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(c) Pester Lloyd / 40 - 2014 POLITIK 01.10.2014

 

Ich werde Wächter sein”: Anhörung von Tibor Navracsics vor dem Europäischen Parlament

UPDATE, 06.10.: Navracsics erhielt vom zuständigen Parlamentsausschuss sechs weitere Fragen, die bis heute, Montag, zu beantworten waren. Grüne, Liberale und Linke verzichteten auf weitere Fragestellungen, für sie ist der Kandidat durchgefallen. Die Fragen kommen von den Fraktionen der EVP, S&D (Sozialdemokraten) sowie den “Konservativen und Reformisten”. Auf den Gängen in Brüssel wird über den üblichen Deal zwischen den beiden großen Fraktionen gemunkelt, wobei man die Kandidaten des anderen durchwinkt, um die eigenen und die Kommission als Ganzes nicht zu gefährden.

Erstbericht: Die Anhörung des umstrittenen ungarischen Kandidaten als EU-Kommissar für Kultur, Bildung, Jugend und Citizenship war zwar unterhaltsam, aber eine Enttäuschung. Ein aalglatter, Kreide speiender Kandidat, der gebetsmühlenartig europäische Bekenntnisse absonderte und ansonsten auswich - sowie schlecht vorbereitete bis hinrissige Fragesteller. Der Punkt ging in dieser Runde an den Orbán-Mann, denn der packte die EU an ihrer schwachen Stelle - der mangelnden Hoheit für über die Grundwerte der Gemeinschaft. Argumente gegen Navracsics gibt es viele, die Anhörung brachte davon fast keine zu Tage... - UPDATE 02.10. + erste Reaktionen in Ungarn

Navracsics bei seiner Anhörung am Mittwoch. Fotos: MTI

Aufschlussreicher noch als die Ausführungen und Antworten des Kandidaten aus Ungarn waren die Fragen der Abgeordneten. Beides war am Ende gleich enttäuschend. Konnte man doch erkennen, dass die Hearings für die meisten nur eine zu erfüllende protokollarische Formalität darstellen und es kaum Bedeutung hat, wie die Regierung des Herkunftslandes des Kandidaten zu europäischen Werten, zumal Grundwerten eingestellt ist und wie sich das in der konkreten Politik des Landes, im Zustand von Demokratie und Rechtsstaat äußert. (Dazu alles in unserem Vorbericht.)

Das Wichtigste zusammengefasst:

 

Navracsics beginnt mit dem Eingeständnis, dass die "Beziehungen zwischen der EU und Ungarn schwierig sind" und es "lange und harte Auseinandersetzungen" gegeben habe, meint aber, dass "wir letztlich durch die gleichen Werte vereint" sind. Eine Aussage, die es zu überprüfen gilt, zumal es ja vor allem die Divergenzen über diese Werte waren, die zu den Streits führten.

In seinem Eröffnungsstatement versucht Navracsics klar zu machen, dass er der Sache der Kultur, Jugend und Bildung verpflichtet ist, nennt die "Jugendarbeitslosigkeit von 50% in einigen Ländern inakzeptabel", zu deren Behebung Bildung der Schlüssel ist, gefolgt von dem unmissverständlichen Hinweis, dass das Meiste in seinem Portfolio jedoch in "nationaler und lokaler Verantwortung liege". Er wiederholt seine
schriftlichen Aussagen, "Jugend ist die Zukunft..." etc.

Es folgen Stichworte von der "digitalen Zukunft", "Programm für Wachstum und Zukunft", "kulturelle Vielfalt" etc. Er möchte, dass die europäischen Unis die besten in der Welt werden (die beste ungarische ist übrigens auf Platz 554, Orbán ließ den Hocchschuletat um knapp 40% reduzieren und staatlich (teil)subventionierte Studienplätze an eine finanziell sanktionierte Bleibeverpflichtung koppeln).

Auch Sport und Mehrsprachigkeit seien ihm ein Anliegen (bei letzterer ist Ungarns Jugend übrigens Schlusslicht in Europa). Er will 2015 "die erste europäische Woche des Sports" initiieren. Weiter geht es im Stichwortreigen: junge Menschen sollen an Politik teilnehmen, "partizipatorische Demokratie", "Erneuerung des Sinns der europäischen Staatsbürgerschaft", sie müsse mehr sein als ein Pass, "Ich will, dass es etwas ist, das lebt und atmet...".

Nach der rund 20minütigen Einführung des Kandidaten beginnt die Fragestunde: Die EVP-Kollegen machen es "ihrem" Mann leicht und fragen nach Erasmus, dem Studentenaustauschprogramm. Navracsics nimmt den Ball auf, zitiert Juncker, spricht von "Jugend und Mobilität" und schmeichelt dem Europäischen Parlament, ohne "dessen Unterstützung das Programm nicht möglich wäre".

