THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

Das Pester Lloyd Archiv ab 1854

 

Hauptmenü

 

 

 

 

(c) Pester Lloyd / 18 - 2014   POLITIK 02.05.2014

 

Kampftag ohne Arbeiterklasse

10 Jahre Ungarn in der EU: Europa als Hoffnung, Goldesel und Sündenbock

Der 1. Mai fiel in diesem Jahr mitten in den Europawahlkampf, markierte aber auch den 10. Jahrestag der Aufnahme in die EU und das Inkraftreten des neuen Bodengesetzes. Während linke Parteien und Gewerkschaften, vom Wahlergebnis noch sichtlich paralysiert, die prekäre Situation der Arbeitenden und Arbeitssuchenden im Lande anzuprangern suchten, will die Regierung die "nationalen Interessen aller Ungarn" in Brüssel stärker vertreten und die EU in ihre Schranken weisen. Die neonazistische Jobbik kündigte indes eine Hatz auf Ausländer an.

Goodbye Lenin-Live-Performance in Budapest: Arbeiterpartei-Chef Thürmer macht Weltrevolution. Nicht nur das theoretische Grundgerüst ist reparaturbedürftig.

Ungarns Regierungspartei tritt mit einer "Trianon-Liste" zur Wahl an

"Wir werden noch stärker Ungarns Interessen in der EU vertreten" kündigten die EU-Kandidaten der ungarischen Regierungspartei FIDESZ-KDNP bei einem Auftritt aus Anlass des 1. Mais in Budapest an. Die derzeit 21 EU-Abgeordneten des Fidesz seien allesamt "Botschafter Ungarns" in Brüssel, so Kinga Gál und József Szájer, das Spitzenduo für die Europawahlen. Stolz betonte man, dass die ungarische Kandidatenliste auch "Vertreter aller Regionen mit ungarischen Gemeinschaften außerhalb der Landesgrenzen" umfasse, Ungarn in der EU also die Interessen "aller Ungarn im Karpatenbecken" (gemeint hier die Vor-Trianon-Gebiete) vertrete. Gehe es um die Nation sei er, Szájer "sogar bereit mit Tibor Szányi", dem Spitzenkandidaten der MSZP, zusammenzuarbeiten.

Ziel für die kommende Legislaturperiode sei es, die "wirtschaftliche Präsenz Ungarns in der EU" zu stärken und die "unsichtbare Trennlinie" zwischen den alten und neuen Mitgliedsstaaten "auszulöschen" und "gegen Doppelstandards" zu kämpfen. Ungarn behauptet bei fast jedem Vertragsverletzungsverfahren und jeder Kritik aus Brüssel, dass man es ungerecht behandelt und Dinge kritisiert, die man anderen, etablierteren oder größeren Mitgliedsländern durchgehen lasse.

Außenminister: EU soll zahlen, aber bitte nicht kontrollieren...

Auch der scheidende Außenminister János Martonyi befleißigte sich der für nationalistische Parteien typischen Borderline-Rhetorik vom "Europa der Vaterländer", er wünsche sich eine klarere "Definition der Grenzlinie zwischen der Autorität der EU und der Mitgliedsländer", denn die EU-Institutionen tendierten dazu, ihre Zuständigkeiten unerlaubt auszudehnen, um ihre Kontrolle über die Länder zu erhöhen. Es ist dies die gleiche Polemik, die z.B. die FPÖ in Österreich vertritt und keineswegs die Linie, wie sie sonst in der EVP-Gruppe vertreten wird.

Martonyi verbittet sich  indirekt, was Orbán oft direkt als Angriff auf die Souveränität Ungarns bezeichnet: Kritik am Umgang mit der Verfassungsordnung und den Grund- und Bürgerrechten, für die es nämlich keine zuständige Kommission - und somit auch kein Monitoring und Sanktionssystem - gibt, auch wenn diese Grundnormen in Artikel 2 des Lissabon-Vertrages festgeschrieben und somit auch von Ungarn ratifiziert worden sind. Die ungarische Regierungspartei fordert, dass sich die EU außerhalb technischer Feinheiten und außerhalb der Geldvergabe aus der Politik des Landes heraushalten möge. Alles andere sei "schädliche Überregulierung" und selbst da, wo Regulierung vorgesehen ist, gehöre "die Umsetzung in die Hände der Mitgliedsstaaten und nicht in die der EU-Institutionen." Kurz: man will das Geld, aber keine Kontrolle darüber zulassen.
Gerade wieder steht die Sperrung von EU-Mitteln wegen (für die EU) mangelhafter Kontrollmechanismen im Raum.

