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(c) Pester Lloyd / 38 - 2015   POLITIK    15.09.2015

 

Neues Grenzregime in Ungarn: Orbán triumphiert, die EU demontiert sich selbst

Die erste Nacht der "neuen Zeitrechnung" - also des Inkraftretens der Notstandsgesetze gegen "Masseneinwanderung" in Ungarn - verlief befehlsgemäß ruhig, melden die Staatsmedien. Es gab die ersten Grenzdurchbrüche und ein wachsender Menschenstau in Serbien ist Hinweis, dass es nur die Ruhe vor dem nächsten Sturm sein wird. Orbán triumphierte in einer TV-Sendung über die EU und legte Österreich am Montag noch ein dickes Ei ins Nest. Die EU findet bisher weder eine Antwort auf die Flüchtlingskrise, noch auf Orbáns Alleingänge. Dabei hätte sie eine...

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Zwar wird Orbán oben bei TV2 interviewt, doch eigentlich ist er es, der Regie führt. Punkt Null Uhr wird sein Regierungsprecher live aus Röszke den Anbruch der neuen Ära ausrufen... Fotos: TV2, alle anderen: MTI

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Bei Röszke, wo am Montag die letzten Lücken im Zaun zu Serbien mit absurd-martialischen Aufbauten geschlossen wurden, durchbrach in den frühen Morgenstunden mindestens eine Gruppe von 16 Flüchtlingen die Grenzbarrieren - sowohl den 1,50 Meter Behelfszaun als auch die 3,50 Meter hohe Zaunsperre mit Stacheldrahtkrone. Eine gemischte Polizei-Militär-Patrouille verhaftete die Menschen.

Hätte man sie zuvor einfach zum Registrieren auf das nächste Feld gebracht, erwartet sie seit Dienstag in Szeged ein Schnellprozess, das dortige Gericht wurde auf 130 Richter im Schichtbetrieb, dazu 240 Beisitzer, Gerichtsdiener und Pflichtverteidiger hochgerüstet. Auf illegalen Grenzübertritt stehen Haftstrafen zwischen 1 Jahr und 4 Jahren, die Beschädigung der Grenzanlage kommt erschwerend hinzu. Sollte es Augenzeugen geben, kann das Verfahren binnen 3 Tagen, sonst binnen 8 Tagen abgewickelt werden. Die Folge ist Haft und / oder Abschiebung, in jedem Falle aber ein abgelehntes Asylbegehren, sollte dieses gestellt worden sein. Bis dahin verbleiben die Delinquenten in einer Art U-Haft-Lager in einer Kaserne.

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Die ersten Präzedenzfälle. “Grenzverletzer”, “Eindringlinge”. Heimatlose treffen auf Skrupellose.

Gleichzeitig begehrten u.a. bei Horgos mehrere Hundert Menschen legalen Eintritt nach Ungarn, sie wurden durch den Zaun von der Polizei zur offiziellen Registrierungsstelle beordert, diese war aber ebenfalls geschlossen. Eigentlich ist mit den neuen Regelungen geplant gewesen, dass jene, die sich um ordentlichen Zutritt bemühen in einer Transitzone, einem exterritorialen Traniststreifen aufhalten sollen, binnen 8 Stunden bis 3 Tagen soll ihr "Prüfverfahren" abgewickelt werden, wobei es sich nicht um Asylverfahren handelt, sondern lediglich um die Routinefesstellung, dass sie aus Serbien einreisen wollen, mithin einem sicheren Transitland, also keinen Zutritt bekommen.

Hinzu kommt, dass ein Streifen, etwa 35 Meter vor dem Grenzzaun, bereits ungarisches Hoheitsgebiet darstellt. Mit diesem perfiden Trick kann man auch all jene, die entlang des Zaunes zu einem Zugangspunkt wandern als bereits illegal Eingereiste qualifizieren und dann in Haft nehmen.

Dass man die Wartenden nicht auf ungarisches Gebiet - und sei es auch als exterritoral deklariert - lässt, hängt auch damit zusammen, dass das serbische Innenministerium gestern klarstellte, dass "wir niemanden zurücknehmen, der einmal in Ungarn war". "Sind sie einmal drüben, sind die Menschen Sache der Ungarn." hieß es gereizt aus Belgrad, das sich sowohl mit dem Zaun, noch weniger aber mit der gleichzeitig in Kraft gesetzten Flugverbotszone abfinden will und sich sowohl mit abertausenden, stauenden Flüchtlingen konfrontiert sieht wie auch mit weiteren Zigtausend, die über Mazedonien und Griechenland folgen werden. Diese haben wochenlange Strapazen hinter sich. Die Heimat- und Hoffnungslosen treffen auf die Herzlosen.

