THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 32 - 2014 GESELLSCHAFT 07.08.2014

 

Sägen und Hämmern gegen die Bretter vorm Kopf: Jugendliche aus Duisburg zum Arbeitseinsatz in Ungarn

Einmal Ruhrpott - Cserdi und zurück: Über das südungarische Dorf Cserdi mit seinem zupackenden Roma-Bürgermeister berichteten wir bereits ausführlicher, vor allem, da die dortige Selbstbestimmtheit so gänzlich aus dem offiziellen Rahmen fällt. Im Juni erhielten die Bewohner von Cserdi Besuch aus Duisburg, eine Gruppe Jugendlicher, die selbst nicht gerade zu den Privilegierten zählen, kam im Rahmen eines Handwerkseinsatzes. Bei der gemeinsamen Arbeit, aber auch beim Fußballspiel und anderen Begegnungen purzelten die Vorurteile - auf beiden Seiten...

Bürgermeisrter Bogdán erläutert den Jugendlichen aus Duisburg die Geschichte des Mahnmals

"Zigeuner". Auch deutsche Großstädte, zumal Ruhrgebietsmetropolen wie Duisburg oder Dortmund, haben derzeit immer wieder Probleme mit dem Zuzug verarmter Roma, vorwiegend aus Osteuropa. Der "Zigeuner", das ist nicht nur, aber auch in Deutschland ein Begriff, bei dem Vorurteile, Abwertung, auch offener Hass mitschwingen. Was aber, wenn Roma oder Sinti sich selbst als "Zigeuner" bezeichnen und das überhaupt nicht abwertend meinen? Dies herauszufinden, den Lebensalltag von Roma in ihrer Heimat kennen zu lernen, mit ihnen zu arbeiten, sich mit ihrer Geschichte zu beschäftigen – das war Zweck eines Handwerkseinsatzes der «young workers for europe» aus Duisburg, die 14 Tage lang, vom 5.-18. Juni in Cserdi waren.

Das Dorf feiert den Abschluss der Arbeiten und die Einweihung des neuen Kirchenvorplatzes. Auf dem Transparent steht der programmatische Hinweis, dass Ungarn nicht nur “schwarz und weiß”, sondern “schön und bunt” ist.

Gezielt konzentriert sich das "aktuelle forum" auf solche Jugendliche, mit denen es das Leben nicht ganz so gut gemeint hat, Umstände also, die man durchaus mit den Gastgebern in Cserdi gemeinsam hat. Projektleiterin Miriam Jusuf: «Uns geht es auch um Chancengerechtigkeit im Bildungssystem, die wir im Zusammenhang mit dem europäischen Integrationsprozess sehen: Auslandserfahrungen sind für Studenten und Gymnasiasten nahezu selbstverständlich, aber für Jugendliche, die aufgrund schwieriger Lebensumstände aus dem «normalen» Schulsystem herausgekippt sind, gibt es solche Möglichkeiten nicht. Wir sind aber der Meinung: Der >Zug nach Europa< darf an diesen Jugendlichen nicht vorbeifahren.»

 

Die vorab geplanten Arbeiten im südungarischen Cserdi waren zwei Teilprojekte: Ein Teil des Platzes vor der Dorfkirche wurde mit 200 Jahre alten Fliesen verlegt. Die Steinfliesen des Kirchplatzes (500 an der Zahl) wurden gereinigt und danach wurden Sterne in die Fliesen eingearbeitet und in die Sterne hinein wurden Namen von solchen Persönlichkeiten eingraviert, die für den «Frieden in der Welt» gearbeitet haben: Jesus, Martin Luther King, Nelson Mandela, Mahathma Gandhi u.a. Eine einzelne, besonders große Fliese wurde vor dem Kirchenportal platziert – sie trägt den Namen der Kirchengemeinde im Stern.

In Cserdi steht ein Denkmal, das an den Holocaust an den ungarischen Sinti und Roma erinnert. Dieses Denkmal war gründlich überholungsbedürftig: Rost musste entfernt, die Konturen von Text und Darstellung mussten gefräst werden und das ganze Objekt wurde neu gestrichen.

Die Konturen auf dem Mahnmal werden nachgezogen.

