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(c) Pester Lloyd / 11 - 2016   POLITIK     16.03.2016

Niedertracht und Duldsamkeit: Ungarn am Nationalfeiertag

Die Veranstaltungen zum ungarischen Nationalfeiertag des 15. März - in Erinnerung an den Freiheitskampf gegen die Herrschaft der Habsburger 1848/49 - zeigten wieder ein tief gespaltenes Land. Während Orbán ein weiteres Mal seine pathologische Präpotenz demonstrierte, Flüchtlinge und Europa diffamierte, versuchten sich seine Gegner von jahrelanger Impotenz zu befreien. Landesweite (stundenweise!) Generalstreiks sind angekündigt. Eine weitere Luftnummer oder doch die Wende?

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Vor geladenem, bezahltem Publikum (Reisekostenpauschale) schwadronierte Ministerpräsident Orbán auf den Stufen des Budapester Nationalmuseums einmal mehr vom "Brüsseler Diktat" und erteilte einem europäischen Ungarn eine klare Absage. Denn: man müsse "Brüssel stoppen", wenn man die "Masseneinwanderung stoppen" will. Diese brächte Terrorismus, Kriminalität und Menschen nach Ungarn, "die Jagd auf unsere Frauen und Töchter machen" und außerdem "Homophobie und zündelnden Antisemitismus" ins Land, "der Synagogen in Brand setze." Diese Worte kamen aus dem Munde des Vorsitzenden einer aus allen Poren homophoben Partei, einer Partei, die Statuen von Antisemiten aus der Horthy-Zeit errichten lässt, deren Protagonisten die "jüdische Weltverschwörung" nicht mehr nur in Subtexten äußern.

 

Denn schon im nächsten Satz, als er von dem "Brüsseler Zwang" spricht, der versuche, "unser Land" die "kosmpolitische Migration aufzuzwingen", die Ungarn zwingen solle, "dem Willen von Ausländern in unserem Land zu dienen", die "uns selbst aus unserem Land ausschließt", schwingen den Anhängern unmissverständliche Codes mit. Die Fremdsteuerung sogenannter Oppositioneller (offiziell kann es keine Opposition gegen die Nation geben) durch die "Freunde von Soros" ist nur eine Deklination der antisemitischen Grammatik, die in Budapest heute "guter Ton" ist. Ungarns Regierungschef benutzt die Juden, Nachkommen jener ungarischen Bürger, die man mit deutscher Hilfe bis 1945 nicht umgebracht oder deportiert hat also nicht nur für herkömmliche Klischees, sondern bedarfsweise auch als moralische Schutzschilde für seine von Hass getriebene Politik gegeünber Flüchtlingen vor Krieg, Terror und Armut. Niedertracht, Deine Name ist Viktor...

Angstmacherei ist - neben kleptokratischer Günstlingswirtschaft und Gleichschaltung der Institutionen - der Kitt, der Orbáns Machtgefüge zusammenhält. Die Einwanderungswelle sei kein "humanitärer Fall" sondern "eine Invasion." Ungarn habe stets Einwanderer willkommen geheißen, die sich als Teil der Familie (lies: christlichen) gesehen hätten. Andere hätte man bekämpft. "Freiheit beginnt immer damit, die Wahrheit zu sagen. Aber man verbietet uns in Europa heute, die Wahrheit zu sagen." Und eine dieser Wahrheiten sei eben, dass "die Masseneinwanderung kein Zufall ist, sondern eine geplante, kontrollierte Aktion." Brüssel "frisst unsere Souverenität auf", aber in Ungarn ist der Schoß des Freiheitskampfes von 1848 fruchtbar noch, der revolutionäre Herzschlag funktioniere. Orbán pries die "patriotischen Bürger, Soldaten, Anwälte, Journalisten, Ärzte", die Ungarn, das echte Ungarn, Tag für Tag verteidigten und dafür sorgten, dass Ungarn nicht "von den Vereinigten Staaten von Europa verschluckt" werde. Grüße an die polnischen Freunde, die "das gleiche Schicksal" nach Budapest brachte. "Mehr Respekt für Polen" forderte Orbán und meinte damit die respektlose Einforderung demokratischer Prinzipien durch "Brüssel".

Die einflussreichsten unter den einflusslosen demokratischen Oppositionsparteien, MSZP und DK, ziehen Orbán, der eigentliche Tyrann der ungarischen Gegenwart zu sein und das Erbe von 1848 durch sein Allmachtsstreben zu besudeln. Die MSZP forderte - wie Kossuth 1848 - die Beseitigung der Zensur und beklagte, dass die Regierungspartei das Mittel der Volksbefragung durch technische Kniffe unzugänglich gemacht habe. Ex-Premier Gyurcsány will Orbán hinfort den Gebrauch des "wundervollen Wortes Freiheit" austreiben. Aus dessen Munde klinge es verlogen. Ein paar Dutzend Anhänger hörten sich das an.

Die neonazistische Jobbik hat politisch an Orbán nicht mehr viel auszusetzen, erfüllte der in den letzten Monaten doch Punkt für Punkt deren Partei- und Wahlprogramm. Um sich dennoch als Opposition von ihm abzugrenzen, starteten die Herren-Ungarn eine "Antikorruptionskampagne", denn schließlich seien die Menschen 2006 nicht gegen Gyurcsánys korrupte Bande auf die Straßen gezogen, um sich ein paar Jahre später vom nächsten Kleptokraten das Fell über die Ohren ziehen zu lassen. Die hehre Kampagne Jobbiks hätte, wäre sie nicht von waschechten Menschenhassern verfasst, die wahrlich Übles planen, etwas Komisches, wenn man bedenkt, dass die Indizien einer Parteifinanzierung seitens Moskauer Quellen immer schwerer widerlegbar werden...

