiterhin eine Republik und ein demokratischer Rechtsstaat, wie es in Artikel B heißt, jedoch wird implizit eine Kontinuität mit dem, auf der vorigen Verfassung basierendem Staat, negiert. Desweiteren kann dies als Referenz an das historische Ungarn gewertet werden, da dies ebenfalls schlicht Ungarn hieß. Gestützt wird diese Annahme durch die Formulierung in Artikel D: „Ungarn trägt – von der Idee der einheitlichen ungarischen Nation geleitet – die Verantwortung für das Schicksal der außerhalb der Landesgrenzen lebenden Ungarn“ und weiter „[…] es fördert ihre Bestrebungen zur Wahrung des Ungarntums“. Die Gewaltenteilung wird in Artikel C als Prinzip des ungarischen Staates bestimmt: „Niemand darf Tätigkeiten ausüben, die auf die gewaltsame Erlangung oder Ausübung der Macht sowie auf den ausschließlichen Besitz der Macht gerichtet sind.“

Während die Regierung die neue Verfassung am 2. Januar in der Ungarischen Staatsoper mit einer feierlichen Gala inaugurierte, demonstrierten draußen mehrere Zehntausende gegen die “Einparteinverfassung”. Die Polizei sperrte das Gebiet ab, Premier Orbán verließ die Oper durch den Hintereingang. Eine Volksabstimmung war nicht vorgesehen, da das Fidesz den “Volkswillen” durch seine 2/3-Mandatsmehrheit ausreichend vertreten sieht.

Für die derzeitige öffentliche Kritik an der europäischen Union ist die Bestimmung in Artikel E bedeutsam „Ungarn kann im Interesse seiner Teilnahme an der Europäischen Union als Mitgliedstaat aufgrund internationaler Verträge – bis zu einem zur Ausübung der aus den Gründungsverträgen entstammenden Rechte und zur Erfüllung der Verpflichtungen erforderlichen Maße – einzelne seiner dem Grundgesetz entstammenden Kompetenzen gemeinsam mit den anderen Mitgliedstaaten, über die Institutionen der Europäischen Union ausüben.“ In anderen Worten: es ist konstitutionell festgelegt, dass Ungarn Hoheitsrechte an die europäische Union abgibt (wie dies in jedem anderen Mitgliedsland der europäischen Union ebenfalls der Fall ist). Dazu passt die Bestimmung in Artikel Q in der Ungarn das Völkerrecht und bindende Verträge akzeptiert.

Hochinteressant in Bezug auf die Auslandsungarn ist Artikel G, welcher festlegt, dass durch ein Schwerpunktgesetz sonstige Arten des Erwerbs der Staatsbürgerschaft, abgesehen von Erlangung qua Geburt, festgelegt werden.

Als Referenz vor konservativen Kräften ist folgender Abschnitt in Artikel I zu verstehen; „Das Wappen und die Flagge können auch in den historisch entstandenen anderen Formen verwendet werden.“ Welche Formen damit gemeint sind, wird nicht präzisiert, dass aber die Flagge des ehemaligen Großungarns darunter fallen dürfte, ist anzunehmen.

Desweiteren können insbesondere die Artikel K (Institution der Ehe), N (Haushalt und Verfassungsgericht) und II (Menschenwürde) kritisiert werden. Art. K legt fest, dass die Ehe aus Mann und Frau besteht. Dies schließt eine gleichgeschlechtliche Ehe aus, aber keinesfalls eine eheähnliche Lebenspartnerschaft. Bedenkenswerter ist die Festlegung in Art. M auf eine ausgewogene, transparente und nachhaltige Haushaltsbewirtschaftung und die Verpflichtung für das Verfassungsgericht, diese zu respektieren. Kritisch zu sehen ist vor allem die Einschränkung der Überprüfungsmöglichkeiten des Verfassungsgerichts. Unverständlich ist der Artikel jedoch nicht, wenn man ihn vor dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrisen der letzten Jahre betrachtet, die Ungarn an den Rande des Staatsbankrotts gebracht haben. Infolge dessen muss Ungarn dem IWF und der EU noch hohe Kredite zurückzahlen. Dies ist besonders der Jobbik ein Dorn im Auge, allerdings ist der besagte Artikel kein Hinderungsgrund für die Regierung, diese Schulden zurückzuzahlen. An Artikel II kann man kritisch sehen, dass er die Menschenwürde explizit ab dem Zeitpunkt der Empfängnis des Fötus beginnen lässt. Dies wurde als Anti-Abtreibungsparagraph aufgefasst.