Die S&D-Fraktion (Sozialdemokraten) fragt rund heraus, wie er "kulturelle Vielfalt" sicher stellen will, wenn die "ungarische Regierung doch gezeigt hat, dass sie die liberalen Werte Europas nicht teilt". Der Kandidat: "Wenn Sie mich als Kommissar bestätigen, werde ich einer der Wächter der Verträge sein. Ich werde alle Prinzipien beschützen, in der Kultur, aber auch Minderheiten sind wichtig. Ich werde jede Herausfoderung dahingehend annehmen." - Hier wäre die Nachfrage interessant, ob ihn die Verträge als Nichtkommissar eher nicht so interessierten...

Die ECR-Fraktion (Konservative & Reformisten, lies: Euroskeptiker) outet Navracsics als "jemanden, der am ungarischen Mediengesetz mitgeschrieben" habe. Wie halte er es damit? Antwort: "Ich bin gänzlich für die Presse- und Meinungsfreiheit." Daher sei er eben auch für dieses Gesetz beauftragt worden, über das es einen "fruchtbaren Dialog" mit der EU gegeben habe. Es war ihm eine "Lehrstunde, wie man vermitteln, kooperieren und das nationale Interessen harmonisieren" kann. Über diese "Harmonisierung" können unsere ungarischen Kollegen ein langes, trauriges Lied singen...

Von den Grünen angesprochen auf die jüngsten Konfrontationen der Regierung mit den NGO´s steuert Navracsics das Hearing auf einen ersten Höhepunkt zu: "Ich habe persönlich sehr gute Beziehungen mit NGO´s". "Ich habe sogar selbst eine gegründet: gegen Korruption!" - "Ich habe keine Kenntnisse über einen Konflikt zwischen mir und irgendwelchen NGO´s, selbst wenn es da Probleme mit den Norway Funds gibt." Er habe immer "verhandelt und alle Fragen gelöst." Das gleiche gelte für die Mediengesetze. Und ja, er glaube an "Medienvielfalt".

Navracsics verteidigt sich also, in dem er die EU an ihrer schwachen Stelle packt. Er erläutert, dass alle formalen Verfahren mit der EU durch Verhandlungen "gelöst" worden seien. Das stimmt 1. nicht, denn viele liefen über die Gerichte oder sind anhängig, vor allem aber vermeidet er das Grundproblem: den Widerspruch ungarischer Politik zu den Grundwerten der Gemeinschaft. Doch zu diesen gibt es weder ein offizielles Monitoring, noch ein praktikables Vertragsverletzungs- geschweige Sanktionssystem. Auch sind die Fragen der Abgeordneten nur allgemein gehalten, bisher hat ihn keiner wirklich gepackt.

 

Die rechtspopulistische Ukip aus Großbritannien versucht zu sticheln und Navracsics antieuropäische Statements zu entlocken, z.B. was er denn so von Sportlern mit EU-Flagge am Trikot bei internationalen Wettbewerben halte. Navracsics (der das schonmal blöd fand) weicht aus und spricht über die Errungenschaft, nach den Erfahrungen mit dem "Kommunismus" in die EU gelangt zu sein.

Die EVP versucht, ihren Kandidaten permanent durch harmlose Fragen in Watte zu packen und so die Zeit rumzukriegen.

Andere Zwischenfragen werden einfach mit Behauptungen und Phrasen abgehandelt. Rechtsextremismus? "Haben wir im Griff." Nationalismus? "Wir, die Ungarn, glauben an Einheit in Vielfalt, das ist einer der edelsten Gedanken." Es scheint so, dass er diesen Job wirklich will und offenbar scheint er überzeugt davon zu sein, dass man über die Zustände in Ungarn und Orbáns Arbeit der letzten viereinhalb Jahre in Brüssel nicht viel zu wissen scheint. Jedenfalls sieht er "kein Problem mit der Demokratie in Ungarn".

Ein Abgeordneter meint, mit seinen Äußerungen würde er sich in gewisser Weise von seiner Regierung und seiner Partei (Fidesz) distanzieren. Navracsics steigt darauf ein, womöglich sind "einige meiner Ansichten liberaler als die meiner Regierung", er sei natürlich ein "überzeugter Europäer." Ein anderer findet genau das ziemlich unglaubwürdig. Was tun? Navracsics ist wie ein Aal, er glitscht durch die Fragen durch, ist einfach nicht zu fassen.

Nun wird es allmählich absurd. Oder doch nicht? Martin Sonneborn, der deutsche Realsatiriker von “Die Partei”, fragt, ob “nach Tolmasy, Wass und Nyrö auf ungarischen Lehrplänen bald auch Hitlers `Mein Kampf`” auf die Lehrpläne komme. (an der Stelle muss sogar der Dolmetscher des Live-Streams lachen) (Anmerkung: immerhin sind die genannten völkisch-antisemtischen Blut-und-Boden-Schriftsteller im nationalen Pflichtlehrplan in Ungarn enthalten.) Navracsics: Er habe ein freundschaftliches Verhältnis zu Juden und "eine Reihe positiver Beziehungen zu Angehörigen der jüdischen Gemeinschaft."

