THEMA: WAHLEN UNGARN 2014

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(c) Pester Lloyd / 41 - 2014 GESELLSCHAFT 07.10.2014

 

Keine "Bad News" vor den Wahlen: Regierung hält Armutsbericht zurück

Das Statistische Zentralamt, KSH, hält den jährlichen Armutsbericht mit einer sehr dünnen Begründung zurück. Der Report über die "Armutsentwicklung und sozialen Ausschluss" erscheint normalerweise bis Ende September, das Amt hat seine Herausgabe jetzt aus "Gründen der Personaleffizienz und zur Kostenersparnis" auf November verlegt. Zahlen gibt es trotzdem.

Die Körpersprache, die Landwirtschaftsminister Fazekas hier beim Spendieren von "Sanktionsäpfeln" an arme Familien in die Kamera posiert, ist protoypisch für die kaltherzige Arroganz der Macht in Ungarn. Im Hintergrund findet gleichzeitig ein systematischer und legislativ strukturierter Raubbau selbst in Ungarn ungekannten Ausmaßes statt. Hier mehr zu diesem "Schattenreich der Kleptokraten".

 

Die Opposition äußerte sofort den naheliegenden Verdacht, dass die Terminverschiebung des KSH mit den Kommunalwahlen am 12. Oktober zusammenhängt, denn "die künstlich und manipulativ erzeugten Erfolgsmeldungen zu Wirtschaftswachstum und Arbeitsmarktentwicklung würden durch den Armutsbericht konterkariert." so die MSZP. Die Regierung wolle dem Volk "die schlechten Nachrichten und das Eingeständnis des Versagens" vorenthalten, wobei hinzuzufügen ist, dass die MSZP wohl eher auf das Vorenthalten neidisch ist, das ihr bei ihrem epischen Versagen eben nicht gelang.

Die liberale Partei "Dialog für Ungarn" erklärte, dass "Ein Drittel des Landes von 65.000 Forint (ca. 200 EUR) im Monat" leben müsse, die Zahl der Menschen, die in "extremer Armut" leben, während der Orbán-Ära von 1,2 auf 1,5 Mio. Menschen gestiegen ist und 30% der Bürger so arm sind, dass sie ihre Wohn- und Wohnnebenkosten nicht oder kaum bezahlen könnten.

Die Berechnungsgrundlagen für "Armut" bzw. die Armutsgrenze sind sehr unterschiedlich. Das KSH gibt immer wieder Zahlen heraus, die einen bestimmten Prozentsatz unter dem gesetzlichen Mindestlohn als Maßstab nehmen, allerdings ist dieser gesetzliche Mindestlohn (brutto ca. 330 EUR, abzügl 16% Lohnsteuer und 10% Sozialbgaben) bereits nicht ausreichend für ein auch nur annähernd würdiges Auskommen, die ca. 220.000 Beschäftigten in den Kommunalprogrammen sind davon ohnehin ausgeschlossen, bei ihnen liegt der Höchstsatz bei 170 EUR - ebenfalls brutto. Das KSH kommt so auf eine Quote von ca. 14%.

Eurostat hat im Vorjahr die Zahl der "Menschen, die in Ungarn in Armut und Armutsgefährdung" leben mit 3,3 Mio, also ca. 33% der Bevölkerung angegeben, nochmals 100.000 mehr als 2012 und eine halbe Million mehr als 2008. Während in Ungarn also 1/3 in solch beschämenden Umständen leben müssen, sind es - wiederum laut Eurostat - in Polen 1/4, in der Slowakei 1/5 und in Tschechien nur rund 1/7 der Bevölkerung. Bemerkenswert dabei ist, dass in den vergleichbaren Ökonomien in Ostmitteleuropa der Armutsanteil zwar langsam, aber stetig sinkt und in Rumänien und Bulgarien stagniert, einzig in Ungarn jedoch permanent weiter steigt. Die Bertelsmann-Stiftung stellte aktuell fest, dass Ungarn zu den Schlusslichtern bei sozialer Gerechtigkeit in Europa zählt. Auch hier ist der Abwärtstrend seit Orbáns erneutem Amtsantritt bemerkenswert.

Eine
Erhebung der OECD, zusammen mit Gallup ergab, dass fast die Hälfte der ungarischen Haushalte nicht beständig ausreichend Lebensmittel für eine adäquate Ernährung kaufen können, rund 40.000 Kinder regelmäßig hungern (2010: 20.000) und ca. 250.000 (120.000) Kinder nicht angemessen ernährt werden. Die Studie 2010 führte die Fidesz-Regierung noch selbst durch, um das Versagen der Vorgänger zu illustrieren, die Zahlen vier Jahre später trugen o.g. ausländische Organisationen zusammen. An dieser Stelle ist es notwendig, klarzustellen, dass einem Kind, das hungert, staatlicherseits Gewalt angetan wird. Es liegt ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor.

Die Regierung hat - auch mit EU-Geldern - zwar wieder ein millionenschweres Hilfsprogramm aufgelegt und im Angesicht des kommenden Winters nochmals intensiviert, das u.a. verbilligtes oder kostenloses Kantinenessen für Bedürftige lokal bereitstellt und Lebensmittelpakete und Feuerholz an Haushalte verteilt, vielfach wird jedoch von demütigenden Vergabepraktiken berichtet, speziell gegenüber der oftmals besonders betroffenen Roma-Minderheit, die entweder ausgeschlossen werden oder nur unter speziellen Auflagen in den Genuss dieser Almosen gelangen.

 

Den Ursachen der Armut geht die Regierung nicht nach. Steuerpolitisch hält man in der neuen, der "liberalen Demokratie" entgegengesetzten "Arbeitsgesllschaft" an der gesamtgesellschaftlich asozialen "Flat tax" fest, ebenso an den europaweit höchsten Mehrwertsteuersätzen auf Grundnahrungs- und andere Lebensmittel (18 bzw. 27%). Die als Beaufsichtigungsprogramm exekutierten Billigstarbeitsprogramme ersetzen eine laut promotete "Nationale Romastrategie", in der Bildungspolitik bleibt Segregation an der Tagesordnung, die Kürzungen im Hochschulwesen fördern die "Proletarisierung" des gewünschten "Produktionszentrums Europas". Der Bodensatz von 1/3 Verlierer der Gesellschaft scheint im Orbánschen Ständestaat dabei als Abschreckung eingeplant, also Teil des Systems zu sein, wie hier näher ausgeführt wird. Nichtregierungsorganisationen, die solche Aufgaben, die der Staat nicht mehr oder nicht ausreichend wahrnimmt, übernimmt - und dies auch mit ausländischen Mitteln - werden als "Agenten fremder Interessen" kriminalisiert.

Wer arm ist, ist selbst schuld - führte einmal Kanzleramtsminister Lázár aus, während er aus "Gründen der nationalen Sicherheit" tausende Euro für ein paar Hotelüberanchtungen verprasst, sein Kollege Rogán mit Markentäschchen und 100.000-EUR-Audi durch die Gegend kurvt, Außenminister Szijjártó eine 700qm-Villa aus ungeklärten Quellen finanziert und in Miskolc gleichzeitig die städtischen Wohnquartiere einem weiteren Stadion weichen müssen. Notenbankchef Matolcsy ist bis heute für seinen Spruch berühmt, dass man von 47.000 Forint (der Lohn für die kommunalen Billigarbeiter) "heute in Ungarn ganz gut leben kann". Vermutlich meinte er: pro Tag...

red. / cs.sz. / m.s.

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