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(c) Pester Lloyd / 38 - 2016   POLITIK     21.09.2016

Volkswille in der Postdemokratie: Fakten und Fiktionen zum Referendum in Ungarn

Zum Referendum in Ungarn am 2. Oktober zur Flüchtlingsfrage wird dieser Tage weltweit viel geschrieben. Viel Verwirrung ist die Folge. Worum geht es bei der "Volksabstimmung", welchen Wert hat sie und was steckt dahinter? Zwischen den politischen Kämpfen geht die Lage der Flüchtlinge an Ungarns Grenzen unter. Orbán wird sich auf deren Rücken ein Mandat zur Selbstermächtigung ausstellen lassen. - Eine Analyse.

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Aktuelle Entwicklungen zum Referendum in Ungarn im NEWSTICKER + + +

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Militär und Polizei an der serbisch-ungarischen Grenze. Fotos: MTI

Zunächst die Fakten:

 

Am 2. Oktober sind rund 8 Millionen wahlberechtigte Ungarn aufgerufen, über folgende Frage abzustimmen: “Wollen Sie zulassen, dass die Europäische Union bestimmen darf, dass nichtungarische Bürger in Ungarn ohne Zustimmung des nationalen Parlamentes angesiedelt werden?"

Ein gültiges Referendumsergebnis gibt es, wenn mindestens die Hälfte der Wahlberechtigten teilnimmt. Diese Quote von 50% plus einer Stimme wurde von der Fidesz-Regierung von zuvor 25% angehoben. Die Wähler haben die Möglichkeit mit "Ja" oder "Nein" zu stimmen, ihre Stimme ungültig zu machen oder der Wahl fern zu bleiben.

Um das Referendum zu ermöglichen, mussten 100.000 Unterstützungsunterschriften eingereicht und von der amtlichen Wahlbehörde für gültig erklärt werden. Eine Formsache. Zuvor hatte diese - von Regierungstreuen dominierte - Behörde zu entscheiden, ob die Referendumsfrage selbst gesetzmäßig ist. So schließt die Verfassung u.a. Fragen von bindenden Volksentscheiden aus, die Verpflichtungen des Landes berühren, die aus internationalen Verträgen rühren.

Dies ist einer der Punkte, der Rechtsexperten an der Rechtmäßigkeit zweifeln lässt. Ein anderer Aspekt ist, dass die Frage pauschal von "nichtungarischen Bürgern" spricht. Diese haben aber, so sie Europäer sind, jedoch schon längst freien Zugang in das Land. Stellt Ungarn bei einem "Nein" dann nicht automatisch die Personenfreizügigkeit in Frage, eine Säule der EU und somit seine eigene Mitgliedschaft in der Gemeinschaft? Ein Orbán-Sprecher sah sich vor internationalen Pressevertretern kürzlich genötigt, klarzustellen, dass man nicht über einen EU-Austritt abstimmen lasse.

Da mit der Frage jedoch nicht die Aufhebung eines konkreten Vertrages oder ein konkretes Gesetz gemeint ist, hat der Ausgang des Referendums ohnehin keine unmittelbaren Konsequenzen, somit faktisch keinen bindenden Charakter, obwohl ein solches Referendum per se als verbindlich vorgeschrieben ist. Wozu dient es dann?

Eine der Tücken der "direkten" Demokratie á la Orbán sei zuvor erwähnt: Um alternative Fragestellungen durch andere Antragssteller zu verhindern, hat die Fidesz-Regierung zuvor das Gesetz zur Einreichung von Referendumsfragen so gestaltet, dass bei Einreichung einer Frage keine weiteren, alternativen Anträge gestellt werden können, bis über die Genehmigung des Erstantrages befunden wurde. Am Tag der Einreichung der Frage zu obigem Referendum, blockierten ein Dutzend martialisch auftretetender Gestalten den Eingang zur Wahlbehörde und verunmöglichten so anderen Antragstellern den Zutritt.

