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(c) Pester Lloyd / 29 - 2012     POLITIK 18.07.2012

 

Lebendige Gespenster

Präsident auf "Reparaturreise" in Israel - Csatáry unter Hausarrest - Ungarn und “sein” Antisemitismus

Das Wiesenthal Zentrum fordert Ungarn zu einem schnellen Prozess gegen den mutmaßlichen Kriegsverbrecher Csatáry auf und unterstellt den Behörden Verschleppung. Diese haben den Verdächtigen mittlerweile verhört unter Hausarrest gestellt. Präsident Áder versucht in Israel Schönwetter zu machen und redet dabei sehr bemüht um den heißen Brei herum. Während Antisemitismus von der Orbán-Regierung wortreich abgelehnt wird, sieht die Praxis ganz anders aus. Ein gefährliches Kalkül der Regierung befördert die neofaschistischen Tendenzen in Ungarn mehr als es sie bekämpft.

Die Behörden kannten Csatárys Aufenthalt seit Jahren

In einem offenen Brief bat das Simon Wiesenthal Zentrum in Jerusalem den ungarischen Präsidenten, den mehrerer Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verdächtgien László Csatáry "so schnell wie möglich vor Gericht zu bringen." Der 97jährige war vor einigen Tagen von Reportern des Boulevardblattes "The Sun" in Budapest in seiner Wohnung "aufgespürt" worden. Allerdings war den ungarischen Behörden dessen Aufenthalt schon seit sechs Jahren bekannt, die Aktion der Sun darf daher als PR-Kniff des Wiesenthal Centers gelten, für den Fall entsprechende Aufmerksamkeit zu erlangen. Im September 2011 wurden auch Ermittlungen gegen Csatáry eingeleitet, eine Anklage wurde bisher nicht erhoben. "Der Fall ist noch in Bearbeitung", ließ die Budapester Staatsanwaltschaft zuletzt wissen. Am Donnestag stellte sich heraus, dass die ungarischen Behörden bereits seit 1997 über die Einreise Csatárys - von diesem selbst - informiert waren. Mehr dazu.

László Csatáry beim einkaufen in Budapest.

Heute, Mittwoch, hat die Staatsanwaltschaft reagiert, Csatáry wurde verhaftet und verhört und nun zunächst unter Hausarrest gestellt. Ob diese Aktion mit dem Aufklärungswillen der Staatsanwaltschaft zu tun hat oder nicht doch viel mehr etwas mit dem gerade stattfindenden Besuch von Präsident Áder in Israel, ist klar zu beantworten: Läge gegen ihn nichts vor, dürfte auch ein Brief des Wiesenthal-Zentrums nichts daran ändern. Liegen Verdachtsmoment von der gehörten Schwere vor, gehörte er indes schon vor Jahren vor Gericht. Die offiziöse Nachrichtenagentur MTI betitelte die Verhaftungsnachricht auch so wahrheitsgemäß wie offenbarend mit: "Unter wachsendem Druck...", was nahelegt, dass man ohne diesen Druck wohl kaum agiert hätte...

Gerichte warten lieber “natürliche Lösung” ab

 

Das Wiesenthal Zentrum, das mit der Aktion "Letzte Chance" versucht, die letzten noch untergetauchten Naziverbrecher aufzuspüren, beklagt, dass Csatáry bis heute nicht als "Beschuldigter" geführt wird. Ihm wird die direkte Verantwortung für die Deportation von Abertausenden ungarischen und slowakischen Juden aus Kosice / Kassa 1941 (also noch unter dem heute in Ungarn wieder so verklärten Horthy-Regime) und sadistische Morde an mehreren Menschen vorgeworfen.

Die Behörden hoffen ganz offensichtlich, dass sich der Fall auf "natürliche Weise" erledigt, so wie das bei Sándor Képíró, dem in der Vojvodina ähnliches wie Csatáry in "Oberungarn" vorgeworfen wurde, der Fall war. Dessen Prozess endete erstinstanzlich mit einem zweifelhaften Freispruch, errungen auch von der Verteidigung, die durch die Faschistenpartei Jobbik gestellt wurde. Vor einer möglichen Berufung verstarb der Kriegsverbrecher und es blieben allzu viele Frage offen. Ebenfalls offen ist auch der Fall von Károly / Charles Zentai, der seit Jahren mit ärztlichen Attesten und Berufungen seine Abschiebung aus dem australischen Exil zu verhindern sucht und ebenfalls auf der Liste der meistgesuchten Kriegsverbrecher steht.