Die Qualität der Fragen wird immer beängstigender. Aus griechischen Reihen kommt die Frage nach Entschädigung bzw. Restitution von deutscher Nazi-Raubkunst aus Griechenland. Was er da zu unternehmen gedenke. Navracsics: Dazu brauche er erst mehr Informationen, aber er kenne das Problem, schließlich hätten sein Land die Russen bestohlen. Er werde sich zu dem Problem aber einlesen.

In dieser Art plätschert die Veranstaltung vor sich hin, ein Teil der Abgeordneten ist hörbar in Stammtischlaune. Nur einmal war der sichtlich defensiv agierende und sich mühsam beherrschende Navracsics am Rande einer sichtbaren Gemütsbewegung, als er auf wiederholte Nachfragen aus Reihen der Grünen und der Liberalen einwarf, dass “hier nicht die ungarische Regierung, sondern meine persönliche Arbeit Gegenstand der Anhörung ist.” Worin in den letzten vier Jahren der Unterschied bestand, mochte der Kandidat aber nicht weiter ausführen.

Nach knapp drei Stunden, in denen sich Allgemeinplätze mit Konfrontationen zwischen europäischem Projekt und ungarischer Wirklichkeit abwechselten, erhält der Kandidat  das letzte Wort: "Ich werde meine Aufgaben als Kommissar ernst nehmen. Deshalb bin ich heute hier. Ich werde ausgeglichen und vorureteilsfrei tätig sein." Relativ dünner Applaus von EVP und Konservativen, Höflichkeitsbezeugungen vom Rest. Ende der Veranstaltung (Einen Mitschnitt der Veranstaltung finden Sie auf dieser Seite.).

Wir sind nicht überzeugt. Warum? Das lesen Sie in unserem Vorbericht.

Der für Finanzen vorgesehene Kandidat Hill (GB) wurde übrigens zu einem zweiten Hearing geladen.

Die Abstimmung über die Juncker-Kommission in gänze erfolgt am 22. Oktober im Europäischen Parlament. Bei einem positiven Votum kann die Kommission am 1. November ihre Arbeit aufnehmen.

Grillparty in Brüssel: Navracsics vor den Abgeordneten des EU-Parlamentes, vor ihm ein Monitor als Spiegel und der Hinweis, wann seine Zeit abgelaufen ist... Bemerkenswert sind auch die Absperrungen. Sollen sie vor zudringlichen Abgeordneten schützen oder die Flucht des Kandidaten verhindern?

Reaktionen in Ungarn:

Die Reaktionen in der Heimat auf den Auftritt “ihres Kandidaten” sind - naturgemäß - gespalten: Die Regierungspresse meldet pflichtgemäß und wortgleich wie die nibelungentreue EVP-Fraktion, dass Navracsics eine gute Figur gemacht und sich “als echter Europäer” präsentiert habe, so die “Magyar Nemzet”, die außerdem beklagt, dass er “mit provokanten Fragen bombardiert” wurde, aber selbst denen “hielt er stand”. So sieht es auch der Staatsfunk. Die Regierungsparteien Fidesz-KDNP melden, dass “Navracsics einen der besten Auftritte” aller Nominierten hinlegte.

Die linken und unabhängigen Medien des Landes schwanken zwischen Kopfschütteln und Häme. Das MSZP-Blatt “Népszabadság” glaubt, Navracsics habe versucht “aus dem Schatten Orbáns zu entkommen”, Origo.hu (Telekom) meint, Navracsics habe die Prügel bezogen, die eigentlich Orbán gegolten habe, während HVG kommentiert, dass “die Verteidigung nicht die Sache der ungarischen Regierung” sei, die eben mehr auf Attacke getrimmt ist. “Napló online” wundert sich über den auf einmal “unabhängigen, parteilosen” Kommissar und die sehr linke Népszava nimmt einen stehenden Begriff der Regierung sowie eine Aussendung “ihrer” MSZP auf und sah den Kandidaten vor dem EP eine Art “Befreiungskampf von Viktor Orbán” führen, der “alles sagte, von dem er glaubte, was die Abgeordneten hören wollten.”

Einzig das Newsportal Index.hu, das Beste das Ungarn im News-Bereich heute noch auf Ungarisch zu bieten hat, ließ etwas Tiefe erkennen, als es anhand der Fragestellungen bemerkte, dass es eine gewisse Waffenstillstandsvereinbarung zwischen der EVP und der S&D-Fraktion zu geben scheint, die sich ihre Kandidaten jeweils nicht so madig machten, wohl im gemeinsamen Interesse die Kommission als Ganzes durchs Parlament zu schleusen. Hinsichtlich der Performance von Navracsics befand Index, dass vor allem bei der NGO-Frage (siehe oben) das “Zynismus-Meter” heftig während der “drei schweren Stunden” für den Ex-Vizepremier ausschlug.

red. / cs.sz. / a.l. / m.s.

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