Minderheitenschutz (Art. H, Art.O, Art. XXVII) sowie die Freiheits-, Sozial- und Bürgerechte (Art IV –XXIX insbesondere Presse-, Religions- und Meinungsfreiheit, Trennung von Kirche und Staat) sind Kern und Fundament der Verfassung. Jedoch wird in Artikel I bestimmt, dass „Grundrechte können im Interesse der Durchsetzung andere rGrundrechte oder des Schutzes von verfassungsmäßigen Werten im unbedingt erforderlichen und dem zu erreichenden Zweck angemessenen Maße, unter Beachtung des wesentlichen Inhalts des Grundrechts eingeschränkt werden.“ Das Grundrechte mit anderen Grundrechten teilweise kollidieren können ist nicht zu vermeiden, dass sie jedoch auch eingeschränkt werden können, wenn sie mit verfassungsmäßigen Werten im Widerspruch stehen ist wesentlich problematischer. Welches sind denn diese verfassungsmäßigen Werte? Wenn beispielsweise Nationalstolz als ein solcher Wert deklariert würde, könnte man damit die Meinungs- und Pressefreiheit noch weiter einschränken als dies sowieso der Fall ist.

Die in Artikel VIII aufgeführte Versammlungsfreiheit, scheint nur noch teilgewährleistet zu sein, wie die jüngsten Einschränkungen bezüglich von Oppositionsdemos zum 15. März und darüber hinaus bezeugen. Bemerkenswert sind die in Artikel XXIX niedergelegten Garantien für die in Ungarn vorhandenen und zu Ungarn gehörenden Nationalitäten. Das beispiel der Roma, die offiziell als eine solche schützenswerte Minderheit anerkannt sind, zeigt aber in der praktischen Politik welche Diskrepanzen zwischen Verfassungswillen und -wirken liegen können.

Bezüglich der Machtverteilung ist das Parlament, wie in einer Republik üblich, das wichtigste Legislativorgan, wie in den Artikeln 1-7 niedergeschrieben wurde. Interessant ist, das der Präsident der Republik (also derzeit Pál Schmitt) das Parlament auflösen kann, wenn nicht bis zum 31.März eines entsprechenden Jahres der Haushalt beschlossen worden ist. Es ist somit theoretisch möglich eine Haushaltsverabschiedung zu verschleppen und somit den Weg für Neuwahlen frei zu machen.

Satire auf die neue Verfassung: Artikel 1: Fidesz hat immer recht. Artikel 2: Wenn nicht, gilt Artikel 1. Dieser Gag aus sozialistischen Zeiten hat zwar schon einen langen Bart,
wird aber immer wieder gern genommen.

Ein wenig verwunderlich ist folgender Absatz aus Artikel 6 „Vom Parlament kann das angenommene Gesetz – auf einen vom Initiator des Gesetzes, von der Regierung oder vom Parlamentspräsidenten vor der Abschlussabstimmung eingereichten Vorschlag – zur Untersuchung seiner Konformität mit dem Grundgesetz dem Verfassungsgericht zugeleitet werden.“ Zunächst scheint es, alles sei normal, das Parlament hätte das Recht Gesetze vom Verfassungsgericht überprüfen zu lassen. Aber, dies kann nur auf Vorschlag passieren. Nur der Initiator des Gesetzes, die Regierung und der Parlamentspräsident (der von der Parlamentsmehrheit gewählt wurde und demnach aus dem Regierungslager kommt) haben ein solches Vorschlagsrecht.

Somit kann de facto die Regierung sämtliche Gesetzesinitiativen der Opposition überprüfen lassen, diese hat jedoch nicht die Möglichkeit – eine deutliches Zeichen für ein Machtungleichgewicht. Außerdem kann der Präsident ein unbeanstandetes Gesetz zur Überprüfung an das Verfassungsgericht weiterleiten und selbst im Falle der Konformität es zur erneuten Diskussion an das Parlament zurücküberweisen. Er hat somit ein suspensives Veto.

Der Präsident und die Regierung sowie Hundertausend Wahlberechtigte haben jeweils - wie schon in der vorherigen Verfassung - das Initiativrecht für eine Volksabstimmung gemäß Artikel acht, die im Falle ihres Erfolges (mindestens ein Viertel aller Wahlberechtigten muss mit Ja stimmen, was bisher nur einmal gelang.), bindende Wirkung hat. Einige solcher Initiativen sind derzeit anhängig und u.A. von der Zulassung durch die (wieder mehrheitsparteilich zusammengesetzte) Wahlkommission abhängig. Dennoch hätte die Opposition, bei wachsender Unzufriedenheit im Volk, hier einen Hebel, Politikänderungen auch an den, eine 2/3-Mehrheit erfordernden Schwerpunktgesetzen vorbei, zu erzwingen.