Nazijäger Efraim Zuroff verlangt von Präsident Áder nun eine "öffentliche Garantie", dass die "ungarischen Autoritäten alles mögliche tun werden, um diesen Kriminellen der Gerechtigkeit zuzuführen." Dies sei sowohl eine juristische wie auch eine moralische Verpflichtung - vor allem gegenüber den Opfern!

Der Fall Nyirö und das Problem Kövér

Der ungarische Präsident hält sich derzeit zu einem dreitägigen Besuch in Israel auf. Die Beziehungen zu dem Land wurden durch eine Reihe antisemitisch motivierter Vorfälle in Ungarn getrübt, u.a. einen Angriff auf den ehemaligen Oberrabiner Budapests, die Schändung des Wallenberg-Denkmals und anderer Mahnmale an den Holocaust in Ungarn sowie das Auftrittsverbot für einen ungarisch-jüdischen Schauspieler durch den Fidesz-Kulturdezernenten in Eger.

Der ungarische Parlamentspräsident ehrt in Rumänien einen Politiker der Pfeilkreuzler, jener Partei, die in Ungarn und den besetzten Gebieten ein Terroregime errichteten und maßgeblich bei der Deportation der dortigen Juden mitwirkten. Fidesz verkauft uns den völkischen Schriftsteller als Lokalpatrioten und Heimatdichter

Im Zentrum der Empörung - nicht nur in Israel - steht jedoch der “Fall Nyirö", jenes faschistischen Politikers und Blut-und-Boden-Schriftstellers, dessen Umbettung nach Siebenbürgen offensiv vom Büro des ungarischen Parlamentspräsidenten László Kövér betrieben und finanziert wird und damit als offizielle ungarische Politik wahrgenommen werden muss.

Zunächst ließ die ungarische Regierung die Urne Nyirös in einem Staatsakt nach Ungarn überführen, Kövér nahm sodann an einer Würdigungsveranstaltung für Nyirö in Siebenbürgen teil, wo er sagte, dass dieser, so wie auch andere völkische Schriftsteller "in unseren Herzen leben" und Vorbilder in Heimattreue seien. Mehrere dieser Autoren werden auch Teil des neuen Rahmenlehrplans für ungarische Schulen, wogegen sämtliche jüdische Organisationen des Landes aber auch andere, den Dingen gegenüber nicht gleichgültige Bürger protestierten.

Als Rumänien die Umbettung der Urne schließlich behördlich verbot, weil man "keinen Wallfahrtsort für Nazis in Rumänien" wünscht, bezeichnete Kövér diese Reaktion als "barbarisch", woraufhin der "Urnenstreit" auch diplomatisch eskalierte. Rumänien erklärte ihn zur persona non grata, Israel lud Kövér von der gestrigen Feierstunde für Wallenberg aus, zu der nun der Präsident allein fuhr,

Der Parlamentspräsident wird immer häufiger zum Problem für die Orbán-Regierung. Seine aggressive Art, u.a. auch gegenüber der Slowakei, der EU und anderen internationalen Partnern, richtet selbst für die national mehr Schaden an als sie nützt. Doch dies zu erkennen, braucht diese Regierung nicht zum ersten Mal sehr lange. Immerhin ist Kövér einer der treuesten Weggefährten Orbáns, dem Treue noch stets wichtiger war als Kompetenz oder Salonfähigkeit. Immerhin ging der Kelch, dass Kövér Präsident von Ungarn wird, (er war im engeren Kreis der Kandidaten) an dem Land vorüber. Vergleichbar ist Kövérs Attitüde übrigens ganz gut mit jener des israelischen Außenministers Avigdor Liebermann, der genauso besessen und dümmlich agiert wie Kövér, was angesichts der vorliegenden Konstellation ein köstlich belehrender Treppenwitz ist.

