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(c) Pester Lloyd / 13 - 2011  GESELLSCHAFT 29.03.2011

KOMMENTARE

Nichts dazu gelernt

Prozessauftakt zur Mordserie an Roma in Ungarn im Angesicht neuer Pogromstimmung

Während der Prozess um die Mordserie an Roma in Ungarn 2008 und 2009 begonnen hat, ist die Pogromstimmung von damals wieder präsent, auch dank der Untätigkeit der Behörden. Die mutmaßlichen Mörder von sechs Menschen haben mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu rechnen, ihre Schuld ist, der Staatsanwaltschaft zufolge, erwiesen. Gleichzeitig bewertet das Innenministerium die Lage im von rechtsextremen "Bürgerwehren" besetzten Gyöngyöspata als "gestörte Harmonie". Wie will Ungarn mit dieser “Expertise” eine wirksame EU-Romastrategie auf den Weg bringen?

Tatarszentgyörgy 2009. Hier starben zwei Menschen, kurz zuvor marschierte die “Ungarische Garde”, eine heute zumindest offiziell verbotene Teilorganisation der im Parlament vertretenen Partei Jobbik.

Prozessauftakt zur Mordserie an Roma in Ungarn

Vier Männer, die des Mordes an sechs Roma und weiterer Anschläge mit Verletzten in den Jahren 2008 und 2009 beschuldigt sind, müssen der von dem Pester Bezirksgericht am Freitag verlesenen Anklageschrift zufolge mit lebenslänglicher Haft rechnen, berichtete die Nachrichtenagentur MTI am Montag. Die Verdächtigen, die sich bereits seit mehr als einem Jahr in U-Hauft befinden, sind wegen fünffachen Mordes in neun bewaffneten Angriffen auf von Roma bewohnten Häuser vor allem in den Außenbezirken kleiner Dörfer in Zentral- und Ostungarn angeklagt. Sechs Personen starben bei diesen Angriffen, darunter ein fünfjähriges Kind, fünf weitere Personen, darunter ebenfalls ein Kind, erlitten lebensbedrohliche Verletzungen. Der Anklageschrift zufolge waren 78 Schüsse abgefeuert und elf Molotov-Cocktails auf oder in die Häuser der Opfer geworfen worden.

Die vier Verdächtigen, identifiziert als Árpád K., István K., Zsolt P. und István Cs., waren im August 2009 in Debrecen festgenommen und in Gewahrsam überführt worden. Die dem Bezirksgericht vorliegenden Akten geben an, dass die drei Hauptverdächtigen aus Unzufriedenheit über den staatlichen Umgang mit von Roma begangenen Verbrechen gehandelt hätten. Die Verhandlung ist vorerst bis zum 13. Juli für 34 Tage angesetzt. Die Ermittlungsbehörde hatte nach den ersten Verhören auch von "Verbindungen" in das Umfeld rechtsextremistischer Organisationen gesprochen, diese aber bisher nicht konretisiert. Die Anschlagswelle ging zeitlich einher mit Aufmärschen der "Ungarischen Garde" zum Teil in den gleichen Orten, in denen wenig später die Anschläge stattfanden. Es wurde eine regelrechte Pogromstimmung kreiert.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) teilte MTI in einem Statement am Freitag mit, das kommende Urteil sollte der ungarischen Öffentlichkeit ein klares Signal setzen, dass die Romagemeinden gegen alle rassistisch motivierten Angriffe und Bedrohungen geschützt werden müssten. Bezüglich der Ereignisse im Dorf Gyöngyöspata äußerte AI die Befürchtung, dass die Polizei in der Ergreifung aller möglichen und nötigen Schritte scheitere, die Bedrohung für die örtliche Romabevölkerung aufzuheben

Gyöngyspata 2011. Hier marschierte wochenlang “Gendarmerie” und “Bürgerwehr”, Nachfolger der “Ungarischen Garde”, organisiert von Jobbik, unterstützt von Bürgermeister und “Volk”.

Ungarischer Innenminister zu Vorfällen in Gyöngyöspata

Drei Wochen nach Beginn der romafeindlichen Bedrohungen und Aufmärsche im Dorf Gyöngyöspata hat das ungarische Innenministerium am vergangenen Freitag ein Statement vorgelegt, das genauso weltfremd wie zynsisch ist und zeigt, dass die Verantwortlichen aus den obigen Ereignissen bis heute rein gar nichts gelernt haben.

Es wird "die Harmonie" zwischen den EinwohnerInnen als „Grundlage der ökonomischen und kulturellen Entwicklung Ungarns“ beschworen und festgestellt, dass „einige unverantwortliche Personen versucht” hätten, diese Harmonie in Gyöngyöspata zu stören. Es beständen möglicherweise Pläne zur Ausweitung dieser Aktivitäten auf andere Orte, jedoch dürfe es in Ungarn keinen Platz für Akte des Rassismus geben.

Für rassistische Haltungen ist indes jede Menge Platz, wie man tagtäglich erleben darf, zumal man die Nötigungen der "Bürgerwehr" gegenüber der Minderheit wochenlang geschehen ließ und damit genau diese Situation vorfindet, die 2008/2009 die Stimmung für die Mordserie schuf. Die Situation in Gyöngyöspata erinnert fatal an jene in Tatarszentgyörgy vor zwei Jahren. Dort starben kurz nach einem Marsch der “Ungarischen Garde” zwei Menschen durch die Kugeln von Extremisten, die zuvor das Haus ihrer Opfer in Brand gesetzt hatten. Als der Vater mit seiner kleinen Tochter floh, wurde geschossen. Auch die jetzt vor Gericht stehenden Täter rechtfertigten sich damit, dass der Staat "seinen Pflichten" nicht nachkam und wollten "das Recht" selbst wieder herstellen, ihr Recht freilich. Dieser Zusammenhang wird bis heute von den Machthabern nicht hergestellt und stellt eine strafbare Vernachlässigung der Obsorgepflicht des Staates dar.

