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(c) Pester Lloyd / 13 - 2011  POLITIK 30.03.2011

KOMMENTARE

Konstitutionelle Selbstgespräche

Fortsetzung der Scheindebatte zur neuen Verfassung in Ungarn

Derzeit werden im ungarischen Parlament rund 100 Änderungsanträge zum neuen Verfassungsentwurf "diskutiert". In einer Art Selbstgespräch der Regierungsfraktion, nur gestört vom sporadischen bellen Jobbiks, zieht die Regierungskoalition eine plumpe Inszenierung demokratischer Willensfindung durch, während sie sich die Regierungsgewalt auch bei Verlust der Mehrheit sichert. Die Sozialisten boykottieren die Plenarsitzungen, weil sie das ganze Prozedere und die Inhalte für zutiefst undemokratisch halten. MSZP und LMP riefen zu Demonstrationen für den Tag der Absegnung auf.

Parlamentspräsient László Kövér eröffnet die Plenarsitzung zum Verfassungsentwurf. Die Bänke der sozialistischen Opposition bleiben konsequenterweise leer, zum einen habe sie nichts zu sagen, zum anderen nichts zu melden.

Orbáns gestörtes Verhältnis zu demokratischen Kontrollorganen kam gerade erst wieder bei einem Fernsehinterview am Montagabend zu Tage. Bezüglich des künftigen Verhältnisses zwischen Staatsschulden und der (kürzlich drastisch beschnittenen) Eingriffsmöglichkeiten des Verfassungsgerichtes, antwortete der Ministerpräsident, die Bürgerinnen und Bürger wollten eine Garantie in der Verfassung verankert sehen, dass Ungarn nicht in Schulden versinken werde. Eine solche Garantie erfordere aber den Ausschluss „exzessiver Rechtsstreitigkeiten“ zwischen den Verfassungsorganen und der Gerichtsbarkeit. Mit dieser Begründung der Machtbeschneidung - quasi aus sich selbst heraus sich einem übergeordneten nationalen Ziel unterordnend - gibt Orbán einen impliziten Ausblick auf die momentane Debatte über den Verfassungsentwurf im Parlament, die den Verdacht nicht widerlegen kann, zum Selbstzweck geführt zu werden.

Regierungseinfluss auch bei Mehrheitsverlust gesichert

Ministerpräsident Orbán und sein Fidesz formulieren nicht nur Staatssziele in und ein kitschiges Gebet an den Anfang der neuen Verfassung, sondern schreiben quasi ihr Regierungsprogramm in der Verfassungs fest, was ihnen auch Regierungseinfluss weit über ein denkbares Ende der eigenen Mehrheit garantieren würde. Neben dem Angriff auf die gesellschaftliche Toleranz und Vielfalt in der Präambel, ist dies das zentrale Problem dieses Verfassungsentwurfes.

Ausführliche Berichte, Hintergründe zu Inhalten und Debatte
zur neuen Verfassung auf unserer
Themenseite

Eine englische Übersetzung des Verfassungsentwurfes können Sie
hier als pdf-Datei herunterladen (von www.verfassungsblog.de)

Eine deutsche Übersetzung der Präambel
(Entwurf) findet sich
auf diesem Blog

Die Regierungsfraktion Fidesz-KDNP brüstet sich mit der Einbringung von nahezu 100 Änderungsanträgen zum ursprünglichen Entwurf, der freilich auch aus den eigenen Reihen stammt. Diese stehen nun zur Diskussion, bevor am 18. April die endgültige Parlamentsabstimmung und am 25.April die Unterzeichnung durch Staatspräsident Pál Schmitt erfolgen sollen. Mehr als die Hälfte der 99 Anträge stammen aus der Feder des regierenden Fidesz und der Christdemokraten, 25 von der oppositionellen Jobbik und 22 von "unabhängigen Abgeordneten.", wobei einzig die Ex-MSZP-Parlamentspräsidentin Katalin Szili dabei von der nicht-rechten Seite stammt. Die beiden anderen Oppositionsparteien (Sozialisten/MSZP und Grüne/LMP) hatten diese Form der Debatte boykottiert, weil sie die Art und Weise der Verfassungsfindung durch eine Partei grundsätzlich in Frage stellen. Als weitere Elemente der “nationalen Konsultation” gab es einen Fragebogen an alle Bürger mit Multiple-Choice-Antworten, wie bei der Auswahl des Hotelfrühstücks sowie Bürgerkreise, die sich in verschiedenen Orten vor Kamres versammelten.