János Áder und sein israelischer Amtskollegen Shimon Perez

Der Präsident umschifft in Israel die heiklen Themen

Präsident Áder versucht nun gerade in Israel Schönwetter zu machen und seine Gastgeber davon zu überzeugen, dass die Orbán-Regierung jede Art von Antisemitismus ablehnt und bekämpft. Dieserart Lippenbekenntnisse gibt es eine Reihe. Der Holocaust sei eine "menschliche Tragödie ohne Beispiel" sagte Áder während einer Feierstunde anlässlich des 100. Geburtstages des "Retters von Budapest", Raoul Wallenberg, am Dienstag in der Knesset. Áder fügte hinzu, dass Wallenberg im "Gefängnis des sowjetischen Geheimdienstes endete”, was die “Amoralität aller totalitären Regime” zeigt. “Geht die Moral unter, geht die Menschheit unter...” - Redner aus Israel und Schweden, Wallenbergs Heimat, hoben vor allem die Vorbildwirkung des Diplomaten, auch für heutige Zeiten hervor. Auch in Ungarn findet in diesem Jahr ein offizielles Wallenberg-Jahr statt.

Áder traf auch seinen Amtskollegen Shimon Perez und Premier Benjamin Netanyahu, dabei lud er diesen nach Ungarn ein, damit dieser "persönlich sehen kann, wie die jüdische Kultur in Ungarn gedeiht." Áder behauptete vor Journalisten, dass "sensible Bereiche der bilateralen Beziehungen" nicht angesprochen worden seien. Man habe aber "den Anstieg des Antisemitismus in verschiedenen Ländern Europas" thematisiert und festgestellt, dass Schritte dagegen "gemeinsam gemacht werden" müssten. Es ist jedoch fest davon auszugehen, dass die israelischen Gesprächspartner Áder sehr wohl ihre Meinung gesagt haben, aus diplomatischer Rücksicht und Gründen der "Gesichtswahrung" wird man ihm jedoch diese Sprachregelung zugestanden haben.

Die Mitverantwortung der Regierungspartei für den wachsenden Antisemitismus

Während die Neofaschisten der Partei Jobbik regelmäßig antisemitische und andere rassistische Verlautbarungen im Parlament und auf öffentlichen Plätzen verbreiten, ja, der Antisemitismus eine der Säulen ihrer politischen Existent ist, bleibt die Haltung der nationalkonservativen Orbán-Partei Fidesz uneindeutig. Offen wird Antisemitismus in jeder Form verurteilt, ja man leugnet dessen Vorkommen in Ungarn über das in Europa gängige Maß hinaus. Das, zusammen mit ein paar Anlassgesetzen, die ihre Wirkungslosigkeit mehrfach eindrucksvoll demonstriert haben und ein paar öffentlichkeitswirksam aufgestockten Geldern für die Jüdischen Gemeinden, reicht den Gesinnungsgenossen Orbáns aus.

Während man jedoch auf der einen Seite Parlamentskomitees zur Aufarbeitung des Stalinismus und der Kádár-Zeit, nebst entsprechender Gedenktage installiert, "Ex-Kommunisten" die Renten streicht und sogar ein "Sozialistengesetz" schuf, sich der Premier rühmt, die "Linke zertrümmert" zu haben, hat man mit rechtem Gedankengut bei der Regierungspartei weniger Berührungsängste. Eine Auswahl:

> Premier Orbáns öffentlich vorgetragenes Geschichtsbild ist zumindest hinterfragenswert: hatte er kürzlich doch die vermehrte Aufstellung von Horthy-Statuten im Land als "Sache der Kommunen" abgetan, die ihn nichts weiter angehe und festgehalten, dass "niemand behaupten könne, Horthy sei ein Dikator" gewesen. Weiterhin bezeichnete Orbán den Kommunismus als das "größte Verbrechen des 20. Jahrhunderts", der Zweite Weltkrieg ist für ihn "ein Bürgerkrieg zwischen christlichen Nationen gewesen", und Faschisten kamen praktisch nur in Deutschland vor.

> Vor über einem Jahr wurde die Leitung der Holocaust-Gedenkstätte in Budapest auf Weisung eines Staatssekretärs ausgetauscht, weil diesen die dargestellte Nähe Horthys zum Hitler-Regime und die implizierte Mitverantwortung Ungarns für den Holocaust an seinen jüdischen Bürgern störte.

> Der Fidesz-Oberbürgermeister ernannte einen bekennenden Judenhasser und rechtsradikalen Aktivisten zum Direktor des "Neuen Theaters" in Budapest.

