(c) Pester Lloyd / 2007
STADTLEBEN _______________________________________________________
Die Unterwelt von Budapest
Von einem ehemaligen Krankenhaus, einer Bibliothek, einer Kapelle bis hin zu einer seismologischen Messstation: unter dem Boden Budas lässt sich so
manches entdecken. Doch die Geheimnisse des Untergrunds sind der Öffentlichkeit meist unbekannt.
Die Millionen Touristen, die Budapest Jahr für
Jahr besuchen und im Burgviertel spazieren gehen, sind meist ahnungslos, dass sich unter ihren Füßen ein riesiges unterirdisches Reich befindet. Zwar gehört das bekannte
unterirdische Burglabyrinth zur Sightseeingtour vieler Touristen, aber der Besuch in den dunklen Gängen entpuppt sich eher als herbe Enttäuschung, denn als unvergessliches
Erlebnis. Während sich der Gast im Labyrinth auf den Pfaden der Vergangenheit befindet, beschäftigt sich die begleitende Ausstellung mit der Frage, welche Spuren die Besucher der
Zukunft im Labyrinth vorfinden würden. So wird suggeriert, dass der Tourist der Zukunft beispielsweise auf zu überdimensionalen Größen mutierte Müllgegenstände und technische Geräte
stoßen würde, welche Zeugnis der heutigen Zivilisation sein sollen. Genauso, wie sich die Macher der Ausstellung futuristischen Themen gewidmet haben, wirkt
leider auch das gesamte Konzept der Darstellungen sehr weit hergeholt.
Schade, dass sich dem an der Unterwelt Budapests Interessierten so wenige
weitere Möglichkeiten bieten, die zahlreichen unterirdischen Gänge und Höhlen der Stadt zu besuchen, denn zu entdecken gäbe es jede Menge. Was sich den
Touristen verschließt, davon hat auch der Durchschnitts-Budapester oft noch nie gehört, geschweige denn gesehen. Budapest ist unter der Oberfläche von Höhlen
und Gängen durchzogen, so dass sich das unterirdische Antlitz der Stadt wie ein durchlöcherter Schweizer Käse vorstellen lässt.
Die von der Natur geformten Felsformationen unter Budapests Boden wurden in
der Vergangenheit von den Menschen vergrößert und zu den unterschiedlichsten Zwecken genutzt. Meist verwandelte sich eine unterirdische Höhle so in einen
Speicherraum oder Weinkeller und diente als Versteck und Zufluchtsort vor angreifenden Feinden. Doch die Bevölkerung zeigte ihre Kreativität auch darin,
dass sie es verstand, aus den Räumlichkeiten völlig Neues zu schaffen.
So befindet sich unter dem Burgviertel in der Gegend zwischen Úri utca, Tárnok
utca, Dísz tér und Országház utca ein ehemaliges Krankenhaus. 1943 ließ die städtische Verwaltung mehrere Höhlen miteinander verbinden und ausbauen. Das
sich nun über vier Kilometer erstreckende Labyrinthsystem sollte anfangs nur als ein defensiver Rückzugsort im Zweiten Weltkrieg dienen, wurde aber schon bald
um ein militärisches Krankenhaus erweitert. Der damalige Chefarzt wurde von drei Ärzten unterstützt, ebenso von vierzig Medizinern und Krankenschwestern
des Roten Kreuzes, die in Schichten arbeiteten. Im Verlauf des Kalten Krieges wurde das über Bad- und Toilettenanlagen verfügende Höhlensystem als eine Art
Luftschutzbunker genutzt. Vor kurzem diente es als Schauplatz für eine Filmproduktion und für Vorführungen des Krétakör Theaters.
In den Budaer Bergen gibt es die Bátori-Höhle, deren Namensgeber, der Pauliner
Mönch László Bátori, hier von 1437 bis 1447 ein Eremitenleben geführt haben soll. Als Tradierer der Heiligen Schrift soll er tätig gewesen sein und auch einen
berühmten Bibelkommentar verfasst haben, der sich vor seinem Verschwinden angeblich in der weltberühmten Bibliothek von König Matthias befand. Im Jahre
1830 entdeckte Nándor Tomola den geheimnisvollen Ort und führte zahlreiche Expeditionen durch. Bald wurde die Höhle als Mine freigegeben, da sich dort Gold
und Silber abbauen ließen. 1935 wurde ein Marmoraltar im Inneren der Höhle errichtet, um an die spirituelle Vergangenheit des Ortes zu erinnern. Nur mit
einer Genehmigung des Duna-Ipoly National Parks kann der Besucher die Bátori-Höhle besichtigen und hier Mineralsteine und schneeweiße Stalaktiten entdecken.
Das Problem, dass die Speicherkapazität einer Bibliothek irgendwann einmal
erreicht ist, mussten die Organisatoren der Széchényi Nationalbibliothek in den 60er Jahren schmerzlich zur Kenntnis nehmen. Bücher über Bücher hatten sich in
den vielen Jahren angesammelt, so dass über eine Vergrößerung der Bibliothek nachgedacht werden musste. Man entschied sich ungewöhnlicherweise für einen
Ausbau ins Innere der Erde. Der unterirdische Teil der Bibliothek ist komplett von menschlicher Hand geschaffen worden. Damals wurde geschätzt, dass die
unterirdischen Kellergewölbe im Bauche des Burgbergs Platz für die Bücher der kommenden 50 Jahre bieten würden. Dies erwies sich jedoch als Fehler, denn das
neue Untergrundgebäude konnte erst 1985 eröffnet werden, und die Bücherkollektion wuchs schneller als erwartet. Zur Jahrtausendwende waren die
Kellerräume bereits randvoll mit Publikationen gefüllt, so dass über den Bau weiterer unterirdischer Speicherräume nachgedacht wurde. Bis heute konnte das
Erweiterungsprojekt wegen Problemen mit der Fundamentslegung nicht durchgeführt werden.
Ein weiteres Ereignis, das die Budapester zum Umdenken zwang, geschah im Jahr
1810. Ein Erdbeben, bekannt als das Mór-Erdbeben, ließ Ungarn erschüttern. Bis zu diesem Zeitpunkt verfügte man noch nicht über Messgeräte, die die
Bewegungen der Erdkruste beobachtet hätten. Doch schon ein Jahr später wurde Ungarn zum zweiten europäischen Land, das ein seismologisches
Untersuchungsprogramm initiierte. 1902 wurde der erste Seismograph in Ungarn in Betrieb genommen, der 1966 ein neues Heim im Sas-Berg fand. Bis heute
befindet sich eines der insgesamt 18 ungarnweiten seismologischen Observatorien in den engen Gängen des Berges, die wahrscheinlich im Zweiten Weltkrieg als
Luftschutzbunker und später zur Pilzzucht dienten. Die Daten, die hier registriert werden, werden auf Englisch veröffentlicht, so dass sie mit der ganzen Welt
geteilt und zur internationalen Forschung genutzt werden können. Das seismologische Institut im Sas-Berg blickt ganz bewusst in das Innere der Erde,
denn hier brodelt das Leben ebenso wie auf der für jeden sichtbaren Oberfläche. Wie bei einem Menschen lohnt es sich auch bei einer Stadt, hinter die Fassade in das verborgene Innere zu blicken.
Amanda Kovács
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