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Rückstau am “legalen Zugangspunkt”, wo die Flüchtlinge “um Asyl anfragen können”.

Ungarn hat hingegen am Montag bis in die Nacht versucht, das Land von Flüchtlingen weitestegehend zu räumen. Auf einmal waren überall Sonderzüge und Sonderbusse verfügbar, die alles, was nicht Ungarisch sprach an die Westgrenze chauffierte, was Österreich vor ein enormes logistisches Problem stellte. Sollte Deutschland die Grenzen nicht nur kontrollieren, sondern den Zustrom von Flüchtlingen massiv eindämmen, was erwartet wird, bekommt Österreich auch ein politisches Problem, denn dann würden aus einigen Hundert "Asylwerbern" wie es semantisch falsch dort heißt, schnell einige Zigtausend - Öl ins Feuer der geistigen Brandstifter der rassistischen FPÖ, die in Umfragen bereits bei über 30% liegt. In Oberösterreich und Wien sind bald Wahlen. Orbán hat den Nachbarn damit noch einmal ein richtig dickes Ei gelegt: Rache für die deutliche Kritik von Kanzler Faymann.

Erste Signale neuer Fluchtrouten kommen bereits aus Bosnien / Kroatien / Slowenien. Wie aus dortigen Polizeikreisen inoffiziell berichtet wird, ist ein vermehrtes Aufkommen von Schleppern und reisenden Kleingruppen registriert worden, wobei sowohl die Route über Kroatien nach Ungarn, als auch von Kroatien über Slowenien nach Südösterreich - also unter kompletter Umgehung Ungarns - immer mehr Beachtung findet.

Ministerpräsident Orbán stellte am Montagabend im Sender TV2 nochmals klar, dass er sich in keinster Weise an den gemeinsamen Bemühungen der EU um eine einheitliche Vorgehensweise beteiligen wird. "In Ungarn wird es künftig keine Flüchtlingslager mehr geben", stellte er kategorisch fest, auch keine von der EU für die Registrierung und Verteilung geplante "Hot Spots". Die EU solle sich um den Schutz der Außengrenze in Griechenland kümmern, dann kämen auch weniger Flüchtlinge nach Ungarn.

Er verwahrte sich dagegen, die Grenze "hermetisch abgeriegelt" zu haben. Er lasse jetzt nur umsetzen, was schon seit langem Gesetz ist. Wenn jemand bereits in Serbien war, dort aber keinen Asylantrag gestellt habe, wird er abgewiesen, weil Serbien ein sicheres Land ist. Daher wird es "aus meiner Sicht eine Menge Wegweisungen geben". Dass Orbán damit das Völkerrecht, die Genfer Flüchtlingskonvention und sämtliche EU-Regeln bricht - nicht in erster Linie durch die Nichtaufnahme, wohl aber durch die Vermeidung ordentlicher Verfahren - kam nicht zur Sprache. TV2, früher unter ProSiebenSat1-Führung eher regierungskritisch, wurde vor 2 Jahren von Fidesz-nahen Geschäftsleuten übernommen.

Über die deutschen und österreichischen Grenzkontrollen machte er sich triumphierend lustig. "Die machen jetzt, wofür sie uns ständig kritisiert haben, aber es ist jetzt nicht die Zeit, darüber Witze zu machen." - Allerdings hat man weder in Deutschland, noch in Österreich auch nur annähernd Szenen erlebt wie sie sich seit Wochen im Süden Ungarns oder am Ostbahnhof in Budapest abspielten.

Er wiederholte, dass "Ungarn keine Massen von Fremden im Land" wolle und "die Politik nicht gegen den Willen der Menschen arbeiten kann", außerdem sei "unsere Lebensart in Gefahr." Zudem seien "die allermeisten, die ankommen, gar keine Flüchtlinge, denn sie kommen nicht wegen ihrer Sicherheit, sondern um ein besseres Leben zu haben." (Zuvor sagte Orbán bereits: dass es kein Menschenrecht auf ein besseres Leben gibt.). Denen genüge der Lebensstandard in Ungarn nicht, ja nicht mal der in Österreich, "sie wollen so leben wie die Deutschen." Europa steuere auf "Parallelgesellschaften" zu und "den Wettbewerb der Zivilisationen werden die christlichen Europäer verlieren". Orbáns Ansagen sind in Summe unmissverständlich: er will überhaupt keine Flüchtlinge aufnehmen und auch keinerlei Asylverfahren mehr. Ungarn den (immer weniger) Ungarn.  - Neue Ära? Eher: alte Leier. Sein Kalkül nach innen ging bisher auf.

