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(c) Pester Lloyd / 04 - 2012      GESELLSCHAFT 24.01.2012

 

Tragödie der ganzen Nation

Eröffnung des Wallenberg-Jahres - Anmerkungen zum "neuen" Antisemitismus in Ungarn

Der ungarische Außenminister János Martonyi, sein schwedischer Amtskollege Carl Bildt sowie Yossi Peled, Minister ohne Portfeuille aus Israel, eröffneten am 17. Januar in Budapest das "Raoul Wallenberg Jahr" zu Ehren des schwedischen Diplomaten, der durch seinen persönlichen Einsatz Tausenden ungarischen Juden die Deportation und damit die Vernichtung ersparte und "daher ein Vorbild gibt." - Wahre Worte, doch wie sieht die Realität aus, wie steht es um den Antisemitismus in Ungarn heute?

Eröffnung des Wallenberg-Jahres

Wallenberg, der nach dem Krieg auf mysteriöse Weise verschwand, höchstwahrscheinlich Opfer des stalinistischen Terrors geworden war und dadurch ein Beispiel für die Universalität von Diktaturen gab, wurde vor 100 Jahren geboren. Mehrere zehntausend ungarische Juden stattete er mit Schutzpässen aus und stellte etliche Gebäude, ganze Quartiere unter den Schutz des schwedischen Staates, womit er - gemeinsam mit vielen namenlos gebliebenen Helfern - die Deportation von Tausenden verhindern half.

Außenminister Martonyi (links) mit seinen Gästen bei der Eröffnung der Wallenberg-Ausstellung
in der Nemzeti Galéria (noch bis 12.2.) am 17. Januar

Das Treffen der drei Politiker fällt auch auf den Jahrestag der Befreiung des Budapester Ghettos. Martonyi würdigte Wallenberg und andere auch "einfache Leute", die ihr eigenes Leben riskiert hatten, um anderen das Leben zu retten. "Leider hat es nicht genug von ihnen gegeben." Martonyi räumte ein, dass der ungarische Staat nicht "fähig" war "seine Bürger zu schützen" und sich mitschuldig gemacht hat, da er - "selbst unter Besetzung leidend" - die Deportationen unterstützte. (Es waren in erster Linie die faschistischen Pfeilkreuzler, die den deutschen Nazis willig zuarbeiten, eine Organisation, die unter Horthy groß wurde und deren Symbole und Parolen heute u.a. von der Partei Jobbik wieder aufgenommen werden und bei rund 20% der Walhberechtigten auf Widerhall treffen.)

Die Tragödie des Holocaust, "ist die Tragödie der ganzen Nation", so Martonyi. Wallenberg gibt ein lebendiges Beispiel, dass es möglich war, in Zeiten der Inhumanität human zu handeln. Dass er seinen diplomatischen Schutz und seine Privilegien einsetzte, um Menschen zu retten, gebe auch heutigen Diplomaten ein Vorbild. Martonyi führte weiter aus, dass die "ungarische Nation" mit dem "dunklen Geist des 20. Jahrhunderts" gebrochen habe, wenn auch das Ziehen von Lehren nach wie vor eine wichtige Aufgabe sei.

Im Rahmen der Festveranstaltung im Nationalmuseum wurden Auszeichnungen übergeben, darunter an Schüler, die in schulischen Projekten das Zusammenleben von jüdischen und nichtjüdischen Ungarn vor dem Holocaust recherchierten. Im Anschluss wurde die Wander-Ausstellung "Für mich gibt es keine andere Wahl" eröffnet, die erstmals in Ungarn gezeigt wird (bsi 12. Februar), nachdem sie voher bereits in Moskau, Berlin, Tel Aviv, Washington, New York und Toronto zu sehen war.

Am gleichen Tag trafen sich der ungarische Außenminister und der israelische Minister Yossi Peled, bei dem beide den "historischen Verlust für die ganze ungarische Nation" betonten, den der Holocaust bedeute. Sie sprachen aber auch über die Tätigkeit der jüdischen Gemeinden in Ungarn, die Beziehungen beider Länder, die Situation im Mittleren Osten sowie den "Arabischen Frühling".

red.

Ist Ungarn heute antisemitsch?

Das Thema ist komplex, die Frage nicht mit einem Satz zu beantworten und schon gar nicht auf ganz Ungarn zu verallgemeinern. Seit Jahren erstarken - nach einer Tabuisierung in der Kádárzeit - in Ungarn antisemitische Kräfte; Vorurteile und pauschalierten "Judenhass" gibt es jedoch nicht nur auf Seiten der extremen Rechten mit ihren einschlägigen Organisationen und Medien, sondern in weiten Teilen der Gesellschaft.

