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(c) Pester Lloyd / 48 - 2016    AKTUELL     01.12.2016

Zehn Jahre Haft für “Terrorismus”: Ungarn statuiert ein Exempel

Ein ungarisches Gericht hat am Mittwoch den Syrer Ahmed Hamed zu zehn Jahren Haft verurteilt, wegen terroristischer Aktivitäten und weiterer Delikte während der Ausschreitungen an der serbischen Grenze 2015. Das Urteil fußt auf befangenen Zeugen, Indizien, Mutmaßungen. Und dem Vorsatz, den Angeklagten zum Terroristen zu machen. Orbán ließ seine Richter ein Zeichen setzen, eine klare Botschaft nach außen, an kommende Flüchtlinge - aber auch ein Wink an die eigenen Leute.

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Der Fall geht zurück auf die gewaltsamen Ausschreitungen an der serbisch-ungarischen Grenze 16. September 2015 bei Röszke. Einen Tag nach der von der Regierung verkündeten Grenzschließung - verbunden mit der Inkraftsetzung der "Notstandsgesetze”  - versammelten sich dort hunderte Flüchtlinge und forderten die Einreise nach Ungarn bzw. in die EU. Dabei kam es zu dem Versuch des gewaltsamen Durchbrechens der Grenzanlagen, Steinwürfen gegen Polizisten, die ihrerseits Tränengas, Wasserwerfer und Schlagstöcke einsetzten. Rund 100 Demonstranten sowie ca. 20 Polizisten und mehrere Journalisten wurden verletzt, es gab zahlreiche Verhaftungen, darunter auch Mütter mit Kleinkindern. Letztlich waren es serbische Polizeikräfte, die die Situation vorerst entschärften sowie die Rettungskräfte des südlichen Nachbarlandes, die die Verletzten behandelten.

Die Vorgänge dort lieferten Orbán weitere "Argumente" zur Verschärfung der Rhetorik und Gangart gegen Flüchtlinge, zur
Ausweitung der "Notstandsgesetze" mit Schnellverfahren und der Aushebelung von Grundrechten und rechtsstaatlichen Verfahren . Besonders die Rolle des in Röszke eingesetzten Antiterrorkommando TÉK, das aus vielen Gründen als "Orbáns Privatarmee" zu titulieren ist, schürte Gerüchte, dass der wütende Auflauf der Flüchtlinge von den Sicherheitskräften zusätzlich geschürt wurde, um Orbán die gewünschten Bilder zu liefern. Polizeitaktisch war der Einsatz stümperhaft und forcierte eine Eskalation geradezu, auch wenn am strafbaren Verhalten vieler der beteiligten Flüchtlinge keine Zweifel bestehen.

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Die eine Seite der Ausschreitungen in Röszke 2015...

Der jetzt Verurteilte Ahmed Hamed (Foto oben: Mitte) wurde von den Richtern quasi als Rädelsführer und Einheizer der Vorfälle beschuldigt: Widerstand gegen die Staatsgewalt, Aufruf zu Straftaten, Landfriedensbruch, Körperverletzung sowie illegale Einreise. Als Hauptvorwurf steht im Raum: Terrorismus gegen Institutionen des ungarischen Staates. Er soll selbst Steine auf Polizisten geworfen haben und über ein Megaphon zur Gewalt an Polizisten und zur Grenzverletzung aufgerufen haben. Hamed leugnet, selbst gewalttätig geworden zu sein und über das Megaphon wollte er lediglich mit der Polizei deeskalierend kommunizieren, worum ihn andere Demonstranten baten, weil er Englisch spricht.

Dass Hamed angeblich auch islamistische Slogans rief, brachte ihm den Terrovorwurf ein. Erschwerend kam für ihn hinzu, dass er seit zwei Jahren im Besitz eines EU-Aufenthaltstitels mit Wohnsitz in Zypern hatte, selbst also unbehelligt und legal nach Ungarn hätte einreisen können. Der Beschuldigte begründete seine Präsenz in Röszke damit, dass er Mitgliedern seiner Familie, die sich auf der Flucht befanden, beistehen wollte.