Orbán macht man es aber auch zu leicht. Am Montag scheiterten die EU-Innenminister erneut an einer Einigung über die Frage der Verteilung von Flüchtlingen, 14 Länder wollten sie, 9 stämmten sich dagegen, darunter die "Visegrád Vier" Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn. Das Kernroblem "Ungarn" klammerte man aus, in dem es nun heißt, man werde zunächst 40.000 Flüchtlinge aus Griechenland und Italien umverteilen, auf freiwilliger Basis - ein in der Praxis undurchführbarer Plan. Auch die Hot Spots sollen nur in den genannten beiden Ländern aufgebaut werden. Ansonsten kam die Runde nicht über Bekunden der Notwendigkeit der Solidarität hinaus.

Lediglich der deutsche Innenminister vermerkte am Rande, dass sich Ungarn bei weiterer Blockade womöglich mit einer Mehrheitsentscheidung abfinden müsste, wenn man keinen allgemeinen Konsens herstellen könne. Wie man die allerdings gegen den Willen der Regierung durchsetzen will, ließ er natürlich offen, allerdings schwang die Frage des Geldes als Subtext durch alle Ungarn betreffenden Äußerungen. Um die Dimensionen zu verdeutlichen: Das Land ist zweitgrößter Netto-Pro-Kopf-Empfänger und wäre ohne Zuwendungen aus Brüssel binnen Monaten pleite, rund 7% des BIP werden sozusagen direkt aus Brüssel finanziert, ca. 30% indirekt, öffentliche Aufträge gäbe es ohne das Geld überhaupt keine mehr. Allein die deutsche Wirtschaft erwirtschaftet außerdem noch rund 40% der Exporte.

 

(Am Rande: Bei dieser Gelegenheit - Stichwort Solidarität - könnte man Orbán auch daran erinnern, dass er mit seiner unverständlicherweise immer wieder gelobten Wirtschaftspolitik (eher eine systematische Ständestaatspolitik, inkl. massiver Verarmung und struktureller Kleptokratie) bis dato fast 700.000 ungarische "Wirtschaftsflüchtlinge" selbst produziert hat, die in der EU einträglichen Arbeiten nachgehen dürfen und 4-5% des BIP nach Hause schicken. Großbritannien hatte bereits einmal angedeutet, sich dieser "Wirtschaftstouristen" (Orbán) entledigen zu wollen. Die EU darf schon einmal darauf hindeuten, dass Solidarität keine Einbahnstraße ist. Arbeitnehmerfreizügigkeit kann man ja - z.B. wegen des Migrationsdrucks - temporär genauso einschränken wie die Schengenfreizügigkeit...)

So weit, dieses wohl wirksamte Instrument - also den Geldhammer - anzuwenden, ist man - zumal im Rat der Regierungschefs - noch lange nicht, denn vor allem die EVP, also CDU/CSU halten Orbán in geübtem Kaltkriegs-Blockdenken nach wie vor die Stange - auch wenn der sich durch seine Politik eigentlich längst selbst aus der Gemeinschaft ausgeschlossen hat. Allerdings würde man einen ökonomisch unbedeutenden Querulanten wie Orbáns Ungarn problemlos opfern, sollte durch die Flüchtlingskrise Schengen oder gar der Binnenmarkt und damit auch die Pfeiler Europas insgesamt ins Wanken geraten, die den Gewinnern bisher ihre Erfolge sicherten.

Orbáns Ansagen mögen im Moment wie Triumphgeheul erschallen, dabei sind sie nicht mehr als das laute Singen eines ängstlich Verirrten im Walde, gefangen in der Spirale seiner Politik und den Zwängen seiner gestörten Persönlichkeit. Denn wer solche Szenen und Szenarien zulässt, wie sie sich in Ungarn in den letzten Tagen abspielten, der hat nich nur ein politisches, sondern auch ein schweres mentales Problem.

red. / m.s.


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