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Die eigentliche Gegenveranstaltung zu Orbáns Ceaucescu-Persiflage fand hingegen auf dem Heldenplatz statt, von wo sich am Nachmittag bei Regen und strenger Kälte ein Zug von rund 40.000-50.000 Menschen gen Parlament bewegte. Lehrer, Pädagogen, Erzieher waren die Initiatoren dieser Kundgebung, die auch, aber längst nicht nur mit der vorsätzlich volksverdummenden Bildungspolitik Orbáns ins Gericht ging. Mehr als 50 weitere Gruppen, darunter auch Gewerkschaften anderer Branchen, Parteien, Bürgerrechtler schlossen sich an. Tenor: Wir wollen Orbáns Ungarn nicht, wir wollen unser Schicksal wieder selbst bestimmen. Diese Selbstbestimmung hatte man aus Enttäuschung, Gleichmut und Leichtsinn im Vertrauen auf eine stabile Demokratie, 2010 fahren lassen, sie Orbán quasi übergeben. Sechs Jahre brauchte es, bis man erkannte, dass eine Demokratie ohne Demokraten nicht funktioniert?

Nun. Man sah solche Demos seit 2010 immer wieder in Ungarn. Mal waren es 6.000, mal auch 50.000. Sie alle zerbröselten nach Wochen wieder in kaum wahrnehmbare Einzelteile, nie sprang der Funke auf die schweigende, leidende, im stillen Kämmerlein zeternde Mehrheit über, jene Gruppe von politisch paralysierten Menschen, die es Orbán ermöglicht, sich von netto 25% der Bevölkerung zur Alleinherrschaft ermächtigt zu sehen.

Es gibt Kommentatoren, die jetzt vom "Lehreraufstand" Signale einer "neuen Qualität" des Protestes erkennen wollen, immerhin handelt es sich hier um eine Gruppe von öffentlich Bediensteten, Multiplikatoren zumal, die Einfluss auf Schüler und Eltern nehmen könnten und deren Aufbegehren besonderen Mutes bedürfe. Allein, waren es nicht auch Polizisten, Feuerwehrleute, Ärzte, die wir 2011 auf den Straßen sahen? Am Ende genügte ein fauler Kompromiss und die rechnerische Illusion von ein paar Forint mehr, um sie zum Schweigen zu bringen.

Viele Reden, Ermutigungen, bewegende Sentenzen gab es an diesem Dienstag auf dem Budapester Kossuth-Platz und ein Ultimatum an die Regierung. Entschuldigen sich Staatspräsident und Premier nicht binnen einer Woche bei "all jenen, die sie seit 2010 erniedrigt" haben, wird für 30. März ein einstündiger (in Worten: eins) Generalstreik in Ungarn ausgerufen. Bleibt die Entschuldigung danach aus, werden es bald zwei, drei, vier etc. Stunden Generalstreik sein. Begleitet wird die Forderung nach dem "Mea culpa" des großen Vorsitzenden (Was sollte eine solche Entschuldigung eigentlich praktisch bringen?) von einem 12-Punkte-Forderungskatalog, der jedoch ausschließlich die Bildungspolitik betrifft.

Dafür, dass die demokratische Opposition in Ungarn angeblich von fremden Kräften finanziert und gesteuert sein soll, stellt sie sich hanebüchen dilletantisch an. Ein 24-Stunden-Generalstreik wäre vielleicht die passende Antwort, von dem man je eine Stunde abziehen könnte, wenn gewisse Forderungen erfüllt werden. Doch die Organisatoren dürften sich der Trägheit des gemeinen Ungarn bei ihren Planungen gewiss gewesen sein. In Ungarn macht man keine Revolutionen. Hier trifft man sich zum Schweineschlachten und trinkt sich den Frust weg.

Vergessen wir nicht, dass auch 1848/49 keine Revolution gegen das Herrschaftssystem war, am Ende war es nur eine Revolte gegen die Herkunft der Unterdrücker. Die einheimischen Magnaten lösten alsbald die Habsburger Statthalter ab und plünderten von nun an wieder auf eigene Rechnung. Die Ikonen Petöfi und Kossuth und mit ihnen die Ideale des Freiheitskampfes verbluteten derweil auf dem Schlachtfeld und im Exil. Für das Volk änderte sich praktisch nichts. So gesehen ist Orbán tatsächlich der Erbe dieser Bewegung.

 

Man darf sich jetzt schon auf die Ringschaltung der Staatsmedien freuen, die am 30. März landesweit aus Schulen, Büros und "Kombinaten" von ungestörten Arbeitsabläufen patriotischer Werktätiger berichten werden, - es wird keinen Generalstreik geben, der - in dieser Form - übrigens auch gesetzeswidrig wäre, worauf das Staatsfernsehen - im Unterschied zu den tagtäglichen Verbrechen der Orbán-Bande - schon gestern hinweisen ließ.

Zur Zeit erscheint es unwahrscheinlich, dass der Frust der durch die Fidesz-Ständestaalter sozial ins Abseits gestellten und demokratisch mundtot gemachten Mehrheit - das ist ja die eigentliche "Leistung" Orbáns seit 2010 - schon in Wut und Aktion umschlägt, die keine Rede Orbáns mehr aufhalten könnte. Wie schnell scheinbar gefestigte Systeme einstürzen können, hat die Geschichte, zumal auch die jüngere europäische Geschichte, immer wieder eindrucksvoll gezeigt. Nur die Duldsamkeit des Ungarn ist mitunter noch eindrucksvoller.

red. / m.s.



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