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(c) Pester Lloyd / 43 - 2014 NACHRICHTEN 22.10.2014

 

Massiver Shitstorm: Ungarn begehren gegen Internetsteuer auf

Die gestern bekannt gegebene Internetsteuer hat bereits zu massiven Protesten geführt. Während Oppositionsparteien und Fachverbände vor allem die Höhe und das  ökonomisch falsche Signal der Steuer anprangern, erkennt das gemeine Internetvolk darin einen Angriff auf die persönliche Freiheit. Die Regierung ruderte mit einer Deckelung etwas zurück, verkennt oder ignoriert den Kern des Problems aber weiter. Mehrere Demos sind angekündigt.

UPDATE, 23.10., 9:50 Uhr

Typischer Regierungszynismus: Fidesz-Fraktionschef Rogán erklärte gestern Abend, dass man “strikt dafür sorgen werde”, dass die Internet Service Provider die eingehobene Steuer “auf keine Weise an die Kunden weiterleiten” können. Und wir können Wasser in Wein verwandeln...

UPDATE, 22.10., 20.41 Uhr:

Widerstand auch in Miskolc: Demo am Sonntag, 26. Oktober um 18:00 auf dem Városháztér

 

UPDATE, 22.10., 18.00 Uhr: In Anbetracht des beachtlichen Proteststurms reagierte Fidesz-Fraktionschef Antal Rogán am frühen Nachmittag mit dem Vorschlag, die Internetsteuer bei 700 Forint (ca. 2,30 EUR) monatlich pro Privatanschluss zu deckeln. Antwort des Volkes: abgelehnt. Die Regierungspartei hat offenbar den Kern des Problems (siehe Text unten) noch immer nicht verstanden, bzw. ignoriert sie ihn beharrlich. Wirtschaftsminister Varga machte, sichtlich beeindruckt vom virtuellen Shitstorm, der droht in einen realen zu kippen, die Bemerkung, dass “noch nichts von alledem in Stein gemeißelt” sei.

Der Zulauf auf die Facebook-Seite “100.000 gegen die Internetsteuer” ist derweil ungebrochen, Stand derzeit, über 133.870 “likes”. Dabei dehnt das Publikum den Protest über das Thema der Internetadó auch auf die Affären rund um die Heimlichtuerei des Finanzamtes NAV im Zusammenhang mit den US-Einreiseverboten und die Betrugssystematik rund um die Mehrwertsteuerkarusselle aus, die ohne Zutun von Behörden und parteinahen Kreisen nicht so umfangreich möglich wären. Der Vorwurf: Milliarden sickern in dunkle Kanäle, das Volk muss durch Steuern die Verluste ausgleichen.

Bereits heute um 16 Uhr gab es eine kurzfristige Demo gegen die Internetsteuer, für den morgigen Nationalfeiertag des 23. Oktober wurde eine weitere Demo (16 Uhr, Blaha Lujza Platz) unter dem Motto: “Es ist Deine Freiheit!” angesetzt, zu der sich bis jetzt knapp 3.000 Menschen anmeldeten. Bei dieser Veranstaltung geht es jedoch nicht nur um die Freiheit des Internet, sondern um viele weitere Aspekte der Beschränkung von Selbstbestimmung und Mitsprache in Orbáns Ungarn: Hochschulautonomie, Freiheit der Kunst, Ausbeutung durch die “Közmunka”, Arbeitsrechte etc. Nun hat man den Aufruf um die Losung erweitert, dass “wenigstens” das Internet noch frei bleiben solle. Weitere Infos.

Für die Haupt-Demo am Sonntag, 18 Uhr, József Nádor Platz,
haben bis jetzt 18.000 Personen zugesagt.
Weitere Infos.

 

Erstbericht: Die Regierung will ab 1. Januar 2015 eine Steuer auf die Nutzung des Internets erheben. Jeder Kunde soll pro angefangenem Gigabyte 150 Forint (ca. 0,50 EUR) zahlen. Die Internetanbieter sollen die Daten und die Steuer individuell erheben und die Steuer abführen. Unternehmen sollen die Kosten von der Körperschaftssteuer absetzen können. Fraktionschef Rogán schob am Mittwoch eine Deckelung von 700 Forint pro Anschluss und Monat für Privathaushalte nach.