Angetreten zum Ritual: Begrenzter Kampfgeist bei der MSZP

MSZP: Okkupationsdenkmal auf Felcsúter Fußballrasen!

Attila Mesterházy, Chef der größten Oppositionspartei MSZP sieht Ungarn Dank Orbáns "populistischer und nationalistischer Politik" in eine Sackgasse manövriert. Beim WU-Wahlkampfauftakt seiner Partei, die ihn zuvor zum Fraktionschef der MSZP im Parlament wiederwählte, hofft er auf eine "linke Mehrheit" im kommenden Parlament, die zu "mehr Jobs und mehr Respekt vor den Arbeitern" führen soll. EP-Spitzenkandidat Tibor Szányi warf der heutigen konservativen Mehrheit in Europa vor, die Gemeinschaft in die Armut zu führen, es sei an der Zeit europaweit Mindestlöhne und Mindestpensionen einzuführen.

Szányi rief - unter tosendem Applaus des Publikums - desweiteren dazu auf, das Okkupationsdenkmal auf dem Freiheitsplatz abzumontieren, so man die Macht in Budapest zurückerobert habe und es "mitten im
Felcsúter Fußballstadion" wieder aufzubauen.

Auch Grüne wollen Mindeststandards notfalls über EU erzwingen

Auch die grün-bürgerlich-liberale LMP will sich in Brüssel um die Interessen der ungarischen Arbeiterschaft kümmern. Es sei unwürdig und nicht akzeptabel, dass Premier Orbán "im Osten mit der Billigkeit der gut ausgebildeten ungarischen Arbeitskräfte hausieren geht" und zu Hause die "Rechte der Arbeiter per Gesetz einschränkt", sagte Bernadett Szél auf einer Pressekonferenz.

Anmarsch zur zentralen Gewerkschaftsveranstaltung

In Kooperation mit Gewerkschaften arbeite man am Entwurf eines neuen Arbeitsrechtes, das die disproportionalen Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern "grundsätzlich neu gestaltet". Dabei gehe es um "wirksame Interessensvertretung" und eine echte Sozialpartnerschaft. Überstunden in Spätschichten seien zwingend zu bezahlen, es müsse 4-5 mehr Urlaubstage geben und Kompensationen für Feiertage, die auf Wochenenden fallen, auch der Mütterschutz habe gelitten, außerdem ist die Deiskriminierung bei den Einkommen zwischen Frau und Mann abzuschaffen. Die Einführung von Mindeststandards wolle man - so sie national scheitert - über die EU erzwingen.

Reallohn und Realität: Zahlen zum Einkommen in Ungarn
Weitere 200.000 Menschen sollen in staatliche Billigarbeit verfrachtet werden
Der Untertanenstaat: Orbáns schöne neue Arbeitswelt

Auf Orbáns Grillfesten ist mehr los, als auf Gyurcsánys Parteiversammlungen...

Ex-Premiers Gyurcsány, Bajnai: Orbán macht das halbe Land zu Bettlern

Weitere Parteien des linken Parteienspektrums feierten - allesamt getrennt - auf kleineren Kundgebungen den 1. Mai, auf keiner waren mehr als ein paar Hundert Anhänger zu sehen, manchmal waren es nur einige Dutzend, die zentrale Gewerkschaftskundgebung schaffte rund 3.000. Auf dem
wegen des Okkupationsdenkmals umkämpften Freiheitsplatz im Zentrum Budapests versammelte Ex-Premier Bajnai seine "Gemeinsam 2014" (4 Mandate), zu der auch die übergewerkschaftliche Bewegung Szolidaritás gehört. Im Stadtwäldchen versammelte sich die "Demokratische Koalition" von Ex-Premier Gyurcsány (4 Mandate), unweit davon die "Kommunisten" der Arbeiterpartei von Gyula Thürmer (0,16%), siehe unser Titelbild.

Getrennt marschieren, gemeinsam schlafen? - Ex-Premier Bajnai beim Maibockanstich...

Während Letzterer den Austritt aus der EU forderte, weil die Gemeinschaft unfähig sei mit den USA oder China zu konkurrieren (ein etwas eigenartiger Ansatz für einen "Kommunisten"?!), beklagte Gyurcsány, dass zu viele Ungarn ihre Jobs verlören, ins Ausland gingen oder "froh sein müssten, für ein paar Forint arbeiten zu dürfen". Gyurcsány muss übrigens nicht mehr arbeiten.... Orbán habe den Minimalkonsens zwischen Arbeitgebern und -nehmern aufgehoben und eine unsolidarische Gesellschaft forciert, so Bajnai. Er sei drauf und dran, das halbe Land zu Bettlern zu machen. Beide stimmten darin überein, dass die Abkehr von der EU und die Hinwendung "nach Osten" ein strategeschicher Trugschluss und Fehler sei.