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Wußten Sie, dass Brüssel eine ganze Stadt voller Flüchtlinge in Ungarn errichten will? Regierungsplakat zur Referendumskampagne

Die Position der Regierung:

Die Regierungspartei Fidesz, ebenso die Regierung, in Ungarn eine Einheit, trommeln für ein "Nein" und stilisieren das Referendum zur "nationalen Angelegenheit", ja zur "Schicksalsfrage", die darüber entscheide, ob Ungarn Souverän seiner Politik bleibt oder sich der "selbstmörderischen Politik einer Brüsseler Elite" unterordnen, eine "Überfremdung" hinnehmen müsse, die "unsere Töchter und Mütter" sowie "unsere christliche Identität" gefährde.

Premier Orbán wünscht sich durch das Referendum ein "starkes Mandat des ungarischen Volkes" für die Abwehr einer bindenden Quote zur Aufnahme von bereits in Europa befindlichen Flüchtlingen. Ja, sogar eine Änderung des Lissabon-Vertrages auf Orbáns Initiative schwebt ihm vor. Hier schwingt wieder der Begriff des "Volkswillens" mit, den zu interpretieren sich Fidesz exklusiv berechtigt sieht und den sie immer wieder auch
über geltendes Recht stellte. Im übrigen verteidigt Orbán nicht nur sein Land, sondern ganz Europa - und wieder sei es Ungarn, das dabei die größten Lasten trage...

Die Drohkulisse zu einem "Igen" illustrierte Orbáns Kabinettschef Lázár am Montag nochmals wie folgt: Seit dem Vorjahr wurden in Ungarn 370.000 Flüchtlinge registriert, in diesem Jahr 28.000 (in Summe blieben 5000 im Lande). Praktisch alle zogen nach Westen weiter. "Westeuropäische Länder sind nach internationalem Rechte (Schengen, Dublin) dazu berechtigt, sie alle wieder nach Ungarn zurückzuschicken." so Lázár. Mehr noch, nach ungarischer Sicht, hätten die europäischen Innenminister mit ihrem Vertragsentwurf einen illegitimen Vorstoß unternommen, nationale Parlamente, ja sogar ihre Vorgesetzten zu unterlaufen, um Fakten zu schaffen. Quasi ein multinationaler Staatstreich gegen den Willen der Europäer, heißt es in Budapest.

Was Europa will und was Orbán daraus macht:

Die Wahrheit sieht jedoch anders aus. Die - noch gar nicht verbindlich beschlossene - Verteilungsquote ist der - wenn auch späte, hilflose und kaum wirksame - Versuch einer europäischen Reaktion auf die Einsicht, dass die Schengen- und Dublin-Regeln angesichts der Masse der Personen unmöglich so umsetzbar sind. Es geht bei dem Plan um die Verteilung von 160.000 Flüchtlingen, wobei auf Ungarn nach dem vorgelegten Schlüssel 1.294 Personen fallen würden. In Worten: Eintausendzweihundertvierundneunzig.

Selbst für eine freiwillige Regelung wären die Großen Europas offen, wenn die "flexible Solidarität" Ungarns dabei nicht so einseitig und durchsichtig ablehnend wäre. Was die maßgeblichen Politiker in Paris, Berlin und Brüssel wollen, ist nichts weniger als eine gemeinsame Politik, die sowohl die begrenzten Kapazitäten, den Enden wollenden Willen der Bürger zur Aufnahme berücksichtigt, dabei aber einen humanen Umgang mit den Flüchtlingen ermöglicht - und das Recht auf Asyl nicht aufhebt, denn es ist ein Menschenrecht!

Diese Fakten lässt Budapest aber unter den Tisch fallen. Im Gegenteil, die Regierung begleitet ihre "Nem"-Kampagne mit Anzeigen und Plakaten, die behaupten, mit einem "Ja" würden Terror und Chaos in Ungarn Einzug halten. Dabei schreckt man - einmal mehr - auch nicht vor der pauschalen Verunglimpfung von Flüchtlingen als Schmarotzer, Kriminelle und Terroristen zurück. Westliche "Eliten" würden gezielt die Einwanderungswelle forcieren, um eine Bevölkerungsumschichtung vorzunehmen, die der "Linken" als Machtbasis für die Zukunft dienen soll. Die Begriffe: Umvolkung, neue Weltordnung (mit Subtext einer jüdischen Weltverschwörung), Multikulti-Terror usw. sind der ungarischen Regierung dabei Standardvokabular. Klar auch, dass alle, die zur Regierungsmeinung opponieren, vom Ausland - speziell vom ungarischen Juden Soros - gesteuerte Volksverräter sind.