Dazu: April 2010 - Jobbik ist kein Phänomen, sondern ein Produkt - KOMMENTAR

In der weichspülenden Erklärung des Innenministers heißt es weiter, dass die „Regierung des nationalen Zusammenhalts“ sich in der Pflicht sieht, die Einwohner ihres Landes zu verteidigen, ungeachtet deren ethnischen, kulturellen oder sozialen Identitäten, eine Aufgabe, die die Regierung jedoch ohnehin hat und wozu er nicht erst einer Erklärung bedurft hätte. "Das Ministerium werde keine Einschüchterung von Minderheiten oder ethnischen Gruppen innerhalb Ungarns tolerieren und die Behörden gegen entsprechende Aktionen sofort und entschlossen vorgehen." Die Eregnisse in Gyöngyspata machen diesen Satz zu einer reinen Lüge.

Allein die ungarische Polizei sei der Garant der öffentlichen Ordnung und werde alle notwendigen Maßnahmen zur Gewährleistung eines sicheren und angstfreien Lebens in Ungarn ergreifen. Genau diese Worte fanden schon die "sozialistischen" Vorgänger, beide ließen ihren Worten jedoch kaum Taten folgen, wohl in der unterschwelligen Einsicht, dass Polizeimaßnahmen allein kaum die Ursachen und Auswirkungen von Rechtsextrmismus auf der einen, Armut und Elend auf der anderen Seite beseitigen können.

Der Staatssekretär für "Romafragen", Zoltán Balogh, machte sich vor Ort ein Bild, das Rote Kreuz und private Initiativen verteilten derweil Hilfsgüter an die Roma von Gyöngyöspata, was ein recht deplatziertes Bild ergab, schließlich handelte es sich bei den Vorfällen in Gyöngyspata nicht um eine Naturkatastrophe, ist die Armut doch strukturell. Die Aktion war als Zeichen der Solidarität gedacht und kam bei den Betroffenen durchaus auch so an, wie verschiedentliche Berichte zeigten.

Ungarn gehört die “Romafrage” entzogen

Die Bürgerwehr "Zur schöneren Zukunft" ist noch immer im Ort präsent, hält allerdings vorerst keine Straßensperren mehr aufrecht. Jobbik, die sich offen zur Einfädelung der Aktion bekennen, kündigte bereits weitere, größere Aktionen in anderen Orten an. Die Gegenwehr der Zivilgesellschaft beschränkt sich auf Kleinstgruppen von außen, die Bürger, zumal jene vor Ort, stehen mehrheitlich auf Seiten der "Paramilitärs" und ihrer neofaschistischen "Führungsoffiziere". Romagruppen organisierten eigene Proteste, Jobbik sieht darin die Androhung von Racheaktionen, weshalb der weitere "Schutz der Ungarn" nötig sei.

 

Sogar die amerikanische Botschaft hielt ihre Einmischung für angebracht und verurteilte das Entstehen eines "ungarischen Klu Klux Clan". Bürgerrechtler werfen schon die Frage auf, ob "die Ausländer" die ungarischen Roma womöglich besser beschützen als der eigene Staat.

Die Initiative der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft hinsichtlich einer EU-weiten, gemeinsamen Romastrategie ist jedenfalls so lange verlogen und hinfällig, bis sich der Staat konsequent um die Gewährleistung zumindest des äußeren Friedens in seinem Land kümmert. Bis dahin sollte die EU die Führung in der Frage übernehmen, da Ungarn dazu sichtbar Kompetenz und Wille fehlen.

S.R. / M.S. / red.

Zum Thema:

Machtergreifung - März 2011
Neonazis übernehmen Polizeigewalt in Ungarn
http://www.pesterlloyd.net/2011_11/11gyoengyoespata/11gyoengyoespata.html

Ausgelagert - März 2011
Ungarn: "Europäischen Romastrategie" und eigene Verantwortung
http://www.pesterlloyd.net/2011_09/09romaAndorBalog/09romaandorbalog.html

Mord nach Plan - Aug 2010
Ermittlungen wegen Mordserie an Roma in Ungarn abgeschlossen
http://www.pesterlloyd.net/2010_32/32romamorde/32romamorde.html

Verhaftungen nach Morden an Roma - Aug 2009
Polizeichef spricht von eindeutig rassistischen Motiven der Verdächtigen
http://www.pesterlloyd.net/2009_34/0934verhaft/0934verhaft.html

Mordanschlag auf Romafamilie in Ungarn - Feb. 2009
http://www.pesterlloyd.net/2009_08/0909mordanschlag/0909mordanschlag.html

Mafiamorde oder beginnende Pogrome? - Nov. 2008
Vier ermordete Roma in Ungarn innerhalb von zwei Wochen
Vertreter der größten Minderheit und die Polizei streiten über die Motive
http://www.pesterlloyd.net/2008_48/0848romamorde/0848romamorde.html

Themenseite Roma mit weiteren Hintergründen zur Lebenssituation und Lösungsansätzen
http://www.pesterlloyd.net/portalpolitik/gesellschaft/roma/roma.html

Bürgerrechtler organisieren sich für die Roma in Gyöngyöspata:
http://gyongyospatasolidarity.wordpress.com
 

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