Die Vereinigung der Internetprovider und die Oppositionsparteien sind sich in ihrer Kritik einig: Der möglichst breite und leistbare Zugang zum Internet stelle heute eine Grundvoraussetzung für die Informationsgesellschaft, für den Zugang zu Wissen, für die soziale Vernetzbarkeit dar und sei zudem ein immer wichtiger werdender Wirtschaftszweig. Nicht nur Medienunternehmen, die naturgemäß einen hohen Datenverkehr generieren, auch Internet Start ups und der Handel werden von der Steuer direkt negativ betroffen sein. Zwar sollen Unternehmen die Internetsteuer von der Steuerberechnungsbasis für ihre Körperschaftssteuer abziehen können, doch habe die Regierung jetzt ein weiteres Mittel in der Hand, bestimmte Branchen durch kleine Gesetzesnovellen abzustrafen oder zu fördern. “Die Internetsteuer wirft uns 15 Jahre zurück”, stellt ein Vertreter eines Branchenverbandes fest.

Nach bisherigen Berechnungen soll die Internetsteuer der Staatskasse rund 200 Mrd. Forint jährlich, also ca. 660 Mio. EUR einbringen und damit rund 1% aller Einnahmen generieren. Nach der Deckelung schmilzt dieser Betrag um fast die Hälfte zusammen, was die Frage aufwirft, wie die Budgetplaner dieses nun entstehende Planungsloch zu füllen gedenken.

Die Internetsteuer ist ein gutes Beispiel für die Mehrfachbelastung der ungarischen Bürger durch Verbrauchssteuern unter der Orbán-Regierung. Ein Telefonkunde zahlt nicht nur 27% Mehrwersteuer auf den Nettopreis, sondern auch eine Telefonsteuer von 10 Forint pro Minute bzw. SMS, weiterhin eine Transaktionssteuer bei der Bezahlung seiner Rechnung. Außerdem werden die 2010 eingeführten Telekom-Sondersteuern auf die Kundentarife (indirekt) umgelegt. Bedenkt man, dass der Kunde das alles aus einem bereits versteuerten Einkommen bezahlt, erkennt man die Mehrfachbelastung, die Orbáns Gerede von der “Flat tax” ad absurdum führt.

Während andere Länder, auch in Osteuropa, viel investieren, um den Internetzugang möglichst für alle günstiger und qualitativ hochwertiger zu gestalten, gehe Ungarn die entgegengesetzte Entwicklung, Orbán agrarisiere das Land immer mehr.

 

Bürgerrechtsgruppen weisen daraufhin, dass die Art der Steuererhebung bedeute, dass der Staat direkten Zugriff auf die Daten der Nutzer erlange und so weitere Voraussetzungen für eine Internetzensur bzw. ein Abgreifen von Surfgewohnheiten der Bürger geschaffen werden. Ähnliche Ansätze gab es bereits im Zusammenhang mit einer Steuer auf Glücksspiel im Internet sowie Restriktionen gegen Provider im Zusammenhang mit einer Verschärfung des "Hetzparagrafen", wobei hier Seitenabschaltungen auch ohne richterlichen Beschluss möglich wurden.

Auf Facebook formierte sich umgehend partei- und lagerübergreifender Widerstand. Binnen 24 Stunden seit der ersten Ankündigung der Steuer haben sich bis 12.53 Uhr bereits über 100.000 Personen (mithin mehr als 1 % der Bevölkerung) der
Seite "Hunderttausend gegen die Internetsteuer" angeschlossen, stündlich kommen mehrere tausend Personen hinzu. Nun wird auch klar, warum das Orbám-Kabinett mit ihren "großen Plänen", wovon - das ist gewiss - diese Steuer nur einer ist, bis nach den Kommunalwahlen wartete.

red.

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