Der Verteidigungsminister ergänzte dieser Tage, dass "das ungarische Volk" mit seinem "Nein" beim Referendum einen "aktiven Beitrag zur Landesverteidigung" leisten solle. Wobei hier nicht nur die "Fremden" als Feinde bezeichnet werden, sondern auch die Länder Europas, die einen anderen als den ungarischen Weg einschlagen. Gerade erst hat Außenminister Szijjártó die Länder Skandinaviens als Verursacher einer Kampagne gegen Ungarn ausgemacht. Jeden Tag wird so eine neue Sau durchs Dorf getrieben. Gemeinsames Schweineschlachten, kombiniert mit viel Alkohol, ist eine alte ungarische Tradition...

Gleichzeitig mit den innenpolitischen Motiven versucht Orbán mit seiner Frontstimmung Verbündete unter weiteren Ländern zu finden. Plattform dafür ist die Gruppe der Visegrád Vier (Slowakei, Tschechien, Polen, Ungarn). Hierbei geht es jedoch nicht nur um eine Anti-Flüchtlings-Allianz, sondern um den Versuch Vertreter "illiberaler" Regierungsmodelle zu einer informellen Fraktion gegen die führenden europäischen Mächte zu schmieden, um letztlich die Akzeptanz für postdemokratische Staatenmodelle zu erhöhen, der Idee eines progressiven, liberalen Europas den Garaus zu machen. Durch den Brexit ist der Hauptverbündete dabei abhanden gekommen (Großbritannien jetzt sogar
zu einer Gefahr für Ungarn geworden), die Gruppe der Ostländer (gütig gefördert, im Falle Ungarns auch finanziert durch Russland) ist nun als nächster Spaltpilz der EU zu erkennen.

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Mit “eisig” sind die Beziehungen Ungarns zu seinen EU-Partnern noch euphorisch beschrieben. Kümmert Orbán aber nicht, so lange die EU-Milliarden weiterfließen, die seine Wirtschaft und sein Günstlingssystem am Leben erhalten...

Die Position der Kritiker:

Die meisten demokratischen Oppositionsparteien rufen zu einem Boykott des Referendums auf, denn man geht realistischerweise davon aus, dass die überwältigende Mehrheit der Wähler, die auch an die Urnen gehen, mit "Nein" stimmen wird. Nur die Nichterreichung des Quorums von 50% kann das Referendum zu Fall bringen und der Regierung eine Niederlage bescheren. Hier hofft die Opposition also auch auf das sonst so beklagenswerte politische Desinteresse rund der Hälfte der Bevölkerung.

Von einer inhaltlichen Position der "Opposition" zu sprechen wäre angesichts des desaströsen Zustandes der parteipolitischen, aber auch außerparlamentarischen Opposition in Ungarn ein Hohn. Sprechen wir von all jenen, die das Referendum ablehnen, kann zusammengefasst werden, dass man in dem Referndum eine verlogene False-Flag-Aktion aus machtpolitischen Motiven sieht.

Orbán heize die Stimmung im Volke künstlich auf, um die Flüchtlingsproblematik für sich und seine Ambitionen zu nutzen. Die bestehen vor allem in einer weitgehenden Selbstermächtigung, weit über die Erfordernisse eines "Einwanderungsnotstandes" hinaus, dazu wurden und werden Gesetze geschaffen und vorbereitet, die sogar in der Verfassung verankert werden und eine Alleinherrschaft Orbáns, vorbei an sämtlichen demokratischen Kontrollinstanzen und rechtsstaatlichen Grundnormen, ermöglichen. Die
Details zu den Ermächtigungsgesetzen finden Sie hier.

Neben dem Machtkalkül sehen die Kritiker Orbán einen klassischen Stellvertreterkrieg führen, der vom
systematischen Raubzug seiner Nomenklatura im Lande sowie von der provozierten sozialen Schieflage ablenken soll.