Dabei spielt es eine geringe Rolle, dass die ungarischen Juden häufig säkular, oft sogar sehr assimiliert, in jedem Falle aber ungarische Patrioten waren, wie u.a. auch die Geschichte dieser Zeitung beweist. Geradezu schulbuchmäßig wirkt Antisemitismus auch hierzulande in seiner Stellvertreterfunktion und damit außerhalb logischer Argumente und wird aus wahltaktischen Überlegungen - nicht nur einer Partei - instrumentalisiert.

Zunehmend bedienen sich auch regierungsnahe und nicht auf den ersten Blick extremistische Blätter und Politiker, die eine strategische Scharnierfunktion zwischen Nationalkonservativismus und Rechtsextremismus erfüllen, der Rhetorik von der "Fremdbeherrschung" und der "Kolonialisierung", dem "Ausverkauf" Ungarns, wobei die Grenzen beim Verweis auf die Schuldigen zwischen EU, Finanzkapital und "Finanzjudentum" schnell verschwimmen, wie u.a. auch Transparente auf der Pro-Regierungsdemo am vergangenen Samstag zeigten. Auch das Vokabular im bürgerlichen Lager bedient sich verschiedener Codes, u.a. dem des “Menschen nichtungarischen Herzens”, was ihre Kritik an der Regierungspolitik erklären soll. Schamloser geht es in den Foren vieler Zeitungen zu, unter dem Schutz der “Meinungsfreiheit” kann sich der Pöbel hier ungestraft austoben.

Die Demo am Samstag wurde u.a. von einem regelrechten Hassprediger, dem Orbán-Freund und Fidesz-Mitgründer Zsolt Bayer organisiert. Dieser schreibt in der "Magyar Hírlap" Kolumnen, bei der antisemitische Wendungen “Zweck-Jude” etc. zum gängigen Repertoire gehören, der Roma als “Tiere” bezeichnete. Er wurde von einer lokalen Fidesz-Organisation mit der Madách-Literaturmedaille geehrt. Auch der Chefredakteur des offen antisemitischen Blattes “Magyar Demokrata” gehörte zu den offiziellen Organisatoren der Demo am Samstag, was keinen der “Hunderttausenden” zu stören schien (Plakat rechts von ebenda.) und die Haltung dieser Leute als durchaus gesellschaftlich akzeptiert erscheinen lässt.

Der latente Antisemitismus in der Gesellschaft hat auch mit dem ungarischen Opfermythos zu tun, einer zentralen und mehrheitsfähigen These, die sowohl den Geschichtsunterricht an Schulen und Universitäten wie auch den politischen und gesellschaftlichen Diskurs bestimmt: Ungarn war stets fremdbeherrscht und selten Herr seines Schicksals, Stichworte: Türken, Habsburger, Deutsche, Russen, EU...

Praktische Folge dieses Geschichtsbildes sind u.a. die revisionistischen Eingriffe eines Staatssekretärs in die Budapester Holocaustgedenkstätte, die in der Absetzung der Leitung gipfelten, ein - auch schon unter den "Sozialisten" gepflegter, abwegiger Heldenkultus der ungarischen Armee unter dem Horthy-Hitler-Pakt, die Ikonisierung der Trianon-Tragik, die Rehabilitierung solcher Figuren wie Gyula Gömbös, die Renaissance der Horthy-Ära, wobei Horthy als Kämpfer für die Unabhängigkeit Ungarns dargestellt wird, sein Pakt mit Hitler und die vielen Verbrechen unter seiner Verantwortung aber ausgeblendet werden und die neue Verfassung sogar in einer “Kontinuität” an die damalige Zeit anschließen soll - sowie die problematische Ableitung aktueller Politik, z.B. gegenüber den Ungarn in den Nachbarländern (Doppelpass, Wahlrecht für Auslandsungarn, Förderung von Separatisten) aus den historischen Erfahrungen.

Das offizielle Ungarn argumentiert, die Finanzierung der jüdischen Gemeinden erhöht und einen offiziellen Holocaust-Gedenktag eingeführt zu haben und negiert, dass in Ungarn Antisemitismus über das in anderen Ländern vorhandene Maß hinausgeht. Medial entsprechend aufbereitete Treffen mit den Repräsentanten jüdischer Gemeinden sollen die Normalität der Beziehungen belegen. Hingegen wurde ein bekennender Rechtsextremist vom Budapester Oberbürgermeister Tarlós (Fidesz) - offenbar aus taktischen Überlegungen - zum Direktor des "Neuen Theaters" ernannt, eine Maßnahme, die man als tätigen, kalkulierenden Antisemitismus bezeichnen muss, weil man sich ausrechnet, durch solche Maßnahmen bestimmte Wählergruppen binden zu können.

ms.

 

 

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