Diese Schwerpunktgesetze, auch Kardinalsgesetze genannt, sind in demokratischer Hinsicht besonders problematisch. Zwei Dutzend von ihnen regeln als nachgeordnete, aber auf der Verfassung beruhende Gesetze wesentliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, wie u.a. die Sicherheits-, Bildungs, aber auch die Steuerpolitik. So ist z.B. die Flat tax, samt ihrem Einheitssteuersatz von 16%, Teil des “Finanzstabilitätsgesetzes”. Die Regierungspartei sichert sich damit Einfluss auf die Politikgestaltung über ihre heutige Mehrheit hinaus, denn die Änderung auch an diesen nachgeordneten Gesetzen selbst bedarf der 2/3-Mehrheit. Nicht zuletzt kann sich die Regierung hiermit auch selbst ein Bein stellen, immerhin besteht ja die Möglichkeit, dass Fidesz zwar wieder die Mehrheit und die Regierung stellt, aber nicht mehr mit einer 2/3-Mehrheit regieren kann. Sie wäre dann auf Mithilfe der Opposition angewiesen, die sich dafür sicher bedanken wird. Die Gestaltungskraft einer demokratisch gewählten Mehrheit einzuschränken, kann nicht als demokratisch angesehen werden und etliche Regelungen in den Schwerpunktgesetzen sind als kritisch zu bewerten, vor allem auch, da sie über das in Grundgesetzen übliche Maß hinausgehen und im schlimmsten Falle die Regierungsarbeit entscheidend behindern.

Hier die Liste aller als “Kardinalsgesetze” verankerten Punkte
http://www.parlament.hu/fotitkar/sarkalatos/sarkalatostvekjegyzeke.pdf

Die Aufgaben der Regierung werden in Artikel 15 recht weit und unpräzise als „alles, was das Grundgesetz oder andere Rechtsvorschriften nicht ausdrücklich in den Aufgaben- und Kompetenzbereich eines anderen Organs verweisen.“ definiert. Diese schwammige Formulierung lässt viel Raum für eine weite Auslegung und somit einen Kompetenzzuwachs der Regierung. Ein weiteres Indiz für ein Machtungleichgewicht.

 Der Ministerpräsident wird ebenso wie der Präsident von der Parlamentsmehrheit gewählt. Für die Machtfülle des Ministerpräsidenten spricht daneben, dass die Minister gemäß Artikel 18 im gegenüber für ihre Handlungen verantwortlich sind. Aber, wie auch schon in der Vorgängerverfassung, ist der Ministerpräsident laut dem Verfassungstext nicht der Fixstern des politischen Systems. De facto wird er dies aber weiterhin bleiben.

Bezüglich des Verfassungsgerichtes ist in Artikel 24 festgelegt: „Das Parlament wählt mit zwei Dritteln der Stimmen der Parlamentsabgeordneten aus der Reihe der Mitglieder des Verfassungsgerichts den Präsidenten, die Amtszeit des Präsidenten dauert bis zum Ablauf seiner Amtszeit als Verfassungsrichter.“ Fidesz kann also mit seiner derzeitigen Zweidrittelmehrheit genehme Kandidaten für die nächsten 12 Jahre wählen. Die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichtes in Zukunft ist somit zumindest fraglich. Der Präsident des obersten Gerichtshofs, der Präsident des Staatlichen Rechnungshofes und der oberste Staatsanwalt werden ebenso mit einer Zweidrittelmehrheit vom Parlament gewählt. Die Spitzenkräfte der Judikative können also jetzt von Fidesz für Jahre hinaus belegt werden und das werden sie auch.

Wohin führt die “Verfassungsstrasse”? In neue Knechtschaft oder eine neue Ära? Kommt wohl darauf an, was draus gemacht wird - und auf welcher Seite man steht...

Dadurch, dass das Verfassungsgericht einiger Rechte beschnitten wurde, wird die Regierung, und damit der Ministerpräsident, noch wichtiger werden. Das politische System Ungarns könnte sich von einer de facto Kanzlerdemokratie hin zu einem semi-präsidentiellen System entwickeln. Vor einiger Zeit wurde der Autor gefragt, ob nun Ungarn mit dem Mediengesetz und der neuen Verfassung auf dem Weg zu einer Diktatur sei. Der erste Reflex war, dies zu verneinen. Dies wäre jedoch genauso irrational, wie die Frage eindeutig zu bejahen. Man kann als nur an Hand von Fakten urteilen und versuchen Prognosen zu erstellen. Allein aus dem Text der neuen Verfassung kann nicht hergeleitet werden, dass Ungarn auf dem Weg zu einer Diktatur sei. Ein deutliches Machtungleichgewicht zwischen den Organen zugunsten der Regierung ist aber vorhanden – das System der „checks and balances“ angegriffen. Und die ersten Wochen, in der die neue Verfassung in Kraft ist, zeigen schon, dass man um die Demokratie in Ungarn besorgt sein kann.

Teil 1 - Die ehemalige Verfassung und ihre Infragestellung

Philipp Karl

Der Autor studierte Diplom-Sozialwissenschaften mit den Schwerpunkten Politikwissenschaft, Europarecht und öffentliches Recht an der Westfälischen-Willhelms Universität Münster und dem Institut d´études politiques in  Lille und absolviert derzeit ein Volontariat beim Pester Lloyd. In Lille absolviert er einen Master im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung.
 

 

 

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