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(c) Pester Lloyd / 47 - 2016    POLITIK     20.11.2016

Ernennung von Verfassungsrichtern: Ungarns Grüne begehen politischen Selbstmord

Beim Zustand von Verfassung und Verfassungsgericht stellt die Ernennung neuer Richter in Orbáns Ungarn eigentlich nur eine personelle Formalie dar, keineswegs eine Richtungsentscheidung. Die überraschende Zustimmung der offenbar am Stockholm-Syndrom leidenden LMP für Orbáns Richter-Kandidaten, schwächt die ohnehin desaströs dümpelnde Opposition noch weiter. Wozu dieser Pakt mit dem “Teufel”? Orbán scheint es wieder einmal gelungen, die fragilen Reihen seiner Gegner zu instrumentalisieren.

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LMP-Gründer András Schiffer hier im Plausch mit Premier Orbán und Kabinettschef Lázár...

Vier von fünfzehn Richterstellen und die Position des Präsidenten des Ungarischen Verfassungsgerichtes sind seit einiger Zeit vakant, weil Richter in Pension gingen bzw. ihre 12jährige Amtszeit endete. Orbán hatte kurz nach Amtsantritt durch Aufstockung der Richterzahl dafür gesorgt, ihm genehme Richter zu platzieren und gleichzeitig die Kompetenzen des Gerichtes bis zur Funktionslosgikeit eingeschränkt. Seit 2014 hat sein Personal klar die Dominanz im Gremium erreicht. Dennoch bleibt die Besetzung des Verfassungsgerichtes ein Politikum, zumal die Regierungsparteien nicht mehr allein über die für die Ernennung erforderliche 2/3-Mehrheit verfügen.

 

Für Aufsehen sorgt nun, dass sich Fidesz-KDNP in Hinterzimmergesprächen die Unterstützung der oppositionellen LMP für ihre Kandidaten gesichert hat. Diese wird, so erklärte die Partei am Freitag, sowohl den 2014 installierten Tamás Syulok als Präsidenten unterstützen wie auch die vier neuen Mitglieder bei der Plenarsitzung am Dienstag wählen. Parteisprecher Ákos Hadházy erklärte, dass die LMP der Überzeugung sei, dass nun "mehr Richter unabhängig von der Regierung ihre Entscheidungen treffen" werden. Die LMP habe "keinerlei Gegenleistungen von Fidesz gefordert oder erhalten", sondern lediglich darauf bestanden, dass die Nominierten "unabhängig und der Umwelt zugetan sind sowie, dass eine Frau dabei ist."

Zumindest das "unabhängig" hat man indes gründlich verfehlt, abgesehen davon, dass es ein antidemokratischer Frevel ist, Orbáns "Verfassungsordnung" durch Mitstimmen zu legitimieren. Denn auch diesmal sind alle vier Kandidaten als Fidesz-nah, wenn nicht -treu einzustufen. Ildikó Marosi ist derzeit Richterin bei der Kurie, Ungarns Oberstem Gerichtshof, eine Institution die von Orbán
überhaupt erst geschaffen und entsprechend besetzt wurde. Der Rechtshistoriker, Schwerpunkt Stalinismus und deutsches Handelsrecht, Attila Horváth, ist u.a. Dozent an der katholischen Pázmány-Universität, die als ultrarechte Kaderschmiede für die höheren Dienste gilt und von der auch Balázs Schanda stammt, der dort den Lehrstuhl für Verfassungsrecht inne hat. Der Vierte im Bunde ist Marcel Szabó, seit 2012 zahnloser, parlamentarischer Ombudsmann für "zukünftige Generationen", auch er also ein Orbán-Nominierter, wenn auch der vielleicht am wenigstens fidesz-affine in dieser Gruppe.

Die einmal als Ungarns Grüne gestartete LMP ("Politik kann anders sein") hat unter ihrem langjährigen (Fraktions-)Vorsitzenden András Schiffer nach und nach immer mehr "nationale" und bürgerlich-neoliberale Aspekte in ihr Programm gebracht und versuchte sich den Wählern als von Korruption und Günstlingswirtschaft
unbefleckte Alternative zu präsentieren, die sowohl zur Regierung wie zur linken Opposition gleiche Distanz halten will.

Das brachte allerdings nichts Zähblares, mit
"Dialog für Ungarn" (PM) spalteten sich 2013  die wirklich grün-liberalen Teile der Partei ab, übrig blieb eine Gruppe rechthaberischer Eigenbrötler, die Moral und Intellekt als ihr alleiniges Pachtland behaupten. Parteigründer Schiffer, der sogar informelle Kontakte mit der neonazistischen Jobbik nicht scheute - zog sich 2012 von allen Posten zurück, soll aber im Hintergrund - er ist ja noch immer im Parlament - weiter die Fäden ziehen. Die Partei ringt in Umfragen um das Erreichen der Schwelle für einen erneuten Einzug ins Parlament (2014: 5,3%, 5 Mandate).

Was die LMP nun mit ihrer Unterstützung für Fidesz will, ist nicht ganz klar. Es ist denkbar, dass sie den
Kalten Krieg zwischen Fidesz und Jobbik nutzen will, um sich als moderater, kompromissbereiter und somit verantwortungsvoller Verhandlungspartner und Wahlalternative zu präsentieren. Im Gegensatz zur Fundamentalopposition der linken, demokratischen Opposition auf der einen und zu den Radikalinskis auf der anderen Seite.

Allein, im Ergebnis macht die LMP dabei lediglich die Figur wie eine der Kreml-Pseudo-Oppositionsparteien, die von Putin als Schwämme für Proteststimmen funktionalisiert werden, seine Politik aber mittragen. Der angestrebten Einheit der demokratischen Opposition mit dem Ziel der Absetzung Orbáns 2018 leistet sie somit jedoch einen weiteren Bärendienst.

