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(c) Pester Lloyd / 2007 THEATER & KONZERT
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Zirkustraum oder Wirklichkeit?

Ein Besuch im Fövárosi Nagycirkusz / Zirkus Budapest

Die über 100-jährige Geschichte des Budapester Großzirkus (Fövárosi Nagycirkusz) ist geprägt von ständigen Höhen und Tiefen. Seit jeher liegt er im Stadtwäldchen der Hauptstadt nahe des Heldenplatzes, ebenso wie der Zoo, der Botanische Garten und der Vidámpark (Freizeitpark).

Ende des 19. Jahrhunderts stand die Wichtigkeit dieser Freizeit- und Erholungsoase auf ihrem Zenit, war das Stadtwäldchen der größte Park der jungen und florierenden Stadt Budapest. Vor allem die Oberschicht der zu der Zeit sprunghaft ansteigenden Stadtbevölkerung verbrachte einen Großteil ihrer Freizeit hier im Széchenyi Thermalbad, auf der Kunsteisbahn, im weltberühmten Gundel Restaurant oder besuchte das Verkehrsmuseum.

Vom Gauklerprogramm zur Artistenshow

1891, am 7. Mai, eröffnete der deutsch-holländische Zirkusdirektor Ede Wulff das Zirkusgebäude, das er damals aus Eisenfachwerk und Wellblech auf dem Gelände des Tiergartens erbaut hatte und dementsprechend nur mit einer Eintrittskarte für den Zoo besucht werden konnte. Die Größe des Gebäudes ist mit der des heutigen identisch, mit dem einen Unterschied, dass heute maximal 1.850 Besucher Einlass erhalten, wo früher noch 2.290 Zuschauer Platz fanden.

Wulff führte seinen Zirkus, der später zum Großzirkus der Hauptstadt werden sollte, mit einem Programm, das sich ohne weiteres mit dem von anderen Weltstädten messen konnte. Bereits vier Jahre nach der Gründung übergab der Direktor jedoch die Pacht an die Leitung des Tiergartens und bald bekam der Zirkus ernsthafte Konkurrenz. Der 1896 eröffnete Vergnügungskomplex Ösbudavára, der sich ebenfalls auf dem Gelände des Zoos befand, verfügte nämlich über viele weltberühmte Artisten und entzog dem städtischen Zirkus sein Publikum.

Einige Jahre tat sich nichts zur Befreiung des Zirkus aus seiner Krise, bis ihn schließlich der berühmte Clown und Kunstreiter Mátyás Beketow 1904 mietete und aus eigener Tasche grundrenovierte. Am 30. April eröffnete er den von da an bis 1934 nach ihm benannten Zirkus mit einem noch nie gesehenen Gauklerprogramm. 1908 wurde das Gebäude um 80 Meter in Richtung Englischer Garten an seinen heutigen Standort verlegt. In den 20er Jahren gesellte sich Sándor Könyöt, der vorher schon einige kleinere Zirkusbetriebe geleitet hatte, als Partnerdirektor zum Kreis des Beketow-Zirkus. 1935 schrieb die Stadt Budapest abermals einen Wettbewerb um die Pacht des Zirkus aus, den György Fényes gewann, der vorher schon den Kleinen Zirkus im Stadtwäldchen betrieben hatte.

Das von Fényes inszenierte, im Juli 1936 uraufgeführte Programm bildete weniger eine klassische Zirkusvorstellung als vielmehr eine mit dem frisch renovierten und ausgeschmückten Gebäude in Einklang gebrachte Show. Zum Team des Fényes-Zirkus zählten im Laufe der Zeit viele herausragende und weltberühmte Artisten, wie der Musikclown Gábor Eötvös, dessen Kunst sogar Charlie Chaplin hoch schätzte. Das Kriegsjahr 1944 stellte das letzte Jahr unter Fényes` Führung dar, denn die Stadt legte wegen zunehmenden Bombardierungen die Spielerlaubnis auf Eis, womit gleichsam eine Epoche der Geschichte des Budapester Großzirkus zu Ende ging.

