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Stadtmagazin des Pester Lloyd für Budapest

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Die Unterwelt von Budapest

Von einem ehemaligen Krankenhaus, einer Bibliothek, einer Kapelle bis hin zu einer seismologischen Messstation: unter dem Boden Budas lässt sich so manches entdecken. Doch die Geheimnisse des Untergrunds sind der Öffentlichkeit meist unbekannt.

Die Millionen Touristen, die Budapest Jahr für Jahr besuchen und im Burgviertel spazieren gehen, sind meist ahnungslos, dass sich unter ihren Füßen ein riesiges unterirdisches Reich befindet. Zwar gehört das bekannte unterirdische Burglabyrinth zur Sightseeingtour vieler Touristen, aber der Besuch in den dunklen Gängen entpuppt sich eher als herbe Enttäuschung, denn als unvergessliches Erlebnis. Während sich der Gast im Labyrinth auf den Pfaden der Vergangenheit befindet, beschäftigt sich die begleitende Ausstellung mit der Frage, welche Spuren die Besucher der Zukunft im Labyrinth vorfinden würden. So wird suggeriert, dass der Tourist der Zukunft beispielsweise auf zu überdimensionalen Größen mutierte Müllgegenstände und technische Geräte stoßen würde, welche Zeugnis der heutigen Zivilisation sein sollen. Genauso, wie sich die Macher der Ausstellung futuristischen Themen gewidmet haben, wirkt leider auch das gesamte Konzept der Darstellungen sehr weit hergeholt.

Schade, dass sich dem an der Unterwelt Budapests Interessierten so wenige weitere Möglichkeiten bieten, die zahlreichen unterirdischen Gänge und Höhlen der Stadt zu besuchen, denn zu entdecken gäbe es jede Menge. Was sich den Touristen verschließt, davon hat auch der Durchschnitts-Budapester oft noch nie gehört, geschweige denn gesehen. Budapest ist unter der Oberfläche von Höhlen und Gängen durchzogen, so dass sich das unterirdische Antlitz der Stadt wie ein durchlöcherter Schweizer Käse vorstellen lässt.

Die von der Natur geformten Felsformationen unter Budapests Boden wurden in der Vergangenheit von den Menschen vergrößert und zu den unterschiedlichsten Zwecken genutzt. Meist verwandelte sich eine unterirdische Höhle so in einen Speicherraum oder Weinkeller und diente als Versteck und Zufluchtsort vor angreifenden Feinden. Doch die Bevölkerung zeigte ihre Kreativität auch darin, dass sie es verstand, aus den Räumlichkeiten völlig Neues zu schaffen.

So befindet sich unter dem Burgviertel in der Gegend zwischen Úri utca, Tárnok utca, Dísz tér und Országház utca ein ehemaliges Krankenhaus. 1943 ließ die städtische Verwaltung mehrere Höhlen miteinander verbinden und ausbauen. Das sich nun über vier Kilometer erstreckende Labyrinthsystem sollte anfangs nur als ein defensiver Rückzugsort im Zweiten Weltkrieg dienen, wurde aber schon bald um ein militärisches Krankenhaus erweitert. Der damalige Chefarzt wurde von drei Ärzten unterstützt, ebenso von vierzig Medizinern und Krankenschwestern des Roten Kreuzes, die in Schichten arbeiteten. Im Verlauf des Kalten Krieges wurde das über Bad- und Toilettenanlagen verfügende Höhlensystem als eine Art Luftschutzbunker genutzt. Vor kurzem diente es als Schauplatz für eine Filmproduktion und für Vorführungen des Krétakör Theaters.

In den Budaer Bergen gibt es die Bátori-Höhle, deren Namensgeber, der Pauliner Mönch László Bátori, hier von 1437 bis 1447 ein Eremitenleben geführt haben soll. Als Tradierer der Heiligen Schrift soll er tätig gewesen sein und auch einen berühmten Bibelkommentar verfasst haben, der sich vor seinem Verschwinden angeblich in der weltberühmten Bibliothek von König Matthias befand. Im Jahre 1830 entdeckte Nándor Tomola den geheimnisvollen Ort und führte zahlreiche Expeditionen durch. Bald wurde die Höhle als Mine freigegeben, da sich dort Gold und Silber abbauen ließen. 1935 wurde ein Marmoraltar im Inneren der Höhle errichtet, um an die spirituelle Vergangenheit des Ortes zu erinnern. Nur mit einer Genehmigung des Duna-Ipoly National Parks kann der Besucher die Bátori-Höhle besichtigen und hier Mineralsteine und schneeweiße Stalaktiten entdecken.

Das Problem, dass die Speicherkapazität einer Bibliothek irgendwann einmal erreicht ist, mussten die Organisatoren der Széchényi Nationalbibliothek in den 60er Jahren schmerzlich zur Kenntnis nehmen. Bücher über Bücher hatten sich in den vielen Jahren angesammelt, so dass über eine Vergrößerung der Bibliothek nachgedacht werden musste. Man entschied sich ungewöhnlicherweise für einen Ausbau ins Innere der Erde. Der unterirdische Teil der Bibliothek ist komplett von menschlicher Hand geschaffen worden. Damals wurde geschätzt, dass die unterirdischen Kellergewölbe im Bauche des Burgbergs Platz für die Bücher der kommenden 50 Jahre bieten würden. Dies erwies sich jedoch als Fehler, denn das neue Untergrundgebäude konnte erst 1985 eröffnet werden, und die Bücherkollektion wuchs schneller als erwartet. Zur Jahrtausendwende waren die Kellerräume bereits randvoll mit Publikationen gefüllt, so dass über den Bau weiterer unterirdischer Speicherräume nachgedacht wurde. Bis heute konnte das Erweiterungsprojekt wegen Problemen mit der Fundamentslegung nicht durchgeführt werden.

Ein weiteres Ereignis, das die Budapester zum Umdenken zwang, geschah im Jahr 1810. Ein Erdbeben, bekannt als das Mór-Erdbeben, ließ Ungarn erschüttern. Bis zu diesem Zeitpunkt verfügte man noch nicht über Messgeräte, die die Bewegungen der Erdkruste beobachtet hätten. Doch schon ein Jahr später wurde Ungarn zum zweiten europäischen Land, das ein seismologisches Untersuchungsprogramm initiierte. 1902 wurde der erste Seismograph in Ungarn in Betrieb genommen, der 1966 ein neues Heim im Sas-Berg fand. Bis heute befindet sich eines der insgesamt 18 ungarnweiten seismologischen Observatorien in den engen Gängen des Berges, die wahrscheinlich im Zweiten Weltkrieg als Luftschutzbunker und später zur Pilzzucht dienten. Die Daten, die hier registriert werden, werden auf Englisch veröffentlicht, so dass sie mit der ganzen Welt geteilt und zur internationalen Forschung genutzt werden können. Das seismologische Institut im Sas-Berg blickt ganz bewusst in das Innere der Erde, denn hier brodelt das Leben ebenso wie auf der für jeden sichtbaren Oberfläche. Wie bei einem Menschen lohnt es sich auch bei einer Stadt, hinter die Fassade in das verborgene Innere zu blicken.

Amanda Kovács

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