> Hochrangige Fidesz-Mitglieder waren zur Beerdigung des kürzlich verstorbenen Neonazis István Csurka erschienen und lobten das Werk des Theaterdichters, das man von seiner politischen Performance zu trennen habe, was auch der inzwischen wegen Unfähgikeit zurückgetreten wordene Kulturminister Szöcs forderte.

> Der als Orbán-Freund und Fidesz-Mitgründer bekannte Hassprediger Zsolt Bayer punktet in der "Magyar Hírlap" regelmäßig mit antisemitischen Stereotypen und anderen Hasstiraden auch gegen Andersdenkende. Er wurde von Fidesz mit der Madách-Medaille geehrt.

> Bayer war auch einer der Mitorganisatoren des "Friedensmarsches" von Regierungsanhängern, auf dem - nachweislich - etliche eindeutig antisemitisch konnotierte Transparente auftauchten.

> Zu den Auftritten Kövérs in Siebenbürgen und zum Thema Nyirö schweigt der Premier und Fidesz-Vorsitzende vielsagend.

> In etlichen Kommunen des Landes koalieren Fidesz- und Jobbik-Abgeordnete bzw. von Jobbik gestützte "Unabhängige" offen oder verdeckt. Der Staatssekretär für Soziale Integration (heute Minister für "Human Ressources"), Zoltán Balog, Fidesz, äußerte gegenüber dieser Zeitung sogar, dass man bei der Lösung der Probleme der Roma mit "Jobbik-Bürgermeistern zusammenarbeiten müsse, wenn sie gewählt sind". Was dabei herauskommt, ist hier nachlesbar. Die Regierung behauptet offiziell, dass es keine Diskrimierung von Roma in Ungarn gibt, zuletzt tat dies Kommunikationsstaatssekretär Zsolt Németh in den USA. Die NGO TÁSZ widerlegte ihn anhand von offiziellen und öffentlichen Regierungsdokumenten. Fazit: die Regierung lügt.

Tausende einsatzbereite “Superungarn” warten auf ein Zeichen. Die “Ungarische Garde” wurde von Jobbik gegründet. Sie ist verboten, auch das Aufmarschieren in Uniform in Romadörfern steht unter Strafe. Hat aber beides nichts geholfen, nur die Orbán-Fans im In- und Ausland “beruhigt”.

Neonazis in Ungarn haben "Machtergreifung" vor Augen

Als Hintergrund dieser "Schaukelpolitik" in Sachen Antisemitismus und Rassismus ist ein gefährliches Kalkül hinsichtlich der potentiellen Wählerschaft der Partei Jobbik zu sehen. Die Regierungspartei Fidesz glaubt an diese Klientel heranzukommen, in dem sie Themen und Stimmungen der Anhänger bedient und den Neofaschisten so die Wähler abspenstig macht. Antisemitismus ist jedoch längst nicht nur in diesem Lager verbreitet, Antiziganismus ist genereller Konsens. Außerdem ist der "nationale Umbau", einschließlich hart am Rande des Revanchismus wandelnder Aktionen, ein Grundpfeiler der Fidesz-Politik, die - aus Alt mach Neu - Ungarn praktisch neu definieren, ja erfinden will und den nationalen Zusammenhalt als erste Bürgerpflicht propagiert, zumindest soweit er “Magyaren” betrifft.

 

Dies alles schaffte eine Stimmung, in der eine Verbürgerlichung xenophober Strömungen und autoritärer Ideen zu einem neuen Mainstream und eine Verwässerung der Geschichte und des Faschismusbegriffes möglich wurden. Das war freilich nur der Dünger auf die wohlbereitete Erde aus wachsender Armut und mangelnder Perspektive für die Mehrheit der Ungarn, die einer katastrophal-chaotischen bis gezielt ständischen Wirtschaftspolitik zu “danken” ist.

Ergebnis: in Wahlumfragen erreicht die neofaschistische Jobbik heute Höchstwerte von bis zu 25% (2010: 16,7), Jobbik-Chef Vona brüstete sich auf dem letzten Parteitag stolz damit, "die Regierung vor sich her zu treiben" und belegte das mit nicht wenigen Beispielen. Er sieht eine "Machtübernahme ab 2014" für möglich. Die Gespenster der Vergangenheit sind in Ungarn also höchst lebendig und viele sind auch bedeutend jünger als der 97jährige Csatáry.

Marco Schicker

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