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(c) Pester Lloyd / 45 - 2016    GESELLSCHAFT     06.11.2016

Heute Ungarn und morgen ganz Europa: Noch eine unzureichende Studie über Orbán und seine "illiberale Demokratie"

"Orbán, das ist doch einer der wenigen Politiker, der noch was für sein Volk tut!" Diese, meist spärlich reflektierte Hymne singen ihm seine Anhänger daheim und Wutbürger außerhalb Ungarns. Eine aktuelle 80-seitige Studie der renommierten Internationalen Föderation für Menschenrechte (FIDH) bringt zwar nicht viel Neues über Orbáns "illiberale Demokratie" zu Tage, aber die Zusammenfassung der "Leistungen" Orbáns seit 2010 beeindrucken in ihrer Dichte nd Tiefe dann doch immer wieder...

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Vorab: Politik mag häufig abstrakt, ja als Selbtszweck erscheinen, wirkt aber konkret und gesellschaftlich universell. Im übelsten Fall können ein paar Paragraphen Menschen- und Grundrechte einschränken. Sie dürften es nicht, aber sie tun es, wenn der Souverän es zulässt, dass universelle Rechte sich parteipolitischen Gesetzen unterordnen. Eine solche Studie kann hilfreich dabei sein, diesen Zusammenhang kenntlich zu machen und damit auch mit der Beschwichtigung aufzuräumen, bei Orbán und seiner Truppe handele es sich um ein paar lautschreierische Populisten, deren Krakeelen man nicht so ernst nehmen sollte, wie es uns die Kameraden der EVP gerne weis machen wollen.

Die Studie der FIDH - wie viele Studien (man erinnere sich an den Tavares-Report) vor ihr - sagt vieles Wichtige und Richtige, spricht aber leider nur am Rande und viel zu leise aus, dass Orbán die junge Demokratie Ungarn längst in ein kriminelles Konstrukt umgemodelt, den Menschen ihr Schicksal aus den Händen genommen hat. Die Demokratie hat er zum Werkzeug für eine Einparteien-Kleptokratie umgearbeitet, das Land und die Menschen gespalten, den Diskurs vergiftet und das Volk in den Zustand einer postdemokratischen Duldungsstarre versetzt, die eine Rückkehr zu demokratisch-humanistischen Grundprinzipien sehr schwer und langwierig macht, das Land um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte lähmen und zurückwerfen wird. Die Studie vermeidet ebenso die Frage nach den Schwächen des Mainstream-Systems der EU-Mitglieder und der Mitschuld ihrer Strukturen und Protagonisten an den Zuständen in Ungarn heute. Das komplette Versagen der demokratischen Opposition und damit auch der europäischen Kooperation demokratischer Kräfte ist ebenfalls kein Thema, - sollte es aber sein, denn es ist ein Teil des Ganzen.

Die Studie unter dem Titel "Ungarn: Demokratie in Gefahr"
kann in Gänze hier (in englischer Sprache) abgerufen werden

Ein internationales Experten- und Rechercheteam der FIDH, bestehend aus 120 NGO´s, die seit fast 100 Jahren die Barbareien gegen Grundrechte und Demokratie aufarbeiten, hat sich, so schreibt man, jahrelang mit Ungarn auseinandergesetzt, um den Zustand und die Veränderungen zu untersuchen, denen die demokratischen Prinzipien und Institutionen, der Rechtsstaat, die Gewaltenteilung ausgesetzt sind und wie sich deren Beeinflussung durch die Regierenden auf die Grund- und Menschenrechte auswirken.

 

Das Fazit des FIDH-Reports ist - für uns und unsere Leser vermutlich wenig überraschend - verheerend und umfasst Begriffe wie: Methodische Beugung des institutionellen und rechtlichen Rahmens des Staates zum Vorteil für die Regierungspartei, Aushöhlung der demokratischen Kontrollmechanismen, Unterlaufen des Rechtsstaates. Konkret an der von Fidesz 2012 - übrigens ohne Volksbefragung - eingesetzten Verfassung sowie den - sage und schreibe - 600 neuen Gesetzen seit 2010 werden die "negativen Einflüsse auf und teilweisen Einschränkungen von Grund- und Menschenrechten" dokumentiert.

In einzelnen Kapiteln untersucht die Studie verschiedene, fundamentale Bereiche des Staatswesens, jene Gewalten, deren unabhängiges und in sich gesetzliches und transparent-kontrolliertes Funktionieren eine Demokratie überhaupt erst ermöglichen und diese zu mehr machen als zur Diktatur einer Mehrheit. Sie stellt aber kaum die funktionalen Verbindungen zwischen diesen verschiedenen Bereichen her, die deren Wirkung und Wille erst kenntlich machen würden. Das kommt davon, wenn nur Experten auf ihren Wirkunsgfeldern arbeiten und man anschließend die einzelnen Teile nur zusammensetzt.

Besonders wird die "Transformation" der Justiz des Landes beklagt, der Unabhängigkeit durch zahlreiche gesetzgeberische und exekutive Maßnahmen "ausgehöhlt" wurde und die sich einer gestiegenen Einflussmaßnahme, ja teilweise "direkten Kontrolle" der Regierungspartei ausgesetzt sieht. Vor allem das Nationale Justizbüro (NJO), das seit 2011 als ein "nicht-unabhängiges", weil parteilich besetztes Gremium zur Kontrolle der Richterschaft agiert, wird kritisiert. Der Bericht erwähnt die "erzwungene Pensionierung" von rund 10% der Richterschaft (die zwar auf EU-Druck rechtlich, aber nicht praktisch rückabgewickelt wurde) sowie die "Neutralisierung" des Verfassungsgerichtes, durch Kompetenzbeschneidung und Umbesetzungen. Die Politisierung der Justiz, ihre Umarbeitung zu einem Instrument parteipolitischer Macht, ist ein zentrales Merkmal undemokratischer Herrschaftsstrukturen.