Subbotnik am Montag: Premier Orbán besuchte Anfang der Woche Freiwillige, die die Fragebögen zur Verfassung auswerten, anschließend beantwortet er vor Reihen von hochgestapelten Kartons Fragen von Journalisten zur “nationalen Konsultation. Fotos: MEH / fidesz.hu

Verfassungsgericht darf wieder mitmachen, wenn Staatsschulden unter 50% sind

Die Änderungen betreffen nur scheinbar wichtige Punkte, die Grundausrichtung des Dokumentes bleibt erhalten: Die Abgeordneten auf Seiten der Regierung schlugen u.a. vor, die Anzahl der RichterInnen am Verfassungsgericht von elf auf fünfzehn zu erhöhen und seine volle Zuständigkeit, auch - wie zuvor beschnitten - über Gesetze, die die öffentlichen Finanzen betreffen, erst für den Fall wieder herzustellen, dass die Schulden unter 50% des Bruttoinlandsprodukts fallen. Nur, um sicher zu gehen, dass das richtig angekommen ist: Die Regierungspartei gewährt dem Verfassungsgericht die Gnade der Rechtsprechung, wenn der Staat eine bestimmte ökonomische Kennzahl erreicht.

Wieder verworfen wurden die Ideen, Eltern in nationalen und lokalen Wahlen zusätzliche Wählerstimmen zuzuteilen, angeblich sprachen sich 85% der ausgewerteten Fragebögen dagegen aus, hinzu kommen enorme Bedenken hinsichtlich einer EU-Unverträglichkeit eines solchen Sonderwahlrechts. Der eigentliche Grund der Ablehnung liegt aber in der Befürchtung der Bevölkerung, dass die “gebärfreudigen” Roma, die eine deutlich höhere Geburtenrate als “die Ungarn” aufweisen, zu viel Einfluss auf die Politik bekommen könnten.

Auch die, Verwendung des bis 1949 gebräuchlichen Begriffs „varmegye“, etwa entspr. der mittelalterlichen "Gespanschaft" für die ungarischen Komitate statt „megye“, sowie die Auflistung der Abgeordneten, die für die Verfassung abgestimmt haben, am Ende des Gesetzestextes, sind vom Tisch.

Forint und Steuergesetze in Verfassungsrang

Mihály Varga, Staatssekretär im Amt des Ministerpräsidenten, sprach sich für eine Aufnahme des Forint als nationale Währung in den Verfassungstext aus (passend zu Orbáns kürzlicher Erklärung, den ungarischen Euro werde es vor 2020 nicht geben. Das bedeutet, dass eine zukünftige Regierung auch die Zustimmung der Opposition benötigen wird, um über die Einführung der Gemeinschaftswährung zu befinden. Gleiches soll für verschiedene Steuergesetze gelten (Art. 40), was ein zentrales Problem dieser Verfassung darstellt: Orbán schreibt nicht nur Staatssziele, sondern sein Regierungsprogramm in der Verfassungs fest, was ihm Regierungseinfluss weit über ein denkbares Ende seiner eigenen Mehrheit garantieren würde.

Weitere Vorschläge umfassen Garantien eines besonderen Schutzes für landwirtschaftliche Nutzflächen, Wasserressourcen, Wälder and einheimische Pflanzen- und Tierarten, die nach Hinweisen mehrerer Umweltschutz-Organisationen beigefügt wurden und auch die Implementierung des Rechts auf eine gesunde Umwelt und die Betonung der Notwendigkeit zusätzlicher Schutzmaßnahmen für Frauen, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen und besonders Kinder beinhalten sollen.

Wahlrecht für Auslandsungarn wird kommen

Die Präambel, „Credo der Nation” genannt, soll zusätzlich die in Ungarn lebenden nationalen Minderheiten als konstituierende Bestandteile des Staates auffassen und den Schutz ihrer Sprachen und Kulturen einfordern. Da die gleiche Präambel jedoch auch feststellt, worauf das Volk stolz zu sein hat (Christentum, Staatsgründung durch Istvám I., Heilige Krone) dürfte es mit der Ernsthaftigkeit dieses Toleranzediktes gegenüber nicht ethnisch definierten Minderheiten nicht weit her sein. Nicht fehlen darf die Unterstützung für die individuellen und kollektiven Rechte ethnischer Ungarn im Ausland, und deren Bemühungen, Selbstverwaltungen einzurichten, wobei es zuvor sogar einen Vorschlag gab, der statt "Selbstverwaltung" von "Autonomie", ja, auch territorialer, sprach.

Premier Orbán beendete, ebenfalls in einem Fernsehinterview, die Debatte darüber, ob Auslandsungarn, also auch jene, die nach dem neuen, vereinfachten Verfahren zu einem ungarischen Pass kommen, zukünftig das Wahlrecht in Ungarn erhalten sollten. Seiner Ansicht nach, geht es nicht um das ob, sondern nur noch um das wie der Stimmabgabe.