Ein machtloser und ein "gekaufter" Gewerkschaftsboss

Auch die Gewerkschaften hielten Kundgebungen im Stadtwäldchen ab, Péter Pataky, Chef der
erst kürzlich kreierten, bisher aber noch nicht in Erscheinung getretenen neuen Supergewerkschaft forderte Löhne, von denen die Arbeiter ihre Familien ernähren können, István Gaskó, Chef der von der Regierung bevorzugten LIGA-Konföderation sagte, er werde "Gespräche mit der Regierung initiieren", um die "Sozialpartner zu stärken" und Veränderungen am Arbeits- und Streikrecht herbeizuführen. Allerdings war es Gaskó, der sich auf ein Bündnis mit Orbán einließ und einen Pakt mit der Regierung unterschrieb und vielen Gewerkschaftskollegen seitdem als "Verräter" und "gekauft" gilt.

Lehrt an der Uni Völker- und Menschenrecht, ruft in der “Freizeit” zu körperlicher Gewalt gegen Ausländer auf: EP-Spitzenkandidatin der neonazistischen Jobbik.

Jobbik will Ausländer "mit Heugabeln und Sensen" von ungarischem Boden jagen

Auch die neonazistische Jobbik, mit 20,5% der Stimmen zweitstärkste Oppositionskraft im ungarischen Parlament, meldete sich am 1. Mai zu Wort. Bei einem von der "Neuen ungarischen Garde" organisierten "Marsch zum Schutz des Mutterlandes" kündigte Jobbik-Chef und Gardengründer Gábor Vona eine "Mobilisierung" gegen das, ebenfalls am 1. Mai, in Kraft getretene neue Bodengesetz an. Dieses erlaubt Ausländern den Kauf von bis zu 1 Hektar Land, eine Beschränkung, die zwar im Gegensatz zu den EU-Regularien vom freien Erwerb steht, Jobbik aber immer noch zu weit geht. Es enthält außerdem Regularien zur
Enteignung von Land, das unter "Taschenverträgen" bewirtschaftet wird, allerdings sind die rechtlichen Prozeduren haarsträubend und werden zu weiteren Verwerfungen auch mit der EU führen.

Vona sagte, dass dieser Marsch, bei dem man ein Stück Erde von Eger nach Budapest prozessierte, "den Ausländern zeigt", dass "wir sogar unser eigenes Leben opfern würden", wenn "ungarische Erde auf dem Spiel steht". Derzeit sei eine Referendumsinitiative die letzte Hoffnung, das Bodengesetz abändern zu können (wurde von der Wahlkommission abgewiesen, Einspruch ist derzeit beim Obersten Gericht anhängig). Gehe das auch negativ auf, werde man "anderweitig mobilisieren".

 

Das Bodengesetz, der "Ausverkauf der ungarischen Scholle", hänge unmittelbar mit der "EU-Mitgliedschaft Ungarns zusammen", sagte Vona weiter, nach zehn Jahren bedeute diese, dass die ungarischen Löhne "zu den niedrigsten" gehören, die "ungarischen Produktionsstätten vollständig zerstört" seien und das Land "ein Markt für ausländische Produkte geworden sei". "Nun wollen sie auch noch unser Land", so Vona. Seine EP-Spitzenkandidatin Krisztina Morvai, eine der Hauptverfechterinnen der These von Ungarn als dem "Palästina Europas", drohte, dass man "Jene, die auf ungarisches Land schielen, mit Heugabeln und Sensen verjagen..." werde.

_

Was machte derweil die Arbeiterklasse? Panem et cirecensis. Die Bädersaison wurde eröffnet, zigtausende Schüler begingen mit ihren Eltern die Ballagás, die traditionelle Bandweihe, sozusagen der Countdown zum Schulabschluss. In Budapest bestaunte man Flugzeuge und Rennautos an der Uferstraße, am Abend wurde in Debrecen das nächste Prachtstadion, finanziert aus EU- und Steuermitteln mit einem großen Fest eingeweiht, in Eger scheiterte ein "Selfie-Weltrekord-Versuch" kläglich:

ms., Fotos: MTI

Der Pester Lloyd bittet Sie um Unterstützung.

 

 

 

 

 

Effizient werben im
Pester Lloyd!
Mehr.