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Wahlsystem in Ungarn wurde so geändert, dass zwar "freie, aber keine fairen Wahlen" mehr stattfinden können. D.h., noch könne sich Jeder zur Wahl stellen, ungenehme Kandidaten und Parteien würden aber - auch gesetzlich - benachteiligt. Gerrymandering - also die Neuaufteilung von Wahlbezirken zu Ungunsten der Opposition und andere Nicklichkeiten im Wahlgesetz zu Gunsten der Regierungspartei werden hier als Beispiele angeführt. Man kommt zu dem Schluss, dass etwas faul sein muss im Staate Ungarn, wenn 2010 eine Mehrheit von 53% der Stimmen für Fidesz-KDNP sich in 68% der Sitze niederschlägt, ein Wahlergebnis von 45% 2014 aber zu 67% führt.

Gewürdigt werden auch die "Versuche der Regierung, Kontrolle über die unabhängigen und kritischen Stimmen in den Medien" zu erlangen. Man beschreibt einen Bogen vom Medeiengesetz 2010, der Aneignung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und der Gängelung kritischer, privater Medien durch Gesetze und das Abschneiden von Werbeaufträgen. Auch in diesem Kapitel bleibt die Studie auf halbem Wege stehen: Es fehlt die Offenlegung der mafiösen Strukturen im Fidesz- und Orbán-Umfeld, die sich mit (selbst geschaffenen) gesetzlichen, aber auch klar mafiösen Methoden mit der Schaffung eines unantastbaren- und unkntrollierbaren Medienimperiums befassen und dabei - wie man erst
kürzlich bei der Népszabadság sehen musste - alle Register ziehen.

Der Bericht schreibt weiter über die - unter dem Deckmantel des Kampfes gegen Hetze - gesetzlich gegebenen Möglichkeiten der Einschränkung von Rede- und Meinungsfreiheit. Hier wird klar gestellt, dass man ein Gesetz gegen Diffamierung und Hassrede schuf, dieses aber so formulierte, dass es praktisch auf jeden Journalisten, Politiker oder sonstigen unliebsamen Zeitgenossen angewendet werden kann, sobald man seine Meinung als gefährlich für die Interessen der Nation einstuft, deren Definition wiederum bei der von der Regierungspartei kontrollierten Justiz liegt.

Weitere Kapitel der Studie behandeln die (besonders 2013 forcierte) Einschränkung der Informationsfreiheit, also die Auskunftspflicht von Behörden gegenüber den Bürgern, für die sie ja eigentlich arbeiten. Auch hier muss sich der Leser die Motivation des Gesetzgebers dazu denken. Wie unsere Leser wissen, geht es dabei um das unbeoabachtete Stehlen von öffentlichen Geldern, Steuer- wie EU-Mittel durch Ausschreibungen, Bevorteilungen und das Ausschalten ungewollter Konkurrenten in Vergabeprozessen. Und natürlich geht es auch ganz allgemein um die Abschottung der parteilichen Verwaltung von unangenehmen Fragen von Bürgern und Medien.

Der Justizskandal um die Hatz auf NGO´s wird in der Studie ausführlich behandelt, ebenso die Konzentration der Förderung auf nationalistisch gesinnte oder frömmelnde Günstlings-"N"GO´s aus dem Regierungsumfeld. Auch die Einengung der Religionsfreiheit durch die Begünstigung "historischer Kirchen" gegenüber kleinen Glaubensgemeinschaften spielt bei der Bewertung des Standes der Freiheit in Ungarn eine Rolle im Bericht.

 

Besonders deutlich und hart geht man - aus aktuellem Anlass - mit der "Verletzung von Menschenrechten" gegenüber Einwanderern, Asylsuchenden und Flüchtlingen ins Gericht. Es heißt, (zuvor hatte das schon Amnesty International und Human Rights Watch und ganz aktuell auch hier das Anti-Folter-Komitee des Europarates getan) seit 2015 "sind zahlreiche, ernsthafte und systematische Verletzungen der Genfer Konvention gegenüber dem Status von Flüchtlingen" festzustellen, ebenso Zuwiderhandlungen gegen EU-Gesetze und die Allgemeine Menschenrechtskonvention. Das sind Verstöße, die man sonst nur aus waschechten Diktaturen meldet. Der Zaunbau zu Serbien, die Ablehnung der Rücknahme von Flüchtlingen, die man registriert hat, werden sämtlich als Verstöße gegen internationales Recht definiert und belegt. Konkret benannt werden auch die körperlichen Übergriffe von Polizisten, der TÉK-Einsatz in Röszke benannt.

Der Bericht wird aktuell, in dem er die siebente Verfassungsänderung als Folge des Referendums vom 2. Oktober beschreibt und bei der es sowohl um innen- wie außenpolitische Motive, vordergründig aber nicht um die Lage der Flüchtlinge geht: "Sowohl die Volksabstimmung als auch die Verfassungsänderung wird von Kritikern in ganz Europa als Versuch Orbáns verstanden, eine europäische Flüchtlingspolitik zu verhindern (...) und seinen eigenen illiberalen Staat als Model zu etablieren." Kurz gesagt: Orbán hat zunächst die Demokratie in Ungarn zerstört, nun
versucht er das gleiche mit Europa...

red. / m.s. / zs.ba.

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