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(c) Pester Lloyd / 43 - 2015   GESELLSCHAFT    19.10.2015


Danke Orbán?! Verarmung in Ungarn im Gleichschritt mit politischer Radikalisierung

Danke Orbán! Diesen und ähnliche Rufe liest man im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise immer häufiger in Leserforen. Vornehmlich außerhalb des Ungarischen. Danke Orbán? Das kommt in Ungarn selbst immer weniger Menschen von den Lippen. Aktuelle Zahlen der OECD und sogar die geschönten landeseigenen Statistiken belegen eine fortschreitende, strukturelle Verelendung rund der Hälfte der Bevölkerung. Orbáns zynischer Ständestaat hat System - und dieses braucht politische Radikalisierung wie wir die Luft zum Atmen...

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Deutschland bräuchte einen Orbán! Orbán for European President! Danke, Orbán! Vornehmlich von "Besorgten", Wut- und Wirrbürgern, von durch Selbsthass und Angst übermannten Verlierern der Gesellschaft oder sich nach Führerzeiten sehnenden Grantlern, von politischen Radikalinskis sowieso kommen solche Parolen, die im "starken Mann" aus Budapest, dem Fähnchenschwinger eines mehrfach desaströs gescheiterten Nationalismus den Messias sehen.

 

Ein aktueller OECD-Bericht und diverse Statistiken der UNO zum Internationalen Tag zur Beseitigung der Armut widerlegen Orbáns Erfolgsstory, die auch von neoliberalen "Analysten" mitgesungen wird. Sie bestätigen, dass Ungarn einen hohen, viel zu hohen Preis dafür zahlt, dass sich eine Politikerkaste auf Kosten des Landes und seiner Menschen bereichert und ihren Raubzug mit Hassrhetorik, Stellvertreterkriegen, Sündenböcken kaschiert sowie mit Demokratie- und Rechtsstaatsabbau fundiert.

Die zerfaserte, schwache Opposition nutzte den UN-Tag zur Armutsbekämpfung für eine erneute Generalabrechnung mit der Wirtschafts- und Sozialpolitik der Fidesz-Regierung. 40% aller ungarischen Bürger leben unter der Armutsgrenze (
Eurostat), sogar eine Million und damit rund ein Viertel der Vollzeitbeschäftigten kommen mit ihrem Gehalt nicht über das ohnehin schon niedrig angesetzte Existentzminimum nach europäischer Rechenart. Das sind jeweils rund 30% mehr als vor fünf Jahren. Nur in Griechenland grassiert die Verarmung schneller, im Bereich der Kinderarmut belegt Ungarn sogar vor Rumänien und Bulgarien den europäischen Spitzenplatz.

In wichtigen Rankings des Weltwirtschaftsforums, u.a. zur Unabhängigkeit der Justiz, beim Investorenschutz rangiert das Land mittlerweile mitten in Afrika (die Details hier in:
Souverän vor Simbabwe). Was nutzt es da, dass Wirtschaftsjournalisten und -analysten von Handelsblatt bis Goldman Sachs die Schuldenzahlungsfähigkeit des Landes loben? Was nutzen tolle "Kennzahlen", wenn sie das Leben eines großen Teils der Menschen nicht erreichen? Was, ein BIP-Wachstum, das zu über 90% fremd-, weil EU-finanziert ist und ohnehin nur in den "üblichen Kreisen" versickert?

Innerhalb der OECD - so die neuesten Zahlen - haben die Ungarn das geringste verfügbare Einkommen, also der Teil des Einkommens, der für die Lebenshaltung zur Verfügung steht und eines der niedrigsten Durchschnittseinkommen, - jeweils paritätisch zu den Lebenshaltungskosten. Die Lebenserwartung ist nominal gestiegen, aber geringer als im OECD-Schnitt, dabei wächst diese in den vergleichbaren Transformationsländern sonst schneller als in den entwickelten Ländern - wegen des Aufholeffektes. Nur 57% der Erwachsenen fühlen sich gesund, der schlechteste Wert aller OECD-Staaten, ebenso erreicht bei der "Zufriedenheit" mit dem eigenen Leben. Jedes fünfte Kind in Ungarn lebt in einem Haushalt, in dem kein Erwachsener Arbeit hat. Die meisten davon sind Roma, jene größte ethnische Minderheit in Ungarn, die per Verfassung Orbáns zwar noch als staatsbildend, aber nicht mehr als nationenbildende definiert, also ausgeschlossen wird. Vier der 20 ärmsten Regionen in der EU liegen in Ungarn. Immernoch!

Was Orbán-Fans vor allem verstören sollte: in allen Nachbarländern (außer der Ukraine) sind die Werte besser oder weisen zumindest eine positive Entwicklungstendenz auf, nur in Ungarn steigt die absolute Armut konsequent an. Wer keinen Unterschied zwischen diesen Daten und der schrillen Polemik der Orbán-Regierung erkennen kann, dem ist nicht mehr zu helfen.

Die - wie gesagt heillos fragmentierte, orientierungslose - Opposition fordert, seitens der MSZP zunächst Budgetanpassungen, die den rund 700.000 öffentlich Bediensteten Gehaltserhöhungen bescheren sollen. Vor allem Krankenschwestern, Sozialarbeiter, Pfleger, aber auch Lehrer, Bibliothekare, Feuerwehrleute gehören zu jenen, die von ihrem Einkommen kaum bis gar nicht leben können - und das trotz etlicher "Karrieremodelle", die die Regierung begonnen hat, die aber mehr der ideologischen Disziplinierung dienten als der Verbesserung des Ein- und Auskommens.