Auch der Schutz der Freiheit und die Vielfalt der Presse wird von der Regierungspartei als dem Verfassungsrang für würdig erachtet, allerdings weiter hinten mit dem bestehenden Mediengesetz verknüpft und so wiederum einer Parteiinstitution anheim gegeben. Die Regierenden in Ungarn haben scheinbar nicht verstanden (womöglich ignorieren sie es auch), dass es universelle Grund- und Bürgerrechte gibt, zu denen die Meinungs-, Medien- und Pressefreiheit gehört, die nicht verhandel- und relativierbar sind.

Jobbik teilweise gleicher oder ähnlicher Meinung

Die rechtsextreme Jobbik-Partei bewegt sich mit manchen ihrer Anträge in einer ideologischen Nähe zu Plänen des Fidesz. So schlug sie die Erklärung von Land und Gewässern zum exklusiven Eigentum der Ungarn vor (und spitzte damit die bereits vorhandene Tendenz einer nationalistischen Vereinnahmung des Umweltschutzes zu) und sprach sich für den Ausschluss von Parlamentsabgeordneten von Ämtern in Kommunen aus, was Plänen des Fidesz entspricht. Jobbik verwies auch auf die Möglichkeit einer Volksabstimmung über die neue Verfassung, was Fidesz-Fraktionschef János Lázár zumindest im Februar noch nicht ausgeräumt hatte, aber eindeutig gegen die häufig geäußerten Intentionen Orbáns spricht, der die Wahl vom letzten April als ausreichende Volksabstimmung bezeichnete.

Andere Vorschläge Jobbiks umfassten die Aufhebung der Immunität von Parlamentsabgeordneten, die Umstellung auf ein Zweikammern-Parlament und die Unterstellung der Nationalbank unter die Kontrolle des Parlamentes. Die Wiedereinführung der Todesstrafe wird ebenfalls gefordert, damit auch alle wissen, wo diese Partei steht.

LMP: „Die Wähler werden keine Wahl haben“

Die oppositionelle grüne Partei „Eine andere Politik ist möglich“ (LMP) beschuldigt Fidesz, den Wählern das Recht der Entscheidung abzuschneiden. Fraktionsvorsitzender András Schiffer erklärte am Montag in Budapest, eine Implementierung der Gesetze zu Steuern und Beiträgen zur sozialen Sicherheit mit der Erfordernis einer parlamentarischen Zweidrittelmehrheit zu ihrer Aufhebung bedeute, dass die nächste Regierung ggf. nicht in der Lage sein werde, den Willen der Wähler umzusetzen und etwa Besteuerungen umzugestalten. Fidesz wolle  „die ungarischen Wähler daran hindern, 2014 zu entscheiden, ob sie eine gegen arme Menschen gerichtete neokonservative und neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik haben wollen oder nicht“.

Schiffer kritisierte zudem die bis in die 2020er Jahre reichende Besetzung einiger Spitzenämter mit dem Vetorecht bezüglich der Haushalte zukünftiger Regierungen. Die LMP kündigte an, eine Demonstration gegen den Verfassungsentwurf auf dem Vörösmarty-Platz in der Innenstadt Budapests zu organisieren. Der Entwurf würde in seiner Umsetzung eine „ernste Gefahr für die Demokratie sowie für soziale und ökologische Rechte” bedeuten.

MSZP: „Widerspruch zu den demokratischen Traditionen des Landes"

 

Auch Ungarns größte Oppositionspartei, die MSZP, hat den Aufruf zu einer Demonstration gegen die neue Verfassung beschlossen. Präsidiumsmitglied Gábor Simon teilte am Montag der Tageszeitung „Népszabadság“ nach einem Parteitreffen am Wochenende mit, Ziel des Protestes sei, die „Öffentlichkeit zu verteidigen“. Die Delegierten der Partei hätten erklärt, der Verfassungsentwurf laufe „den demokratischen Traditionen des Landes" zuwider. Die Demonstration ist für den Tag der Parlamentsabstimmung (wie erwähnt vermutlich der 18.April) geplant. Der stellvertretende parlamentarische Sprecher der MSZP, István Újhelyi, hatte am Wochenende erklärt, Fidesz missbrauche seine Zweidrittelmehrheit und monopolisiere die Parlamentssitzungen, um einen Entwurf durchzusetzen, der als Grundgesetz Ungarns „ungeeignet“ ist.

S.R. / M.S. / red.

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