Im Juli nach Kriegsende wurde der Zirkus erneut geöffnet, die spätere Staatliche Artistenschule 1950 gegründet. Fünf Jahre danach konnte sich das Publikum erstmals vom Können der neuen diplomierten Artisten überzeugen. 1954 konstituierte sich das Landes Zirkus Unternehmen, das später zum Ungarisches Zirkus und Varieté Unternehmen wurde und noch heute unter dem Namen Ungarische Zirkus und Varieté Kht. (MACIVA)fungiert. In den 60er Jahren war es eher still um das bunte Rund, bis am 15. März 1966 die Zeitung Népszava den Abriss des alten Zirkusgebäudes verkündete. Innerhalb nur weniger Tage verschwand der einzige ganzjährig bespielte Steinbau-Zirkus Europas aus dem Stadtwäldchen. Bis dahin hatten Miklós Göndör, Rezsô Árvai und Lajos Fekete die Direktion des Budapester Großzirkus inne gehabt.

Erst Anfang des Jahres 1971 war ein neues Zirkusgebäude fertiggestellt und öffnete dem Publikum unter der Leitung des bis dahin einzigen weiblichen Direktors seine Tore; dies war Eötvös Gáborné, eine Angehörige der berühmten Picard-Dynastie. Zurzeit sitzt István Kristóf auf dem Stuhl des Zirkusdirektors, der 1988 Tamás Radnóti ablöste. Der 70er Jahre-Bau gegenüber des Széchenyi Bades lässt von außen leider den üblichen Charme eines Zirkus vermissen. Auch die zwei riesigen aufblasbaren Clowns, die die Fassade „zieren“, wirken wenig ansprechend. Das Innere bildet dennoch die klassische Zirkusmanege; das Publikum besetzt fast 360 Grad des Rundes, über dem Künstlereingang sitzt die hauseigene Zirkusband. Dennoch fehlt der traditionell in der Luft hängende Geruch von Sägespänen oder die Kuppel mit Trapezvorrichtungen.

Die Zirkusbetreiber hoffen schon seit Jahren auf die Verwirklichung der fälligen Renovierung. Ein Modell des geplanten Gebäudes ist im Foyer des Zirkus zu sehen und beinhaltet unter anderem eine richtige Kuppel mit den notwendigen artistischen Vorrichtungen. Der Budapester Großzirkus muss sich nicht, wie viele Zeltzirkusse, ein Winterquartier suchen, sondern ist seinem Publikum zwölf Monate im Jahr am selben Platz zu Diensten, in Europa einmalig. Abgesehen von den Zirkusproduktionen steht das Gebäude auch anderen – zur Unterhaltung des Zirkus notwendigen – Veranstaltungen zur Verfügung, wie seit einigen Jahren Klassikkonzerten, die in den Räumlichkeiten eine besondere akustische Würdigung erfahren, aber auch Modeschauen, privaten Banketten, Sportveranstaltungen, Tanz-, Theater- oder Operettenaufführungen.

Die Hauptsaison mit im Allgemeinen drei verschiedenen Hauptshows ist zwischen Januar und März, April und August sowie zwischen Oktober und Dezember. Mittwochs bis Freitags finden die Aufführungen jeweils um 15 Uhr statt, samstags vor-, nachmittags und abends sowie Sonntags ebenfalls vor- und nachmittags. Jährlich finden cirka 320.000 Zirkusbegeisterte allen Alters den Weg zum Budapester Großzirkus, komplett ausverkauft ist das Haus jedoch nur selten. In der Vergangenheit wurde schon viel darüber diskutiert, ob die Aufführungen unter der Woche nicht auf abends verlegt werden sollten, was probeweise auch geschah, doch birgt scheinbar jede Möglichkeit ihre Vor- und Nachteile. Nachmittags arbeiten zwar viele der Erwachsenen und die Kinder sind noch in der Schule, doch kommen oft ganze Schulklassen zu Besuch, was in den Abendstunden wiederum nicht möglich wäre. Eine optimale Lösung zur effektivsten Ausnutzung des Hauses und Gerechtwerdung gegenüber den Zielgruppen konnte bisher noch nicht gefunden werden.

Katrin Wolschke

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