Beobachter halten es für möglich, dass Orbán einen für ihn erfolgreichen Ausgang des Referendums für vorgezogene Neuwahlen (die regulären wären 2018) nutzen könnte, um sich erneut eine Zweidrittelmehrheit im Parlament zu sichern und eventuellen Popularitätsverlusten bis 2018 aus dem Wege zu gehen. Der Organisationsgrad der demokratischen Opposition ist momentan derart schlecht, dass die Gelgenheit günstig scheint. Auch die derzeit stärkste Oppositionkraft, die neonazistische Jobbik, hat man im Griff, da man durch die Anti-Flüchtlingspolitik viele ihrer Forderungen erfüllt und so oppositionellen Wind aus den Segeln genommen hatte.

Fazit:

Während sich die Kontrahenten im täglichen politisch-medialen Kleinkrieg scharmützeln, gehen die strategischen Planungen Orbáns auf. Zumindest innenpolitisch. Seine ungefährdete Machtstellung bezahlt das Land durch eine weitere Verarmung der
ausgeschlossenen Hälfte, eine Fortsetzung des Abbaus bzw. der Paralysierung von Demokratie und Rechtsstaat und eine zunehmende Isolierung in Europa.

Da sich der politisch - zumindest bei Wahlen - aktive Teil Ungarns, mit Orbáns nationalistischen Parolen, seiner Angstmacherei identifiziert oder wenigstens abspeisen lässt bzw. profitierender Teil seiner Kleptokratie ist, ist dieser in der Lage mit ca. 25% des Wahlvolkes seine Quasi-Alleinherrschaft zu bestreiten - das sollte all jenen Verfechtern einer unreflektierten, unbedingten, "direkten" Demokratie Stoff zum Nachdenken geben. Das Referendum am 2. Oktober ist eine weitere Maßnahme, das aktuelle Macht- und Mehrheitsgefüge am Leben zu erhalten. Es deutet alles darauf hin, dass Orbán das gelingen wird.

Und die Flüchtlinge?

Es ist bezeichnend für die “demokratische” Qualität Ungarns, dass die eigentlich Betroffenen im Prozess der politischen Manipulation keine Stimme haben. Ihr Schicksal liegt nicht in ihren Händen. Doch wie sieht es an der ungarischen Südgrenze ein Jahr nach der “Welle” aus?

Ein am Montag vorgelegter Bericht von Human Rights Watch (HRW) sagt aus: "Ungarn lässt die an seinen Grenzen gestrandeten Flüchtlingen (man geht von durchschnittlich 5.000 aus, wobei täglich einige Dutzend bis wenige Hundert aufgegriffen werden) in erbärmlichen Bedingungen". Aufgezählt und belegt werden Fälle von "exzessiver Gewalt" gegen Asylsuchende, angeprangert die völkerrechtswidrigen Abschiebungen nach Serbien, ohne Verfahren. Seit Juli können die Behörden Jeden, der innerhalb einer 8-km-Zone von der serbischen Grenze aufgegriffen wird, ohne weiteres wieder abschieben.

 

In Interviews wurden 12 akutelle Fälle von "Gewalt gegen Asylsuchende" dokumentiert, darunter Familien, unbegleitete Kinder. Sie wurden, so die Angaben, mit Stöcken und Fäusten geschlagen und getreten, auch von Uniformierten. In einigen Fällen hätte die Polizei Verletzten die Versorgung verweigert, andere berichten von exzessivem Einsatz von Pfefferspray bzw. Tränengas. (Eine Zusammenfassung der Berichtes finden Sie auf der HRW-Seite in englischer Sprache)

Das ungarische Innenministerium wiegelt die Berichte als Lügen von "Pro-Einwanderungskräften" ab, die "auf diese Weise Ungarn angreifen" wollten, selbst aber Teil eines weltweiten, kriminellen Netzwerkes von Schleusern und Einwanderungsprofiteuren seien. Die ungarische Polizei und die Behörden handelten einwandfrei und rechtmäßig, alle eingesetzten Mittel seien "verhältnismäßig". Ja, man richte sogar "besondere Aufmerksamkeit auf die menschliche und respektvolle Behandlung der illegalen Eindringline", vor allem "die vielen unbegleiteten Kinder" würden alle notwendige Hilfe und Schutz erhalten.

red.

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