Dass die LMP von Fidesz eine Gegenleistung für seine Zustimmung erwartet, dürfte indes klar sein. Orbán scheint wieder einmal ein Coup gelungen, sollte er - sehr wider Erwarten - bei den nächsten Wahlen nicht mehr über eine eigene Mehrheit verfügen, bliebe ihm, neben der zunehmend erpresserisch auftretenden Jobbik, auch eine zweite Alternative für die Beschaffung von Mehrheiten. Orbán wird es freuen, dass denkbare Proteststimmen in Zukunft gleichmäßiger nach links und rechts gelenkt werden können.

Fidesz dürfte der LMP eine Art Waffenstillstand angeboten haben. Schon forderte die LMP nämlich die Einsetzung eines Ausschusses, um "den Einfluss Russlands auf die ungarische Politik" zu untersuchen, Fidesz schloss sich sofort diesem Ansinnen an, in der Hoffnung die Verbindungen Jobbiks nach Moskau weiter ausschlachten zu können. Es ist nicht das erste Mal, dass Schiffer Orbán zum Munde redet. Für einiges Aufsehen sorgte einmal seine Aussage, dass "Nicht alles, was wir Korruption nennen, strafbar..." sei, im
Zusammenhang mit dem Finanzamtsskandal 2014/15.

46schiffervonaJobbik, die Fidesz zuweilen die für eine Verfassungsmehrheit fehlenden Stimmen lieh, zuletzt aber bei der
Verfassungsänderung verweigerte und sich damit den Zorn des Großen Vorsitzenden auf sich zog, sieht seine öffentlichkeitswirksame Position als "Zünglein an der Waage" durch das Einspringen der LMP plötzlich gefährdet und vermutet daher "den Abschluss eines geheimen Paktes" zwischen den Grünen und Fidesz. Zu den Nominierten selbst wolle man sich später äußern.

Schiffer im Gespräch mit Jobbik-Chef Vona. Fotos: MTI

Entsprechend außer sich sind die anderen, demokratischen Oppositionsparteien im Parlament. Die Demokratische Koalition, eine MSZP-Abspaltung von Ex-Premier Gyurcsány, der sich nach wie vor einredet, der eigentliche Oppositionsführer und einzig denkbare Herausforderer von Orbán sein zu können, zieh die LMP "Orbáns autokratisches System zu unterstützen". Die MSZP "bedauert", dass sich die LMP einspannen lässt und nennt Orbáns Ernennungspolitik einen "Coup", man werde der Abstimmung fern bleiben.

Gleichzeitig tasten sich die vom Wahlvolk inferior bewerteten Oppositionskräfte nur sehr allmählich in Richtung einer Wahlplattform gegen Orbán. Mehr als Sondierungsgespräche gab es bisher nicht,
Orbáns Fidesz steht derzeit bei 54% Zustimmung (bei den letzten wahlen 45%). Ihnen fehlt bis heute - abgesehen vom "Orbán muss weg!" - jeder ernst zu nehmende programmatische Ansatz, der Zugang zum Wahlvolk ist praktisch nicht mehr vorhanden und das personelle Angebot ist zum Davonlaufen.

Vom Talent der Selbstzerstörung, der Planlosigkeit und eitlen Gockeln an den Parteispitzen abgesehen, trägt auch Orbáns Propagandamschinerie, die Unterdrückung unabhängiger Medien und die Einverleibung sämtlicher öffentlicher Institutionen durch Parteikader dazu bei, dass sich eine Opposition kaum hörbar machen kann. Wie verzweifelt es auf der Linken zugeht, erkennt man schon daran, dass die Kooperation mit den in Schafspelze gehüllten Jobbik-Neonazis längst kein Tabu mehr darstellt und auch in einst ablehnenden Kreisen immer mehr befürwortet wird.

In gewisser Weise verständlich, dass sich die LMP nicht in den Sog dieser Verlierer begeben will, freilich tut sie das zum Preis, Orbán eine Machtstütze zu werden, lebt sozusagen ein parteipolitisches Stockholm-Syndrom, in dem man sich aus Ohnmacht an seinen Unterdrücker anschmeichelt, um sich so Linderung zu erhoffen. Dabei verrät sie ihr größtes Ideal, dass darin bestand, die Bürger und deren aktive Teilhabe an demokratischen Prozessen zu promoten - das exakte Gegenteil also vom Totalvertretungsanspruch des "Volkswillens" seitens Orbán.

 

Mit der Regierung im Hinterzimmer einen Deal bei der Besetzung von Kaderstellen auszuhandeln, ist der größtmögliche Verrat an sich selbst und am Bürger, nahe am politischen Selbstmord. Die bisher so konsequent vorgetragene Kritik an der strukturellen Kleptokratie des Orbán-Staates wird damit immer unglaubwürdiger - das ist umso beklagenswerter, da es neben den von der Mehrheit kaum wahrgenommenen Kleinsparteien "Együtt" und "PM" sonst niemandem mehr gibt, dem man Unbestechlichkeit abnimmt.

Jobbik, Ferenc Gyurcsány und nun auch die LMP. Orbán formt sich die Opposition, wie er sie braucht und macht sie zu unfreiwlligen Wahlhelfern. Es gibt diese Stimmen nicht erst seit kurzem, doch die Forderung, die Opposition möge sich ambesten gänzlich in Luft auflösen, um den Weg frei zu machen für echte, glaubhafte Alternativkräfte, wäre kaum so berechtigt wie heute, wenn - ja wenn, solche Alternativen irgendwo erkennbar wären...

red. / m.s.

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