Als drittes Teilprojekt kam hinzu der Bau einer kleinen Brücke über dem Graben vor dem Denkmal. Die Idee zu der Brücke entstand erst während der Arbeit und sie widerspiegelt den «Geist», der diesen Handwerkseinsatz prägte: Sie strahlt in allen Farben des Regenbogens und symbolisiert damit die Vielfalt des menschlichen Zusammenlebens und -arbeitens.

Unvorbereitet fahren die young workers nicht zu ihren Einsätzen. Drei mehrtägige Workshops stimmen sie auf Land & Leute ein. Duisburg gehört zu den Ruhrgebietsstädten, in denen die ghettoartige Wohnsituation der zugewanderten Roma und ihr Erscheinen im Stadtbild die öffentliche Meinung besonders heftig polarisiert haben. Ein mehr oder weniger konkret-diffuses Bild von «den Roma» haben die 10 Jugendlichen also im Kopf gehabt, als sie sich auf die 14 Tage in Cserdi vorbereiteten.

Gemeinsame Arbeit macht müde, gemeinsames Erleben stark. Jugendliche aus Cserdi und Duisburg.

Dabei wollten es die Projektverantwortlichen aber nicht bewenden lassen und so luden sie Bürgermeister László Bogdán, selbst Roma, nach Duisburg ein. Sein persönliches Auftreten, seine Offenheit und sein Zugehen auf die Jugendlichen hat sie beeindruckt. Am Ende des mehrstündigen Kennenlernens sagte einer der jungen Männer: «Früher wollte ich immer wie David Beckham sein – jetzt ist der Bürgermeister mein Vorbild.»

Trotzdem ... für die 19 – 24-jährigen Jugendlichen (für etliche war es ihr erster Auslandsaufenthalt) war es ein Reisebeginn mit gemischten Gefühlen. «Nach Ungarn … mein erster Gedanke war - Scheiße» räumte einer der Jugendlichen, der noch nie in Ungarn war, freimütig ein. Gemischte Gefühle aber gab es wohl auch bei den Dorfbewohnern in Cserdi – selbst beim Bürgermeister: «Als ich die jungen Deutschen gesehen habe, dachte ich noch, mit denen werde ich das Denkmal sicher nicht renovieren.»

Andererseits: Dass Fremde hierher kommen um zu arbeiten ... das ist war auch für die Cserdianer ein Novum. So wurde die gemeinsame die Arbeit das verbindende Element. Einer der jungen Duisburger formuliert das so: «Mit den Zigeunern zu arbeiten, hab ich mir vorgestellt, das wird ein bisschen schwer – aber mit der Zeit hab ich gesehen, dass die mit dem offenen Herzen mit uns gearbeitet haben. Wir haben zusammen gelacht und wir sind Freunde geworden.»

Brücke(n) gebaut: physisch und im übertragenen Sinne.

Und in der Tat – die Duisburger Jugendlichen haben viel gearbeitet – 35 Grad im Schatten konnten sie nicht davon abhalten, ihr Projektziel erreichen zu wollen. Ihre Ernsthaftigkeit hat die Dorfbewohner berührt und wohl auch ihre Herzen geöffnet. Nicht nur Jugendliche aus dem Dorf, auch viele Erwachsene, ließen sich von dem Arbeitseifer der Duisburger anstecken und packten selbst mit an.
Von der tagtäglichen gemeinsamen Arbeit ist es nicht weit zum nächsten Schritt: der gemeinsamen Freizeit und dem persönlichen Einblick der deutschen Jugendlichen in die Lebenswirklichkeit der Gastgeber. «Mit 95 Euro müssen die im Monat auskommen – damit können sie sich gerade mal zwei oder drei Cola leisten – und die haben sie mit uns geteilt.»

Ein gemeinsames Fußballspiel mit der Nachbargemeinde zeugt davon, wie schnell die Dorfgemeinschaft die jungen Handwerker aufgenommen und ihre anfängliche Skepsis überwunden hat. Der Kirchplatz wurde mit einem Gottesdienst und einem Fest, an dem viele Dorfbewohner teilnahmen, eingeweiht. Nach dem Gottesdienst haben die Jugendlichen aus Duisburg in der Kirche jeweils eine Kerze angezündet und sind gemeinsam zum Holocaustdenkmal gegangen und haben ihre Kerze dort abgestellt. Dabei konnten sie am Rand des Denkmals ein Wort in den Stein ritzen, um ihre Gefühle auszudrücken und «zu hinterlassen».