Die grün-national-liberale LMP sieht "die Armut im Mittelstand angekommen". Es sei ein Zeichen verfehlter Politik, wenn die Einkommensschere immer weiter auseinandergeht. Nun, diese Schere geht auch in Deutschland, Österreich und anderen wohlhabenden Staaten immer stärker auseinander - doch am unteren Ende können die Menschen eben noch existieren, in Ungarn nurmehr vegetieren. Das stellt durchaus einen Unterschied dar. Die DK sieht Korruption bei den Regierungsgünstlingen und die Vertreibung der gut ausgebildeten jungen Leute (700.000  "Wirtschaftsflüchtlinge" seit 2010) als Haupthemmschuh für eine normale wirtschaftliche Entwicklung und gerechte(re) Verteilung.

OECD, UNO, Eurostat, Weltbank und 4 Millionen Ungarn unter dem Existenzminimum - alle lügen?

Und Fidesz? Die Regierungspartei lässt sich von den Zahlen und Fakten nicht beirren: Es seien jene, die heute über Armut sprechen, die Ungarn ins Elend gestoßen hätten, als sie an der Macht waren. Schließlich habe sich die Arbeitslosenrate unter den Sozialsten verdoppelt, sei der Gaspreis verdreifacht, Renten und Familienbeihilfen gekürzt worden. Fidesz habe dagegen "Maßnahmen ergriffen, die es mehr und mehr Menschen erlaubt, einer Arbeit nachzugehen, hat mehr Geld bei den Familien gelassen, jedes Jahr den Mindestlohn erhöht und in anderen Sektoren die Löhne angehoben." Und sogar
das Wort "Armut" wurde abgeschafft - im offiziellen Amtssprachgebrauch einfach verboten, ebenso wie "Fußballstadion". Auch hier lohnt es, den Zusammenhang zu erkennen.

Tatsächlich hat Fidesz die Arbeitslosenrate halbiert - auf dem Papier. 300.000 "Közmunkás", die für 170.- EUR im Monat ihre Würde und Zukunft abgegeben müssen, sind Zeugen. Auch Frührentner, die jetzt Steuern zahlen müssen. Die freie Wirtschaft weiß nichts von neuen Arbeitsplätzen, höchstens von sektoralen Verschiebungen. Der jährlich angehobene Mindestlohn stimmt ebenfalls - brutto. Unter der Hand erhält ein Mindestlohnempfänger heute jedoch ca. 100 EUR weniger an Kaufkraft als vor 6 Jahren. Familienbeihilfen kommen nur ungarischen Musterfamilien ab einem bestimmten Einkommen, nicht aber wirklich Bedürftigen zu Gute und die Energiepreissenkungen werden durch die europaweit höchste Verbrauchssteuerquote aufgefressen, ebenso durch die Streichung der Förderung der privaten energetischen Sanierung. Hoher Verbrauch hilft einer der lukrativsten Mafia-Strukturen in Orbánistan.
Auch das sollten sich die Orbán-Fans einmal zu Gemüte führen. Dann können sie uns ja erklären, warum sich Europa solche Halunken als Führungsfiguren wünschen sollte?!

Am perfidesten kommt der Sozial-Zynismus der Orbán-Partei bei den ärmsten Kindern zum Vorschein. Da wird seit September ein Programm aufgelegt, dass Kinder in der Schule ein kostenloses, warmes Essen erhalten. Toll oder? Der Preis dafür: der Rest der Familie bekommt praktisch die Sozialhilfe gestrichen. Besteht sie drauf, gibts für das Kind nichts zu essen. Wahlfreiheit, immerhin... Hungernde Kinder (40.000 regelmäßig) seien bei Zigeunern eine Art Lifestyle, äußert ein Regierungspolitiker öffentlich, eigentlich aber gibt es sie in Ungarn gar nicht, meinte auch Orbán im Rundfunk, ist eher eine Erfindung, eine Kampagne der Linken.
Mehr dazu hier.

 

Orbán als Vorbild in Europa? Danke, Orbán? Vielleicht sollte man genauer hinsehen, bevor man sich einen antidemokratischen, gewissenlosen Kleptokraten als Leitfigur für Europa erwählt, der nicht nur gegen "Fremde" hetzt und sie kriminalisiert, sondern dem auch das Schicksal eines Großteils des eigenen Volkes - im Interesse seiner Macht - ebenso egal ist wie die Zukunft eines gemeinsamen Europas.

Dass die fortschreitende Verarmung, samt Brain-drain einerseits und die damit einhergehende Radikalisierung des übrigbleibenden Restes der Gesellschaft zwingend in ein desaströses Finale münden müssen, sollte Warnung genug sein, das ungarische Modell als Abschreckung, nicht als Vorbild zu verstehen. Denn nicht die Grünen, die "Sozis" oder Bürgerlisten, gar eine entwickelte Zivilgesellschaft stehen parat, um Ungarn zu "retten", es sind die Neonazis der Jobbik, heute schon zweitstärkste Kraft im Land - und weiter salonfähig durch Orbáns Politik gemacht, die schon von der "Machtergreifung"  träumen.

Weitere Hintergründe:

Giftbecher und Osterglocken: Episoden der Armut aus Ungarn
http://www.pesterlloyd.net/html/1515episodenderarmut.html

Bericht über Lage der Grundrechte in Ungarn
http://www.pesterlloyd.net/html/1319tavaresberichteu.html

red. / m.s.

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