Dass sich Hamed zahlreicher Vergehen schuldig gemacht hatte und daher verurteilt gehört, darüber herrscht unter Beobachtung weitestgehend Einigkeit, nicht jedoch über das Strafmaß und Teile der Urteilsbegründung. In dem Strafmaß von zehn Jahren Haft sehen Bürgerrechtsgruppen eine gefährliche Präzedenz, was unter den "Antiterrorgesetzen" in Ungarn heute schon möglich ist und zudem ein ideologisch-politisch motiviertes, mithin unrechtsstaatliches Urteil, das die Berechenbarkeit, die Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit der ungarischen Justiz weiter beschädigt.

Die Kritiker beziehen sich nicht nur auf den Umstand, dass die Tatbestände durch einen nicht zu haltenden Terrorismus-Vorwurf dramatisiert und die Strafe somit multipliziert wurde, sie weisen auch auf die Ungleichbehandlung vergleichbarer Fälle hin. Zwar steht es jedem Richter frei, das verfügbare Strafmaß nach Abwägung aller Umstände auszuschöpfen, allerdings ist er auch gehalten, die für den Angeklagten sprechenden Aspekte in sein Urteil einzubeziehen.

Die substantiellen Zeugen waren allesamt Polizisten, somit befangen. Die meisten von ihnen wollen weder verstanden haben, was der Angeklagte über das Megaphon gerufen habe, noch konnten sie ihn zweifelsfrei identifizieren. Hamed hat keine bekannten Vorstrafen. Beweise für Steinwürfe gibt es außerhalb von Zeugenaussagen keine. Das Urteil fußt also auf einigen Indizien, verkameradeten Zeugen und Mutmaßungen.

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..... und die andere Seite...
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Mit juristischen Argumenten ist auch nicht erklärlich, warum rechtsextreme, zumal mehrfach vorbestrafte Straftäter mit ganz ähnlichen Taten mit geringen Haft- bzw. Bewährungsstrafen davonkommen. Die Vorgänge in Röszke reichen weder in Brutalität noch Intensität an die Abläufe bei vielen Fußballspielen in Ungarn hera. Das Gericht könnte sich jedoch auf Generalprävention zurückziehen, dass man also ein Exempel zur Abschreckung statuieren wollte, im gesellschaftlichen Interesse, zumal beim Auftauchen neuer, bis dato unbekannter Gefährdungen ist das ein akzeptables Mittel. Umso mehr muss es sich jedoch hier den Vorwurf der Unverhältnismäßigkeit und politischen Beeinflussung der Urteilsfindung gefallen lassen. Denn der Vorwurf der "terroristischen Aktivität" ist schlicht nicht haltbar, zumindest nach rechtsstaatlichen Kriterien.

Ein Urteil auf dieser Basis ist Rechtsbeugung. Mehr noch. Das Leben eines Menschen mit juristischen Mittel zu zerstören, um politische Ziele zu erreichen, das nennt man Staatsterrorismus. Es ist der Beweis für eine Diktatur.

 

In diesem Zusammenhang kritisieren Menschenrechtler, aber auch Juristen die Schwammigkeit des ungarischen "Anti-Terror-Paragraphen", der praktisch jede Aktion, die strafrechtliche Konsequenzen hat, als Terrorismus qualifizieren kann, wenn eine Regierungsbehörde sie als solche qualifiziert. Das Urteil sei damit auch ein deutliches Zeichen an die eigene Opposition und deren Anhänger, gut darüber nachzudenken, wie sie in Zukunft ihren Unmut gegen die Regierung zu äußern gedenken...

Sowohl Staatsanwaltschaft wie Verteidigung gehen in Berufung, erstere, weil sie eine härtere Strafe fordert, letztere fordern eine Bewährungsstrafe oder Geldbuße und kündigten an, den Terror-Vorwurf nicht auf sich sitzen lassen zu wollen. Eine ungarische Menschenrechtsgruppe setzt sich mit eigenen Anwälten für den Verurteilten ein, am Abend der Urteilsverkündung prangten an einigen Budapester Brücken Transparente mit der Forderung nach Freiheit für den erstinstanzliche Verurteilten.

Weiteren zehn Beschuldigten in diesem Fall wird in Kürze der Prozess gemacht.

red.

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