Zum Schluss gab es dann noch eine Riesen-Überraschung: Von der Vorbereitungsfahrt nach Cserdi wussten die Duisburger Betreuer, dass es im Dorf zwar einen Fußballplatz, aber kein Tor mit Netzen gab. Am letzten Tag wurden die Tore gemeinsam mit den Dorfbewohnern aufgebaut. Die Fertigstellung des Kirchplatzes hat auch beim Bürgermeister tiefe Emotionen ausgelöst: «Ich bin dem lieben Gott dankbar, dass dieses Projekt zustande gekommen ist.»

 

Arbeitseinsatz und Offenheit auf Seiten der Jugendlichen – Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft auf Seiten der Cserdianer. «Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus» - sagt ein altes deutsches Sprichwort. In Cserdi hat es sich bewahrheitet. «Man hat gedacht, ach – das sind bestimmt unfreundliche Leute und nicht die saubersten», so brachte eine junge Duisburgerin ihre Vorurteile mit nach Cserdi – und resümiert nach 14 Tagen: «... und dann kommt man hier hin und das ist alles so sauber.»

Und ein älterer Cserdianer: «Wenn ich das Wort <Deutscher> höre, dann fällt mir gleich ein, was die Deutschen damals gemacht haben – aber als wir dann diese Jugendlichen gesehen haben, entstand ein ganz anderes Bild.» Natürlich – so ein Projekt schafft keine «heile Welt» – weder in der Realität noch in Wahrnehmung und Bewusstsein der Menschen. Aber die Konfrontation mit der Wirklichkeit kann zu einem differenzierten Urteil führen – und zwar auf beiden Seiten. Und das ist schon viel in diesen Zeiten, in denen uns gerade heute wieder die
Nachrichten von Zwangsräumungen von Roma in Ungarn erreichen...

Zum Thema: Der Best-practice-Zigeuner
Wie der Roma-Bürgermeister von Cserdi seinen Ort umkrempelt

Bruno Neurath-Wilson


Sägen, Hämmern, Bohren und Anstreichen – handwerkliche Arbeit kann Teil der Erinnerungskultur sein. Wie das geht, zeigt das Projekt „young workers for europe“ des aktuellen forums in Gelsenkirchen.

«young workers for europe» ... so nennt sich ein von der EU, dem deutschen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sowie dem Land Nordrhein-Westfalen finanziertes Projekt, bei dem Auszubildende aus nordrhein-westfälischen Städten ins europäische Ausland fahren und dort im Rahmen ihrer Berufsausbildung 14 Tage lang handwerklich arbeiten. Träger dieses Projektes ist das „aktuelle forum nrw» in Gelsenkirchen, ein Verein der Jugend- und Erwachsenenbildung.

Das Projekt läuft von 2012 bis 2014. Insgesamt waren es 12 Gruppen, die im Rahmen dieses Projektes unterwegs waren. Partner des aktuellen forums sind Berufsbildungszentren aus nordrhein-westfälischen Städten, bei denen die Jugendlichen in Ausbildung oder Förderlehrgängen sind. Mit kleinen Gruppen von 10 - 12 Jugendlichen fährt das aktuelle forum nach Partnergemeinden in Ost- und Süd-Ost-Europa. Bevorzugt (aber nicht ausschließlich) nach Gedenk- und Erinnerungsorten aus der Zeit der Nazidiktatur.

Hier arbeiten die Jugendlichen zwei Wochen lang in ihren Ausbildungsberufen und erhalten so einen direkten Zugang zur deutsch-europäischen Geschichte. Der Kerngedanke dieser Arbeit: Verbindung von handwerklicher Ausbildung mit politischer Bildung und Persönlichkeitsentwicklung, weil das persönliche Erleben, das Zusammentreffen mit Menschen wirksamer ist als die trockene Lektüre von Geschichts- und Politikbüchern.

Einige Beispiele für Einsatzorte seit 2012:
Kaliste/Slowakei: Bauarbeiten am Nationalmuseum
Zenica/Bosnien-Herzegowina: Bau von Brücken
Radeln/Rumänien: Bau von Müllsammelstellen und der Überdachung eines Zeltplatzes in dem Roma-Dorf
Ioannina/Griechenland: Gartenpflegerische Arbeiten an der Synagoge und auf dem historischen Jüdischen Friedhof

www.aktuelles-forum.de
Die Jugendlichen berichten über ihre Eindrücke und Erfahrungen auf dem Projektblog
www.youngworkers.de

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